Zukunfts-Szenarien für Luxemburg: Was wollt ihr denn?

Seit über einem Jahr arbeitet „Luxembourg Stratégie“ im Wirtschaftsministerium daran, die Zukunft vorzubereiten. Drei Szenarien werden derzeit diskutiert – hier ein erster Überblick und eine Analyse.

Aussitzen mündet in einen Albtraum. Auszug aus der Comic-Version von Szenario 1. (Luxembourg Stratégie; Ministère de l‘économie)

„Die Zahl der Fluggäste am Findel hat wieder das Niveau von 2019 erreicht“, sagt der Wirtschaftsminister … und er scheint diese für Konjunktur und Konsum symbolische Rückkehr zur Normalität zu bedauern. Sie zeige, so Franz Fayot bei einem Business Event im vergangenen Juni, dass die Covid-Krise, anders als gedacht, keine „neue Welt“ herbeigezaubert habe. Der Minister warnt auch vor Greenwashing und Technik-Optimismus, und vor der Idee, „man könne weiter Party machen, wenn man nur den alten Dress gegen neue grüne Kleider austausche“. Vergleicht man diese Aussagen mit der Roadmap, die Fayot ein Jahr zuvor, im Juni 2021, vorgelegt hatte, so wird klar, dass zumindest er einen Garderobenwechsel vollzogen hat. Was wir damals als kurzsichtige und technikzentrierte Industriepolitik alten Stils kritisiert hatten, ist der Erarbeitung der ECO2050-Strategie gewichen.

PIB oder PIBien-être

Schon wieder eine Strategie? Ja, und schon wieder Zukunftsszenarien – diesmal sogar mit comicartigen Zusammenfassungen versehen. Bei einer Diskussion, die über Zahlen und Maßnahmenlisten hinausgehen soll, hilft eine solche Szenarisierung, sich die Zukunft zu vergegenwärtigen. Dass Spekulationen über künftige Entwicklungen schlecht altern, zeigt sich allerdings an dem vor 20 Jahren diskutierten Schreckensszenario des 700.000-Einwohner*innen-Staates: Bei ECO2050 ist diese Größenordnung beim „Öko-Szenario“ zu finden – drunter geht’s einfach nicht mehr!

Die Option, „Party wie bisher zu machen“, hingegen wird vom ersten ECO2050-Szenario abgedeckt und führt zu einer Bevölkerung von 1,1 Millionen im Jahr 2050. Zu wenig Klimaschutz, zu viele Autos, zu wenig Wohnungen, zu viel Ungleichheit – Luxemburg bleibt sich gleich in dem „Somnambule socio-économique“ getauften Szenario. Es gibt zwar Anstrengungen, Wirtschaft und Konsum nachhaltiger zu gestalten, doch die Kaufkraft bleibt das Maß aller Dinge – bei einem „soliden“ Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (produit intérieur brut, PIB) von über zwei Prozent jährlich.

Das PIB wird im zweiten Szenario durch das „PIBien-être“ ersetzt, Wachstum soll nur noch „qualitativ“ sein. Im Zeichen der „Circularité bio-régionale“ kommt es zum Umbau der Wirtschaft, hin zu mehr Nachhaltigkeit und weniger Globalisierung. Dazu gehören drastische Maßnahmen wie ein Verbot des Baus neuer Straßen, aber auch von Werbung und Greenwashing. Am Ende steht ein Luxemburg, das einen positiven Beitrag zum Klima- und Biodiversitätsschutz leistet – was durch das Ende des quantitativen und demografischen Wachstums vereinfacht wird. Man gibt sich mit weniger zufrieden und Wohnungsnot wie Ungleichheiten werden gelindert.

Wenn das nicht optimistisch genug klingt, gibt es auch noch das Szenario des „Optimisme techno-digital“. Neue Technologien werden konsequent im Sinne der Ressourceneffizienz eingesetzt und damit kann die weltoffene Wirtschaft des Kleinstaates weiterwachsen (PIB +4,5 Prozent) – genau wie seine Bevölkerung, die 2050 1,2 Millionen erreicht. Doch das grün-technokratische Win-win entpuppt sich als Mogelpackung: Bei der „Party im neuen Dress“ wird der alte Lebensstil fortgeführt. Global bewegt sich die Erderwärmung auf drei Grad Ende des Jahrhunderts zu, lokal steht man mit dem Elektroauto im Stau. Der Markt als Regelmechanismus verschärft Wohnungsnot und Ungleichheiten – trotz der Einführung eines Grundeinkommens.

Schlafwandel-Party

Die Debatte über die Zukunft Luxemburgs, die von ECO2050 angeregt werden soll, besteht nicht, wie man meinen könnte, darin, sich für eines der Szenarien zu entscheiden. Wie bei einem Mittagessen mit ausgesuchten Bürger*innen am 16. Januar in Erinnerung gerufen wurde, stellen die Szenarien nur mögliche Entwicklungen dar, die von „Faktoren außerhalb unserer Kontrolle“ abhängen. Eine robuste Strategie, die „von uns kontrollierte Aktionen“ betrifft, muss sich an den verschiedenen möglichen „Zukunften“ messen.

Interessant ist, dass von 636 Personen, die ein Onlineformular ausgefüllt haben, die meisten das erste Szenario für das wahrscheinlichste halten. „Hat dieses Land, haben seine Bevölkerung und seine Eliten das Zeug dazu, Revolutionen gedeihen zu lassen? It just won’t happen.“ (woxx 1405) Das hatten wir schon 2017 im Zuge der Rifkin-Debatte prognostiziert, und nach sechs weiteren Jahren der fortschrittlichsten Regierung, die derzeit arithmetisch möglich ist, gibt es keinen Grund, auf etwas anderes als „Schlafwandeln“ zu hoffen.

Doch auch die anderen Szenarien sind weniger radikal, als sie klingen. Dass die „Circularité bio-régionale“ immer noch auf „qualitativem Wachstum“ und einem – immerhin grünen – Finanzplatz basiert, steht für Kontinuität … und faule Kompromisse mit der „Partymacherei“. Das Lëtzebuerger Land berichtete im Oktober von einem vierten, aussortierten Szenario, bei dem Wirtschaft und Gesellschaft in Luxemburg und ganz Westeuropa unter den Auswirkungen des Klimawandels zusammenbrechen (PIB: -46 Prozent). Darauf folgt eine „Ära der Genügsamkeit“ ohne materiellen Wohlstand, aber mit einer sich erholenden Umwelt und neuen Perspektiven für die Lebensqualität der übrig gebliebenen 300.000 Einwohner*innen. Dieses „vergessene“ Szenario stellt jedenfalls eine glaubwürdigere Variante einer Zukunft ohne Wachstum dar – und verdeutlicht den hohen Preis, den Luxemburg für wirtschaftliche Stagnation und Rückentwicklung zahlen müsste.

Das dritte Szenario wiederum erinnert an die Art und Weise, wie die Rifkin-Strategie von der Wirtschaft und ihren politischen Freund*innen fehlinterpretiert wurde: als Versuch, Umweltprobleme nur mit Technologie zu lösen und soziale und menschliche Aspekte zu überspielen (woxx 1398). Damit liefert es den idealen „straw man“: Jeder Versuch, Nachhaltigkeit durch die Kombination von Technologie und alternativem Wirtschaften zu erreichen, kann unter Verweis auf das Scheitern des „Optimisme techno-digital“ in der Debatte disqualifiziert werden. Was bei ECO2050 fehlt, ist ein fünftes Szenario, das radikale Ansätze wie den von Jeremy Rifkin, ohne wirtschaftliche Vollbremsung, aber mit einem Systemwechsel, zu Ende denkt.

Wählt Wonderland!

Befremdlich bleibt, dass die drei offiziellen Szenarien nicht zwischen endogenen und exogenen Faktoren unterscheiden. Gewiss liegt die Zukunft der Weltwirtschaft oder der internationalen Beziehungen außerhalb der Kontrolle der luxemburgischen Entscheider*innen. Doch über Energiewende, Verkehrspolitik, Steuersystem und Wohnungsbau kann hier – und jetzt – entschieden werden. Letzteres würde auch die Diskussion über die Bevölkerungsentwicklung nochmal verändern, wenn die Metropole Luxemburg weniger Grenzgänger*innen, dafür aber mehr Einwander*innen anziehen würde – was auch der nachhaltigen Entwicklung zugutekommen könnte.

Vermutlich wird das Ganze in den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung aber auf einen Schönheitswettbewerb hinauslaufen: Welches Szenario würden Sie für sich und Ihre Kinder bevorzugen? Und alle derzeitigen 650.000 Einwohner*innen werden mit gutem Gewissen das bio-regionale, zirkulare, auf 770.000 Teilnehmer*innen beschränkte Wonderland-Szenario wählen. Apropos wählen: Die dritte, finale Strategie-Konferenz soll im September stattfinden, weniger als zwei Wochen vor den Legislativwahlen. Ein elektoraler Trick von Franz Fayot? Vielleicht auch ein Schwanengesang. Je nach Wahlausgang dürfte sich ECO2050 in die lange Liste der „Visionen“ einreihen, die mit ihren Minister*innen wieder verschwunden sind.


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