Belgien: Vier Jahreszeiten mit Gegenwind

Sieben Parteien, eine Regierung: Belgiens ganz große Koalition will den Neuanfang wagen und Gräben überwinden. Doch in Flandern hat sie eine Mehrheit gegen sich.

„Niet mijn Regering“ – „Nicht meine Regierung“: Unter diesem Motto hatte der rechtsextreme Vlaams Belang Ende September eine Autodemonstration gegen die nun vereidigte belgische Föderalregierung organisiert. Mehrere Tausende flämische Nationalisten und Identitäre hatten daran teilgenommen; Sammelpunkt war vor dem Brüsseler König-Baudouin-Stadion. Die neue Regierung vereint nur eine Minderheit der in Flandern gewählten Abgeordneten unter sich. (Foto: Internet)

492 Tage – so lange hat es gedauert, bis Belgien nun nach den Wahlen im Mai 2019 eine ordentliche Regierung hat. Der eigene Weltrekord – 541 Tage bis zur Regierungsbildung von 2011 – wurde damit knapp verpasst. Außen vor bleibt dann allerdings, dass bereits vor den Wahlen das Land für ein knappes halbes Jahr kommissarisch von einer parlamentarischen Minderheit regiert wurde, nach dem die erste Regierungskoalition unter dem Liberalen Charles Michel Ende 2018 auseinandergebrochen war.

Die Periode der Koalitionsbildung war zu einer beispiellosen Groteske geraten. Der renommierte Politologe Carl Devos von der Universität Gent nannte die Verhandlungen die „hässlichsten jemals“, die flämischsprachige Tageszeitung „De Standaard“ sprach von einem „Alptraum“. Insgesamt 14 offizielle Vermittler wurden von König Philippe mit Sondierungsgesprächen beauftragt, wobei Paul Magnette vom „Parti Socialiste“ (PS) diese Funktion insgesamt drei Mal ausübte.

Folglich klang die von der Papstwahl herrührende Redewendung vom „weißen Rauch“ selten so zutreffend wie am Morgen des 30. September: Nach einer letzten nächtlichen Marathonsitzung war die ganz große Koalition endlich gefunden. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne beider Sprachgruppen werden zusammen mit den Christdemokraten aus dem flämischen Norden des Landes künftig die Föderalregierung führen. Zusammen verfügen sie über eine Mehrheit von immerhin 88 der 150 Sitze.

Neuer Regierungschef wird Alexander De Croo (Open Vlaamse Liberalen en Democraten – Open VLD), der trotz seiner erst 44 Jahre schon auf eine Reihe von Minister-Portfolios zurückblickt und in den letzten fünf Kabinetten stellvertretender Premierminister war. Dem Liberalen haftet ungeachtet dieser Biografie der Ruf eines farblosen Pragmatikers an. Seine Koalition habe sich „entschieden, die Gegensätze hinter sich zu lassen”, so De Croos staatsmännische Begründung der lange für unmöglich gehaltenen Koalition: man wolle sich fortan auf Gemeinsamkeiten statt Unterschiede konzentrieren.

Es lohnt sich, De Croos erste kurze Ansprache als Premierminister etwas genauer zu analysieren. Zwischen Flämisch und Französisch hin- und herwechselnd, verwies er auf die Herausforderungen der Corona- Krise. Er betonte, „dass wir in einem prächtigen Land leben“, in dem man sich, wenn es darauf ankomme, die Hände reiche und „zusammen mehr erreiche als wir es alleine je vermögen“. Der neue Koalitionsvertrag sei der Beginn einer anderen Art, Politik zu betreiben, mit mehr Pragmatismus, Zusammenarbeit und Respekt. „Härte hat noch nie jemand vorangebracht.“

Premierminister Alexander De Croo bekennt sich mit Verve zur Einheit des Landes.

Es scheint, als nehme der neue Regierungschef, Sohn des langjährigen Ministers Herman De Croo, die Pandemie zum Anlass, um dem belgischen Wahlspruch, „L’union fait la force“, neues Leben einzuhauchen. Natürlich ist allein das schon Ausdruck des von ihm verkörperten Pragmatismus, denn immerhin benötigte man ganze sieben Koalitionspartner, um in der latenten und strukturellen politischen Krise Belgiens eine Mehrheit zu organisieren, deren Tragfähigkeit sich nun erst noch zeigen muss.

Zugleich hat De Croo, der auf föderalem Niveau vor allem als Minister für Entwicklungszusammenarbeit auf sich aufmerksam gemacht hat, damit eine politische Standortbestimmung abgegeben. Er will die Konflikte zwischen den verschiedenen politischen Lagern, die sich während der Koalitionsverhandlungen verschärft hatten, hinter sich lassen. Zudem bekennt er sich mit Verve zur Einheit des Landes, die in den letzten 15 Jahren kontinuierlich erodierte beziehungsweise von der flämischen Rechten gezielt unterminiert wurde.

De Croos Regierungserklärung hatte auf Einladung des Europäischen Parlaments im dortigen Plenarsaal stattgefunden, um alle 150 Abgeordneten unter Einhaltung des Corona-Sicherheitsabstands unterzubringen. Den Koalitionsvertrag nannte er „den grünsten in der Geschichte unseres Landes”. Darin finden sich ein Bekenntnis zum europäischen Green Deal, dem für 2025 vorgesehenen Atomausstieg sowie zu nachhaltigen Energiequellen. De Croo kündigt außerdem an, Ökologie und Ökonomie sollten keine Gegensätze mehr sein – beachtliche Worte für einen Liberalen. Darin spiegelt sich die bunte Zusammensetzung der jetzigen Koalition wider.

Die Mindestrente soll langsam auf 1500 Euro angehoben werden, das Rentenalter aber wird, anders als vom Parti Socialiste gewünscht, nicht wieder gesenkt. Man will Jobs schaffen und das Steuersystem auf eine bislang nicht näher benannte Weise reformieren. Jede Form von Diskriminierung soll bekämpft werden. Die Zahl der Polizeikräfte soll systematisch erhöht, die Migrationspolitik „menschlich und korrekt” betrieben werden. Damit sind raschere Abschiebungen gemeint, aber auch, dass Kinder von Eltern aus Drittstaaten und ohne Aufenthaltserlaubnis nicht länger in Abschiebehaft kommen.

Dass ein liberaler Premierminister ein Loblied auf Investitionen singt ist an sich nicht ungewöhnlich. De Croo sprach dabei allerdings von den Bereichen Gesundheit, Digitalisierung und Pandemie-Bekämpfung – eine deutliche Abkehr vom austeritären Dogma der Vorgänger-Regierung Charles Michels. An einem Pult mit dem blauen Sternenbanner der EU stehend, hatte De Croos Auftritt durchaus Symbolcharakter. Er wusste das zu nutzen, indem er die während der Finanzkrise legendär gewordenen Worte des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, wiederholte: „whatever it takes” werde man unternehmen, um die aktuelle Krise zu meistern.

Unter De Croo bleibt Belgien, wie der Rest der Benelux-Länder und Frankreich, ein Land mit einer liberalen Regierung. Anders aber als Rutte oder gar Macron regiert er nicht aus einer Position der Stärke. Zwar erzielte er persönlich ein gutes Ergebnis, doch seine Partei Open VLD verlor in der Region Flandern nicht nur Stimmen, sondern landete weit hinter den beiden nationalistischen Parteien, der liberal-separatistischen N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie) und dem rechtsextrem-identitären Vlaams Belang.

Es ist also vor allem ein Ausdruck des komplexen belgischen Machtgefüges, dass auch diese neue Regierung, wie die vorausgegangenen unter Charles Michel und Sophie Wilmes, eine liberale Spitze hat. Charles Michel saß einem Kabinett vor, in dem sein Mouvement Réformateur (MR) die einzige frankophone Partei war. Unter Sophie Wilmes war dieses Ungleichgewicht weniger eklatant, doch die Faustregel, wonach eine belgische Regierung beiderseits der Sprachgrenze über eine Mehrheit der Stimmen verfügen soll, war auch bei ihr außer Kraft.

Im Fall der neuen Regierung, die ihrer Diversität wegen in Anspielung an den Komponisten der „Vier Jahreszeiten“ auch „Vivaldi“ genannt wird, sieht dies nur vordergründig anders aus. Zwar stehen den drei frankophonen Parteien mit Open VLD, Christ- (CD&V) und Sozialdemokraten (S.PA) sowie Grünen (Groen) vier flämische Parteien gegenüber. Diese haben allerdings zusammen nicht nur weniger Sitze als die frankophonen PS, MR und Écolo, sondern auch als die beiden nationalistischen Parteien N-VA und Vlaams Belang. So kommt „Vivaldi“ in Flandern, der Region mit den meisten Bewohnern und Abgeordneten, nicht nur auf keine Mehrheit, sondern sogar nicht einmal auf die Hälfte der Parlaments-Sitze.

Dass man das im wirtschaftlich dominanten Flandern nicht einfach so hinnehmen wird, ist daher abzusehen. Auch die von der N-VA favorisierte separatistische Perspektive, das Land in eine sogenannte „Konföderation“ zweier politisch und wirtschaftlich weitgehend unabhängiger Regionen zu verwandeln, könnte dadurch wieder an Popularität gewinnen. Ein erstes Anzeichen waren die Tausenden Autos, die, meist entsprechend dekoriert, schon kurz vor dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen aus verschiedenen Punkten nach Brüssel aufbrachen, um auf dem Parkplatz des König-Baudouin-Stadions gegen eine Regierung zu demonstrieren, die es de facto noch gar nicht gab.

Vlaams Belang-Chef Tom Van Grieken nahm gegenüber „Radio 1“ kein Blatt vor den Mund: „Diese Regierung hat auf flämischer Seite keine Mehrheit. Flandern wählt rechts und Wallonien links, aber man kann nie eine Regierung auf die Beine bringen, die beide zufriedenstellt. Dies ist keine politische Krise, sondern eigentlich eine Systemkrise. Wir sollten am besten jeder seinen eigenen Weg gehen.”

Entscheidend wird in den kommenden Monaten also nicht nur sein, ob es der Koalition gelingt, im Modus einer permanenten Krise regierungsfähig zu bleiben. Die Frage ist auch, wie nahe sich N-VA und Vlaams Belang in der Opposition kommen werden. Es könnten also „vier Jahreszeiten“ mit ziemlich rauem Gegenwind werden.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.

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