Unterdrücktes Buch über Rassismus: Aus dem Untergrund

Ein politischer Roman mit surrealistischen Zügen: Die Geschichte eines schwarzen Arbeiters, der fälschlicherweise des Mordes beschuldigt wird. Das Thema ist hochaktuell, und doch hat Richard Wright das Buch bereits vor mehr als achtzig Jahren geschrieben. Seinem Verlag war es damals zu brisant. Erst voriges Jahr wurde es in den USA veröffentlicht und galt sofort als Meisterwerk. Nun liegt es auch in deutscher Sprache vor.

Emigrierte von den USA nach Frankreich, wo er im Alter von nur 52 Jahren starb: 
der US-amerikanische Schriftsteller Richard Wright. (Foto: Library of Congress)

Die Geschichte beginnt ohne Umschweife: Gut gelaunt verlässt Fred Daniels seinen Arbeitsplatz und zählt seinen wohlverdienten Lohn. Er freut sich auf das Wochenende und das Kind, das seine Frau bald gebären wird. Noch ehe jedoch die Leser*innen einmal umblättern können, tauchen die Lichter eines Polizeiautos auf. Daniels wird festgenommen und eines Mordes bezichtigt, den er nicht begangen hat. Als die weißen Polizisten ihn gewaltsam unter Druck setzten, gesteht er die Tat trotzdem und bürdet sich die Schuld eines anderen auf.

Der Plot des Romans „Der Mann im Untergrund“, den sich Richard Wright 1941 ausdachte, könnte sich soweit also ebenso gut im Amerika des Jahres 2022 zugetragen haben. Dann jedoch lässt der Autor seinen Protagonisten überraschenderweise entkommen. Daniels sucht Zuflucht in der Kanalisation der Stadt. Er steigt hinab in die Dunkelheit und beginnt durch die Tunnel zu irren. Ab da fließen surrealistische Elemente in die Erzählung ein. Es ist nicht klar, was Daniels wirklich erlebt und was er sich nur einbildet. Aus seinem Versteck heraus beginnt er die Stadt zu erkunden, bricht in Häuser ein, wird erst zum Bankräuber, dann zu einer Art Messias. Die Geschichte wird zur Allegorie, die auch deshalb so eindrücklich wirkt, weil jede und jeder eine eigene Lesart entwickeln kann.

Bereits 1940 war Wright mit dem Roman „Native Son“ ein Bestseller gelungen. Sein Verlag „Harper and Brothers“ hoffte auf einen weiteren Kassenschlager. Das Manuskript zu „Der Mann im Untergrund“ lehnten die Verantwortlichen allerdings ab. Zum einen fand man die Mischung aus Naturalismus und Symbolismus wenig überzeugend, zum anderen fürchtete man die explizite Beschreibung der Polizeigewalt könnte die vorwiegend weiße Leserschaft abschrecken. 1944 wurde die Geschichte schließlich in einer stark gekürzten Form als Erzählung veröffentlicht – ohne die drastischen Abschnitte, die etwa vom Verhör und den Misshandlungen Daniels berichten. Erst im vergangenen Jahr wurde das Buch in seiner inte-
gralen Fassung im englischen Original publiziert, achtzig Jahre nach seiner Niederschrift. Nun ist es auch in deutscher Übersetzung erschienen.

Dabei hielt Wright gerade dieses Buch für seine beste Arbeit. Nie habe er sich „mit einem tieferen Gefühl geistiger Freiheit ausgedrückt“. Ausgerechnet das Motiv eines unfreien Mannes erlaubte dem Autor zu improvisieren. Er verglich das Gefühl, das der Geschichte zugrunde liegt, mit der pulsierenden Form des Jazz, ihre Struktur mit jener von Bluessongs, in denen scheinbar zusammenhanglos Ereignisse von globaler Bedeutung neben Alltäglichem besungen werden. Die Handlung ist unvorhersehbar. Jedes Mal, wenn man glaubt, zu durchschauen, wohin der Autor seine Leser*innen führen möchte, schlägt er einen unerwarteten Haken, ähnlich wie der Protagonist, der sich seinen Weg durch die unterirdischen Tunnel bahnt.

In der aktuellen Fassung wird „Der Mann im Untergrund“ ergänzt durch den ebenfalls von Wright verfassten Essay „Erinnerungen an meine Großmutter“. Darin werden wichtige biografische Hintergründe des 1908 auf einer Plantage in Mississippi geborenen Autors erläutert und Interpretationsansätze geliefert. Nachdem Wrights Vater die Familie verlassen und seine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte, wuchs der Junge bei seiner Großmutter auf, die der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten angehörte. „Die Religion war ihre Wirklichkeit“ notiert Wright. Für seine Großmutter war das irdische Leben irreal, das ewige Leben dagegen real. Er selbst fand nie Zugang zur Religion, suchte aber nach einem Weg, diese Gläubigkeit auf „fiktionale, symbolische Weise darzustellen“. Auch sein Protagonist Daniels ist gläubig. Dessen dissoziatives Verhalten zwischen den beiden Welten, ober- und unterhalb der Erdoberfläche, wird unter anderem dadurch symbolisiert, dass er sich nach seinem Abtauchen in der Kanalisation nicht mehr um Frau und Kind zu sorgen scheint, so als gehörten sie zu einem Paralleluniversum. Neben dem Messias-Motiv gibt es auch Ähnlichkeiten mit Platons Höhlengleichnis. Anstatt ins Freie zu klettern, um Erkenntnis zu erlangen, wird Daniels durch seine Erfahrungen in der Tiefe erleuchtet. Allerdings führt diese Erleuchtung nicht zur Erlösung.

Beim Verlag fürchtete man, die explizite Beschreibung der Polizeigewalt könnte die vorwiegend weiße Leserschaft abschrecken.

Wright selbst, den der afroamerikanische Autor James Baldwin als sein großes Vorbild nannte, emigrierte Mitte der Vierzigerjahre mit seiner Familie nach Frankreich. Er entschied sich für eine andere Form der Fremdheit – als Amerikaner in Europa. Obwohl er wusste, dass Menschen, deren Hauptfarbe nicht weiß ist, auch dort gesellschaftlich benachteiligt wurden, fürchtete er in Paris wenigstens keine körperliche Gewalt. Auch das dürfte heute infrage gestellt sein. In seinem 2020 verfassten Nachwort zieht Wrights Enkel Malcolm trotz allem eine vorsichtig optimistische Bilanz. Er glaubt, dass die Welt zwar noch immer „wenig sensibel“ sei, aber dennoch in der Lage, einiges von dem anzunehmen, was Menschen wie er zu geben haben.

Richard Wright: Der Mann im Untergrund. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Verlag Kein & Aber, 240 Seiten.

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