EXIT GHOST: Fortsetzung des Massakers

Unverblümt, verzweifelt, aufbrausend und resigniert: Philip Roths neuer Roman liefert noch einmal einen unbedingt lesenswerten Einblick in die Leiden des Alters.

„Das Alter ist keine Schlacht; das Alter ist ein Massaker“, schrieb Philip Roth in seinem vorletzten Roman „Jedermann“. Eine Erkenntnis, die der 75-jährige amerikanische Autor in „Exit Ghost“ gnadenlos weiter entwickelt. Dazu gehört, dass man auch in diesem Buch über altersrelevante Themen wie Impotenz und Inkontinenz vielleicht ein wenig mehr erfährt, als man wissen möchte. Doch in der unverblümten Darstellung der schmerzhaften Realität offenbart Roth einmal mehr sein großes erzählerisches Können.

„Die bittere Hilflosigkeit eines alten Mannes, der nichts so sehr ersehnte, als wieder vollständig zu sein.“

Ort des Massakers ist diesmal der fiktive jüdische Schriftsteller Nathan Zuckermann, eine tragende Figur in Philip Roths Gesamtwerk, der nunmehr zum neunten Mal in einer seiner Geschichten auftaucht. 71-jährig findet sich Zuckermann im Empfangsbereich der urologischen Abteilung des Mount Sinai Hospitals in New Yorks Upper East Side wieder – nur ein paar Blocks von der Gegend entfernt, wo er einst „als tatkräftiger gesunder jüngerer Mann“ gelebt hatte. Ihm bevor steht die Injektion von Kollagen in gelatiner Form am Blasenmund durch einen Katheder, der in die Harnröhre eingeführt wird. Nach seiner Prostata-Operation vor mehr als zehn Jahren ist Zuckermann nicht nur impotent, sondern auch inkontinent. Seitdem lebt er zurückgezogen in einem kleinen Haus an einem Feldweg in der hintersten Provinz. Wenn er dort nackt in seinem Teich schwimmt und eine blasse, schlierige Urinwolke hinter sich herzieht, die das Wasser wahrnehmbar verfärbt, kann er gelassen bleiben. Im Gegensatz zum Besuch in öffentlichen Schwimmbädern: Denn, die Plastikunterhosen mit starken Gummizügen, die man unter der Badehose tragen kann, halten in Wirklichkeit nicht, was die Werbung verspricht.

Dasselbe gilt für die OP in New York, wie sich schon bald herausstellen wird. Doch trotz Zuckermanns fortschreitenden körperlichen Verfalls ist Exit Ghost keineswegs eine nur trostlose Agonie-Erzählung. Roth lässt uns die Höhen und Tiefen des letzten Aufbäumens seines Romanhelden hautnah miterleben. Zunächst einmal scheint die Stadtluft dem langjährigen Einzelgänger unverhofft neue Abenteuerlust einzuhauchen. Sein Blick fällt auf eine Zeitungsannonce, in der ein Schriftstellerehepaar anbietet, die eigene 3-Zimmer-Wohnung in der Upper West Side gegen ein ruhiges Haus in ländlicher Umgebung zu tauschen. Zuckermann beschließt spontan, sich bei den beiden Stadtflüchtlingen zu melden.

So lernt er Billy und vor allem die schlanke, vollbusige Jamie „mit starker sinnlicher Ausstrahlung“ kennen, in die sich Zuckermann nahezu auf der Stelle verguckt. Auch mit 71 wirkt der Frauengeschmack des einstigen Lebemannes, der sich nach der Diagnose seiner Impotenz fernab von weiblichen Reizen ausschließlich seiner Arbeit gewidmet hatte, recht klischeehaft. Nun meldet sich nach über zehn Jahren das Verlangen in sein Leben zurück. Eine schmerzhafte Erfahrung: Eine Stunde in Gesellschaft einer „schönen, privilegierten, intelligenten … verführerisch verletzlichen Dreißigjährigen“ reicht aus, um die „bittere Hilflosigkeit eines der Lächerlichkeit preisgegebenen alten Mannes“ zu empfinden, der „nichts so sehr ersehnte, als wieder vollständig zu sein“.

Was er sich in Wirklichkeit nicht mehr traut, dichtet sich der Autor Zuckermann in fiktiven Dialogen, die er auf Hotelbriefpapier festhält, zurecht. Sind diese „Er und Sie“-Szenen anfangs vielleicht etwas zu lang geraten, bergen sie doch spannende, ungeahnte Entwicklungen. Am Schluss vermag auch sein schriftstellerisches Können das Unmögliche nicht mehr zu erfinden.

Spannend in Exit Ghost sind vor allem auch die Fragen, denen sich Zuckermann am Ende seiner Karriere in Bezug auf seinen Berufsstand ausgesetzt sieht. In New York trifft er zufällig Amy Bellette, die er einst anbetete und die später die Geliebte des von ihm verehrten Schriftstellers E. I. Lonoff wurde. Über ihn will der junge Journalist Richard Kliman eine Biografie schreiben. Und über Lonoffs Privatleben hat dieser ehrgeizige und engagierte Schreiberling Schlimmes in Erfahrung gebracht. Während Kliman der Wahrheit auf der Spur ist, will Zuckermann den zu erwartenden Enthüllungsroman mit allen Mitteln verhindern. Schreiben und Wirklichkeit müssen getrennt bleiben, so sein Fazit. Das Privatleben eines Schriftstellers hat nichts mit seinem Werk zu tun und soll sein Geheimnis bleiben.

Amy Bellette brachte diese Überzeugung in einem Leserbrief an die Times zu Papier. Hätte sie so viel Macht wie Stalin, so Bellette, würde sie nicht Schriftsteller zum Schweigen bringen, sondern jene, die über sie schreiben. Leser sollten mit ihren Büchern alleine sein, damit sie ohne fremde Hilfe einen Sinn darin finden.

In der Auseinandersetzung mit Kliman tobt auch ein Generationenkrieg. Zuckermann bringt die Kraft nicht auf, diesem jungen Mann, „der glaubt, sein Herz, seine Knie, sein Schädel, seine Prostata, sein Blasenschließmuskel, sein alles seien unzerstörbar“, Paroli zu bieten. Statt es mit ihm aufzunehmen, kapituliert er. In die Diskussion mit den beiden ferventen Bush-Gegnern Jamie und Billy am Wahlabend fließt ebenfalls wenig konstruktive Lebensweisheit ein. Mit den „vom Horror der Politik ausgelösten theatralischen Emotionen“ sei er wohl vertraut, seine Dienstzeit „als aufgebrachter Liberaler und empörter Bürger“ habe er jedoch abgeleistet, sagt Zuckermann den nach der Bush-Wiederwahl am Boden Zerstörten. „Sie haben mehr Erfahrung als ich. Was würde etwas verändern?“, fragt der tatenhungrige Kliman den älteren Mann um Rat. „Die senile Antwort lautet: ?Vergessen Sie´s'“, so Zuckermanns resignierte Replik. Auch wenn es schwer fällt – am Ende bleibt einem fast nichts anderes übrig, als ihm das zu glauben.

Philip Roth – Exit Ghost, Hanser Verlag, 304 Seiten.


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