KOLONIALISMUS: Einsamkeit eines Kritikers

Wo liegt das Herz der Finsternis? Nicht in Afrika, wie seit Joseph Conrad so mancher glauben mag. Mario Vargas Llosa zeigt in seinem neuen Roman, dass selbst in tiefster Dämmerung genügend Licht für schillernde Figuren bleibt.

Als Éamon de Valera Anfang Mai 1945 vom Selbstmord Adolf Hitlers erfuhr, ließ er seinen Wagen vorfahren, um den deutschen Botschafter in Dublin aufzusuchen und ihm zu kondolieren. Der Premierminister des im Zweiten Weltkrieg ?neutral‘ gebliebenen Irland sollte als der einzige Regierungschef in die Geschichte eingehen, der dem ?Protokoll‘ auf so kompromisslose Weise treu geblieben ist. De Valera, der als einer der militärischen Kommandanten am Osteraufstand von 1916 teilgenommen hatte, dürfte jedoch viel eher als durch diplomatische Gepflogenheiten von seiner Abneigung gegen Großbritannien zu dieser Beileidsbekundung motiviert worden sein. Seine Tat dokumentiert, welche Verrücktheit der nationalistische Wahn hervorbringt, selbst wenn er gegen das (einstige) Joch der Unterdrückung gerichtet ist.

Indes nahm ein Teil der Iren in ihrer Feindschaft gegen die britische Krone nicht erst den Zweiten Weltkrieg zum Anlass, um auf Unterstützung aus Deutschland zu setzen. Bereits 1916, noch vor dem „Easter Rising“, versuchten irische Nationalisten deutsche Politiker und Militärs vor ihren Karren zu spannen. Neben Waffenlieferungen erhoffte man von der deutschen Marine einen Entlastungsangriff auf die britischen Stellungen in der irischen Küstenregion. Auf diese Weise, so der Wunschtraum, wäre der geplante Aufstand nicht nur ein Fanal von zum Märtyrertod bereiten Rebellen, sondern ihm wäre tatsächlich eine bescheidene Chance auf einen militärischen Erfolg beschieden. Sogar ein irisches Korps wollte man mit Hilfe der Deutschen zusammenstellen, um es auf dem europäischen Kontinent gegen die Briten in Stellung zu bringen. Für diese Aufgabe wollte man vor allem jene Iren gewinnen, die als britische Soldaten in deutsche Gefangenschaft geraten waren.

Der eifrige Emissär, der mit seinem Verhandlungsgeschick all dies in Deutschland bewerkstelligen sollte, erntete statt der erhofften Begeisterung unter den irischen Kriegsgefangenen jedoch nichts als Hass und Verachtung. Sie hatten unter dem deutschen Gewehr- und Artilleriefeuer gemeinsam geblutet, aus Briten und Iren waren unter diesen Bedingungen Leidensgenossen geworden. Und in Berlin sah man in dem Vermittler aus Dublin bestenfalls einen nützlichen Idioten, den man für die eigene Propaganda nutzen konnte. Denn der irische Emissär mit Namen Roger Casement, von der britischen Krone mit dem Titel „Sir“ geadelt, war in der Weltöffentlichkeit zur damaligen Zeit wohlbekannt.

Hätte sich Casement nur mit diesem letzten, traurigen Kapitel seines Lebens in die Geschichte eingeschrieben, Mario Vargas Llosa hätte ihn womöglich nicht zum Protagonisten seines neuesten Romans gemacht. Doch es ist vermutlich nicht zuletzt die schillernde Figur des Sir Roger Casement, die den Nobelpreisträger so faszinierte, dass er ihm ein Buch gewidmet hat.

Casements Spuren führen weit in die Kolonialgeschichte Europas zurück. Als Angestellter einer Handelsgesellschaft kommt der damals 20-Jährige nach Afrika. Es ist eine Mischung aus Abenteuerlust und Idealismus, die den jungen Mann auf den afrikanischen Kontinent bringt, wie Vargas Llosa anschaulich beschreibt. Mit einer aus heutiger Sicht erschütternd naiv erscheinenden Leidenschaftlichkeit will er seinen Teil dazu beitragen, die Menschen dort von „Rückständigkeit, Unwissenheit und Krankheiten zu befreien“. Weder zweifelt er an der Natur der Versprechungen, die der Ideologie der Kolonialmächte entspringen, noch an deren Umsetzung. Dieser Idealismus hält selbst dann noch vor, als Casement, mittlerweile britischer Konsul, 19 Jahre später gewissen Vorwürfen auf den Grund gehen soll, wonach es im Kongo des belgischen Königs Leopold II. zu Grausamkeiten gegen die dortige Bevölkerung kommen soll. Und so macht sich Casement auf eine Reise, die sein gesamtes Leben radikal verändern wird. Neben den Artikeln des Journalisten Edmund D. Morel sind es die Recherchen von Roger Casement, durch die Europa von der barbarischen Grausamkeit erfährt, mit der man die Einheimischen im Kongo zur Kautschukgewinnung zwingt. Als der vom britischen Außenministerium in Auftrag gegebene und als „Casement Report“ in die Geschichte eingegangene Bericht im Jahre 1904 veröffentlicht wird, geht ein Aufschrei durch Europa, der König Leopold einige Jahre später schließlich zur Preisgabe seiner Besitzungen im Kongo zwingt.

An den unmenschlichen Bedingungen, unter denen Europa mit Kautschuk versorgt wird, hatte sich indes wenig geändert. Und so reiste Casement 1910 abermals in ein Gebiet, in dem der Rohstoff zur Herstellung von Gummi und anderem gewonnen wurde: in die Region Putumayo im peruanischen Amazonasgebiet. Die Ausbeutung dort hatte kein geringeres Ausmaß als im Kongo. Hier wie dort wurden ganze Landstriche entvölkert – die Einwohner unzähliger Dörfer wurden schlicht als Arbeitskräfte „vernutzt“, bis sie an Erschöpfung oder an den ihnen zugefügten Misshandlungen starben. Gegen jene Ansiedlungen, die sich weigerten, unbezahlte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, wurden planmäßig Strafaktionen durchgeführt, die nichts anderes als Massaker waren.

Als Roger Casements Bericht veröffentlicht wird, geht ein Aufschrei durch Europa, der den belgischen König schließlich zur Preisgabe des Kongo zwingt.

Anders als im Kongo handelte es sich im Falle der von Casement recherchierten Verbrechen im Amazonas aber nicht um Taten einer fremden Kolonialmacht. Dieses Mal war es ein britisch-peruanisches Unternehmen, an dem zahlreiche Briten als Aktionäre beteiligt waren, das für die blutige Ausbeutung verantwortlich war. Ein Unternehmen, das sich in Peru wie ein „Staat im Staate“ aufführte und dafür sorgte, dass statt der „rule of law“ nur das Recht des Stärkeren, also die unmittelbare Gewalt des Unternehmens galt. Doch es war der Bericht von Roger Casement, der dafür sorgte, dass die Ausbeutung durch die „Peruvian Amazon Company“ schließlich ein Ende nahm.

Casement jedoch, den seine Zeugenschaft der Verbrechen des Kolonialismus seine Gesundheit und mehr als einmal beinahe Verstand und Leben gekostet hatten, begann die Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Kolonialmacht und die Erkenntnis, dass diese nur durch Gegengewalt zu überwinden sei, vermehrt auch auf die Situation der Bevölkerung Irlands zu übertragen. Und so war er, als er von der britischen Krone für seine Verdienste geadelt wurde, bereits auf dem Weg, ein glühender Nationalist und Verfechter der militärischen Erhebung Irlands gegen die britische Fremdherrschaft zu werden. Casement trat in das letzte Kapitel seines Lebens ein, mit dem Mario Vargas Llosa seinen Roman beginnt.

Mit dem „Traum des Kelten“ ist es Vargas Llosa einmal mehr gelungen, ein Stück Geschichte dem Vergessen zu entreißen und in einen spannenden Roman zu verpacken. So konventionell er als Erzähler ist, so lebendig und anschaulich sind seine Beschreibungen verschiedener Lebensrealitäten. Es gelingt dem Autor beispielsweise, auf kaum hundert Seiten eine Vielzahl historischer Fakten und Aspekte rund um das dunkle Kapitel von Leopolds „Kongo-Freistaat“ zu vermitteln, und sein Werk kann sich in dieser Hinsicht durchaus mit Sachbüchern zum selben Thema vergleichen lassen. Dabei fehlt es Vargas Llosa nie an Empathie für die Schicksale der einzelnen Menschen, die so leicht hinter dem Wust historischer Fakten zu verschwinden drohen. Gleichwohl geht diese Vermittlung von Einsichten nie auf Kosten des Romanstoffes, wie dies etwa am Gelehrten-Gestus Umberto Ecos so häufig zu beklagen ist.

Auch eine generelle Ablehnung der wie auch immer diffusen Werte westlicher Zivilisation wird man in diesem Roman indes vergebens suchen. Vargas Llosa geht es um den Verrat an diesen Werten durch den Imperialismus; nicht jene, sondern diesen klagt er an. Dabei gelingt ihm en passant selbst eine Kritik an Romanciers wie Joseph Conrad, dessen „Herz der Finsternis“ gemeinhin als bekannteste romanförmige Kritik des Kolonialismus gesehen wird. Conrad jedoch, so lässt Vargas Llosa eine der Protagonistinnen seines Romans im Gespräch mit Casement sagen, habe eine Parabel verfasst, wonach „Afrika die Europäer, die mit zivilisatorischen Absichten dorthin kommen, zu Barbaren macht. Dein Bericht über den Kongo hat das Gegenteil gezeigt. Dass nämlich wir Europäer es waren, die die Barbarei dorthin brachten.“

Einmal mehr arbeitet sich der Autor im vorliegenden Buch zudem an der Widersprüchlichkeit seiner Romanfiguren ab. Schilderte er früher beispielsweise die innere Zerrissenheit der Attentäter des dominikanischen Diktators Trujillo, denen „Das Fest des Ziegenbocks“ gewidmet ist, so ist es dieses Mal die Figur Roger Casements, um die er die Handlung des Buches zentriert. Casement war nicht nur irischer Nationalist und radikaler Humanist, sondern außerdem schwul, was für jemanden, der für eine mit dem katholischen Glauben eng verwobene Sache streitet, ein noch größeres Problem darstellt, als es dies zu Anfang des 20. Jahrhunderts ohnehin ist.

„Der Traum des Kelten“ ist ein Buch, das seine Leserinnen und Leser bis zur letzten Seite zu fesseln versteht. Es ist empfehlenswert sowohl für jene, die sich nicht gerne „schwerer“ Lektüre zuwenden als auch für Leseratten und für jene, die an einem der genannten Themenbereiche inte-ressiert sind. Die Feiertage sind gerettet, wenn man einen solchen Roman griffbereit weiß.

Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten. Suhrkamp Verlag, 447 Seiten.


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