THEATER: „Die Krise begreifen“

Der erste Teil der Faust-Tragödie endet mit der Flucht des Protagonisten. Im zweiten Teil versucht Faust, sich von seiner Vergangenheit zu befreien. Tomo M. Pavlovic zieht in seiner Bühnenfassung „Faust 2.0“ den Stoff in die Gegenwart. Marc Baum über seine Rolle als Faust, das interkulturelle Theaterprojekt und die Aktualität des Klassikers.

Strebt danach, die Krise zu begreifen, und bringt sie als Faust auf die Bühne: Marc Baum.

woxx: Sie sind Schauspieler und Politiker. In zweieinhalb Jahren rücken Sie für die Linke in die Chambre nach. Was sind Sie zuerst, Schauspieler oder Politiker?

Marc Baum: Ich würde sagen: zuerst Schauspieler. Das ist mein Beruf. Das ist auch das, was ich bisher gemacht habe. Das andere ist so hinzugekommen. 2009 hab ich einen Halbtagsjob bei einem Abgeordneten angenommen, weil es doch auch Vorteile hat, wenn man jeden Monat Geld bekommt.

Wie vertragen sich diese beiden Metiers miteinander? Ergänzen sie sich?

Ich sage oft, dass in der Politik viel Schauspiel ist, aber eigentlich ist das nur so ein Bonmot. Die beiden Sachen sind schon sehr unterschiedlich. Das, was es möglich macht, sie zu verbinden, ist, dass ich relativ viele Freiheiten habe, weil ich mir die Zeit selbst einteilen kann. Aber der Unterschied ist doch sehr beträchtlich, weil Schauspiel in der Politik ja nur an der Spitze des Eisbergs gefragt ist. Die 20 Stunden, die ich politisch gearbeitet habe, bestanden eher darin, Gesetzestexte zu lesen und parlamentarische Anfragen zu schreiben. Es ging also darum, sich in Dossiers einzuarbeiten, und das ist schon eine ganz andere Arbeit, als zu spielen.

Planen Sie Ihre Karriere als Schauspieler oder als Politiker?

Es ist ganz komisch, aber ich stelle mir die Frage auch. Ich habe sie mir schon sehr lange gestellt, aber ich habe keine Antwort darauf. Obwohl ich schon 35 bin, habe ich keine wirkliche Zukunftsplanung. Das heißt, ich weiß nicht, wo ich in fünf Jahren sein werde. Das macht es auch schwer für mich, das richtig einzuschätzen. Obwohl vom Gefühl her das Schauspielern mein Beruf ist.

In den letzten Monaten waren Sie in Bulgarien und haben mit Schauspielern vor Ort und Schauspielern aus Luxemburg und Deutschland interkulturell den Faust II als Bühnenfassung auf die Bühne gebracht. Was war das für eine Erfahrung? Gab es kein Sprachenchaos?

Es gab ein Sprachenchaos, aber das war Teil des Projekts und Teil der Herausforderung. Dieses babylonische Sprachengewirr ist ja gerade Teil des Stückes. In ihm wird Deutsch, Bulgarisch, Englisch, Rumänisch, Französisch, Schweizerdeutsch und Luxemburgisch gesprochen. Diese Sprachen kommen alle in dem Stück vor, und diese Nicht-Verständigung oder dieser Versuch der Verständigung werden auch permanent im Stück thematisiert. Lingua franca war für uns Englisch, das jeder so ein bisschen konnte, aber auch nicht wirklich. Das heißt, es wurde unheimlich viel übersetzt und mit Händen und Füßen geredet. Da gab es einen älteren bulgarischen Schauspieler, der nur bruchstückhaft Deutsch konnte, andere konnten ein wenig Französisch oder nur einige Brocken Englisch. Also es hatte auch sehr viel mit dem zu tun, was eigentlich versucht wurde, in Faust II zu verhandeln. Das andere für mich sehr Spannende war die Tatsache, dass ich zum ersten Mal für längere Zeit in einem mir doch komplett fremden Land war – mit einer Sprache, die ich nicht kannte und einer Schrift, die ich nicht lesen konnte. Das war schon eine sehr spezielle Erfahrung, weil man denkt, man ist sehr offen und ohne Vorurteile, und sich dann doch dabei ertappt, dass man viel mehr Vorstellungen von den Ländern hat, die unbewusst mitschwimmen, als man es sich selbst eingestehen würde. Ich war zum Beispiel unheimlich erstaunt, wie grün Sofia ist. Das war wahrscheinlich auch geprägt durch die Bilder, die ich im Kopf hatte. Ich hatte mir Sofia grau vorgestellt.

Was gibt es denn in Faust II zu verhandeln? Ist der Stoff heute noch aktuell, oder hat die Regie ihn in die Gegenwart gezogen und radikal in die Moderne übersetzt?

Ja, das kann man so sagen. Der Ausgangspunkt ist wie der in der Ursprungsfassung des zweiten Teils. Da ist der alte Faust, der auf sein Leben zurückblickt, auf den Pakt mit Mephisto und auf all die Etappen ihrer Fahrt durch die „kleine und große Welt“: die ­­Gretchen-Tragödie, das Helena-Zwischenspiel, aber auch die Episoden um Euphorion und Homunculus. Er will mit sich ins Reine kommen, eine Lebensbilanz ziehen, und schafft es doch nicht, eine Bewertung vorzunehmen. Das heißt, er sieht sich handelnd in der Vergangenheit und ist doch gleichzeitig wie in diesem Traum mit dabei. Die Schizophrenie wird dadurch noch verstärkt, dass der alte Faust drei Fausts sieht, also sich selbst in dreifacher Version.

Wurde das Stück also in die Gegenwart übersetzt? In Faust II fließt ja sehr viel Stoff aus der Antike mit ein. Daneben gibt es viel Potenzial, die Wirtschaftskrise zu thematisieren. Mephisto erfindet in der ursprünglichen Fassung ja das Papiergeld – als Sinnbild des Übergangs zur modernen Wirtschaftsform. Im künstlich erschaffenen Homunculus könnte man Bezüge zu Genetik-Debatten sehen?

Ja. Das wurde gemacht. Es gab eine Textvorlage von Tomo M. Pavlovic, mit der wir als Vorlage gearbeitet haben. Davon blieb am Ende vielleicht ein Viertel übrig. Und es wurde unheimlich viel improvisiert. Wir haben versucht, Bilder zu entwickeln. Haben sie auch ins Heute übersetzt, damit man sie als Bild nachvollziehbar findet.

Sie stellen Faust dar? Was war für Sie die Herausforderung an der Rolle?

Ja, ich bin einer der Fausts. Zuerst einmal interessierte es mich, ein Stück und eine Figur wieder zu entdecken, mit der ich mich vor gut 15 Jahren in einem rein schulischen Rahmen herumschlagen musste. Hinzu kommt natürlich, dass die Figur Faust prägend ist für Jahrhunderte europäischer Kulturgeschichte, und damit auch für einen gewissen Teil unseres Selbstverständnisses.

„Die Figur Faust ist prägend für Jahrhunderte europäischer Kulturgeschichte, und damit auch für einen gewissen Teil unseres Selbstverständnisses.“

Heute finde ich die Figur eigentlich auch spannender als Mephisto. Mephisto spielt fast keine Rolle mehr in unserem Stück. Er taucht nur ganz am Anfang auf, und es ist so, als würde einer dieser jungen Fausts Mephisto mimen. Eigentlich verschwindet er dann.

Der zweite Teil des Faust ist sehr kleinteilig und auch etwas überladen mit karnevalesken Szenen wie dem Mummenschanz und der klassischen Walpurgnisnacht. Ist diese Faust-II-Inszenierung von Pavlovic und Bernhard M. Eusterschulte, der ja auch Heiner Müllers Hamlet-Maschine inszenierte, auch so kleinteilig? Wird man als Zuschauer noch die Übersicht behalten können?

Als Schauspieler hatte ich genau diese Befürchtung während der Proben. Aber die Zuschauer in Bulgarien haben es verständlich gefunden und gemocht. Es ist kleinteilig von der Struktur her, es sind eigentlich kleine Sequenzen, und der Zusammenhang ist mehr oder weniger assoziativ. Es ist kein linearer, kein narrativer, sondern wirklich ein assoziativer, aber es scheint zu funktionieren. Es ist natürlich schwer, wenn man auf der Bühne steht, das selbst einzuschätzen.

Bleibt der Faust ein offenes Rätsel, oder begreift Faust am Ende „was die Welt im Innersten zusammenhält“?

Ich glaube, der Stoff bleibt eine Herausforderung. Was ich an der Arbeit spannend fand, war, dass wir versucht haben, das Faust’sche Prinzip auszuloten. Und es hat mich gepackt, weil wir es gerade in Bulgarien mit bulgarischen Schauspielern entwickelt haben. Denn es ist ein totalitäres Prinzip. Weil Faust den Anspruch hat, herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält. Es gibt kein Außen mehr für Faust. Und das macht ihn totalitär in seinen Ansprüchen und darin, wie er mit der Welt umgeht. Das ist ein Element, das ich an dieser Bühnenfassung ganz spannend fand.

Was hat Ihnen die Produktion bedeutet? Was will das Stück aus Ihrer Sicht vermitteln?

Ich glaube, wir haben versucht – auch politisch, mit diesen unterschiedlichen Backgrounds der Schauspieler – das Phänomen der Krise zu begreifen. Der Krise im weitesten Sinne, also nicht nur der ökonomischen, wie sie auch im Faust thematisiert wird. Die Erfindung und die Abschaffung des Geldes – das sind ja alles hochaktuelle Themen, aber auch die Krise zwischen Menschen. Gretchen, Helena – diese Unmöglichkeit, zusammenzufinden. Das Krisenhafte in Europa, das eben nicht nur ökonomisch ist, immer wieder zu thematisieren versuchen, und das eben auf eine relativ performative Art und Weise. Nicht abstrakt oder intellektuell zu durchforsten, sondern es wirklich zu begreifen – auch haptisch damit etwas anzufangen. Und das war für mich eine ganz wertvolle Erfahrung.

War das vorerst Ihr letztes Stück – geht es jetzt auf der Polit-Bühne weiter?

Nein. Im März ist die Premiere von Ionescos „L’impromptu de l’alma“ im TNL. Es geht also weiter.

Faust 2.0 am 5., 6., 7. und 8. November 2013 um 20.00h im TNL.


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