Buchbesprechung „Ja heißt ja und …“: Diskriminierung geht uns alle etwas an

Die Publizistin Carolin Emcke meldet sich mit „Ja heißt ja und …“ zur MeToo-Debatte zu Wort. Mit ihrer Kontextualisierung der Fakten, ihrer Interpretation der Reaktionen und ihrem Weiterdenken leistet sie damit einen wichtigen Beitrag.

Carolin Emcke (Jahrgang 1967) studierte Philosophie in London, Frankfurt am Main und Harvard. Von 1998 bis 2013 bereiste sie als Journalistin Krisenregionen weltweit. Die freie Publizistin wurde für ihr Schaffen bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016). (Foto: Sebastian Bolesch, 2001)

Carolin Emcke kehrt in „Ja heißt ja und …“ an den Ursprung des Problems zurück: das Tabu, offen über sexualisierte Gewalt zu sprechen. „Es kommt sich falsch oder schmutzig vor“, schreibt sie in ihrem Buch, „wer über etwas sprechen will, über das nicht gesprochen wird.“ Anstatt die Tat zu unterdrücken, wurde laut Emcke lange Zeit vielmehr das Reden darüber unterbunden. Gleichzeitig hinterfragt sie, wer überhaupt das Recht hat, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Sie verortet ihre eigene Person in fragmentarischen Textabschnitten in der entsprechenden Debatte – und scheut sich nicht davor, eigene Unsicherheiten preiszugeben. So antizipiert sie beispielsweise die Kritik, dass sie als lesbische Frau nicht über MeToo sprechen könne, weil sie dem Begehren von Männern nicht ausgesetzt sei. Ein Argument, das sie in ihrem Buch zerlegt. Darüber hinaus knüpft Emcke an die Reaktionen gegenüber der Opfer sexualisierter Gewalt während der MeToo-Debatte an.

Damals wurde mehr als eine Stimme laut, die insbesondere den weiblichen Opfern Naivität, Ahnungslosigkeit oder Selbstverschulden unterstellte. Es ist ein Zeichen dafür, dass viele Menschen das Sprechen über sexualisierte Gewalt negativ konnotieren, beziehungsweise es mit Klischees einer Welt verbinden, in der das Problem von der breiten Masse lange totgeschwiegen wurde. „Was ist das für eine Argumentation? Was für ein Menschenbild? Was für ein Männerbild?“, kritisiert Emcke diese Herangehensweise. In der Tat zeugt die Sprache, in der über die Opfer debattiert wird, oft von einem verkorksten, festgefahrenen gesellschaftlichen Diskurs. Vor allem aber ist sie Ausdruck der etablierten Mächte, die Schmerz und Diskriminierung kategorisieren.

Facetten der Macht und Hierarchisierung von Schmerz

Emcke nennt es eine vielfältige Macht, die durch „Begriffe und Codes“ wirkt. Sie erwähnt unter anderem die Macht des Leugnens dessen, was eine Gesellschaft negieren will; die Macht der Praktiken und Gewohnheiten, die so selbstverständlich sind, dass sie nicht mehr reflektiert werden. Emcke schließt ihre eindringliche Aufzählung mit einer wichtigen Schlussfolgerung: „Es ist diese Macht, die auch darüber entscheidet, wem geglaubt wird und wem nicht, wessen Misshandlung als lustig und akzeptabel, wessen Nötigung als selbstverschuldet und harmlos, als Teil des Geschäftsmodells, als Teil der Arbeitskultur gilt (…), es ist diese Macht, die auch darüber entscheidet, wem geholfen wird, wem zugehört, wer beschützt wird.“

Emcke beleuchtet den bedeutenden Aspekt der Hierarchisierung von Schmerz, der von manchen Teilen der Gesellschaft vollzogen wird. Es ist ein Phänomen, das sich unter anderem in den sozialen Medien bemerkbar macht. Des Öfteren werden beispielsweise Berichte über Homofeindlichkeit oder feministische Anforderungen von User*innen mit Aussagen wie „Ist das wichtig? Haben wir keine anderen Sorgen?“ oder „Immer geht es um die Diskriminierung der LGBT-Gemeinschaft. Was ist mit den Heteros?“ kommentiert. Gesellschaftliche Probleme werden gegeneinander aufgewogen oder einer marginalisierten Personengruppe zugeordnet, deren Rechte und Schutz aufgrund ihrer geringen Sichtbarkeit und dem oft mangelhaften Einfühlungsvermögen Nicht-Betroffener als eher unwichtig im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Konflikten gelten. Emcke hat dazu eine klare Meinung: „Die Logik der ‚Hauptsorgen’, die es ernst zu nehmen gelte, und der ‚Nebensorgen’, die vertagt, belächelt, zurückgestellt werden können, ist menschenverachtend, denn sie hierarchisiert den Schmerz.“ Sie fügt dem den Gedanken bei: „Der Schmerz der Anderen, der nebensächliche, der nicht so dringliche, der vernachlässigenswerte Schmerz, das ist halt per Zufall immer der schwarze, der schwule, der weibliche, der jüdische, der migrantische Schmerz.“

Für Emcke ist die Auseinandersetzung mit Missbrauch, sexualisierter Gewalt, ausbeuterischen Strukturen, chauvinistischen, homo- und transfeindlichen Praktiken und Überzeugungen nichts, was man erst angehen sollte, wenn die „wichtigen, echten Probleme“ wie die der Arbeiter*innen oder „der sozial Marginalisierten“ gelöst sind. Sie betont, dass das Nachdenken über das eine das andere nicht ausschließt, sondern beides sogar zusammenwirkt. Die Probleme der Minderheiten gehen, so Emcke, in einer demokratischen Gesellschaft nämlich alle was an. Das heißt für die Autorin allerdings nicht – und das macht ihr Buch so komplex – dass andere Personengruppen wie etwa Männer aus dem Diskurs ausgeschlossen werden sollten. Weder als potenzielle Opfer von Gewalt und Missbrauch noch als Verbündete im Kampf gegen jegliche Form von Diskriminierung und Gewalt. Sie nennt ein Beispiel aus Afghanistan, wohin pakistanische Jungen verschleppt werden und den Milizionären dort unter anderem als Sexsklaven dienen. Auch über sie muss gesprochen werden, auch ihre Situation muss thematisiert werden.

Nachhaltige Veränderung durch Vielfalt

Wer nachhaltig etwas verändern will, muss versuchen, möglichst viele Personen einzubinden und das gesellschaftliche „Wir“ so zu erweitern, dass sich möglichst viele Menschen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen angesprochen fühlen – das ist Emckes Theorie. Die wiederum kann nur dann gelingen, wenn auch die Menschen, die keiner marginalisierten Gruppe angehören, sich mit Exklusion und Diskriminierung auseinandersetzen und versuchen, diese Gefühle zu verstehen und nachzuvollziehen. „Es braucht die Einsicht“, sagt Emcke, „dass die Bedingungen der eigenen Existenz nicht verallgemeinbar sind. Es braucht die Bereitschaft, etwas zu lernen.“ Das bedürfe im Umkehrschluss allerdings auch der Geduld und der wiederholt erforderlichen Erläuterungsbereitschaft der Personen, die „vielleicht etwas mehr Erfahrung mit Gewalt, mit Missachtung, mit Spott oder mit Ausgrenzung haben“. Die Autorin, die ihre Leser*innen mit ihrem Monolog zum gemeinsamen Nachdenken einlädt, räumt wenige Zeilen später ein, dass dies den Betroffenen auf Dauer zu viel abverlangen würde. Es sei manchmal ermüdend, sich immer wieder erklären zu müssen. „Warum sollen sich nicht auch Weiße kritisch zu strukturellem Rassismus äußern dürfen, Heterosexuelle zu Homophobie, Atheisten zu Religionsfreiheit, Männer zu Sexismus?“, fragt Emcke in dem Kontext. „Ich erwarte es sogar von ihnen.“ Man könnte Emckes Überlegungen ergänzen, indem man grundsätzlich einfordert, dass die gegenseitige Sensibilität für die Sorgen und Probleme der jeweils anderen Personengruppe wachsen muss. Emcke wünscht sich in dem Sinne eine „Vielfalt der Stimmen und Erfahrungen“.

Sie spricht neben den bereits erwähnten Aspekten aber auch vom Begehren und geht dabei auf die weit verbreitete Ansicht ein, dass ein ungehemmtes und lustvolles Begehren durch die MeToo-Debatte nicht mehr möglich sei. Dabei liest sie die Ablehnung bestimmter Praktiken oder Verhaltensmuster im zwischenmenschlichen Miteinander eher als eine Bereicherung: „Etwas Spezifisches von einer bestimmten Person nicht zu wollen, heißt nicht, nichts zu wollen. „Nein“ zu einer bestimmten Person oder einer bestimmten Handlung, Geste, Praxis zu sagen, heißt nicht, dass es nicht mit einer anderen Person oder gar mit derselben Person ein breites Spektrum an Handlungen, Gesten, Praxen gäbe, die gewollt, erwünscht, bejaht sind.“ Es ist ein einschlägiges Zitat, das gegen die Kritik an der MeToo-Bewegung argumentiert: Sexuelle Selbstbestimmung hemmt das Begehren nicht – sie bietet im Gegenteil sogar neue Möglichkeiten, auch im Hinblick auf die Kommunikation über sexuelle Vorlieben.

Was Emckes Buch so interessant macht, ist, dass sie ein Bewusstsein dafür weckt oder wiedererweckt, dass es bei Diskriminierung, Machtkonfigurationen, Gewalt und Missbrauch, nie nur den einen Kontext gibt. Sie sieht die gesellschaftlichen Probleme als Ganzes und denkt nur an wenigen Stellen kleinteilig. Sie stilisiert sich dabei selbst keineswegs zur unfehlbaren Person, zum Beispiel dann, wenn sie über die eigene Untätigkeit an einem Abend spricht, an dem sie Zeugin häuslicher Gewalt wurde. Emcke zweifelt in ihrem Buch: zweifelt an eigenen Handlungen, zweifelt an ihrer eigenen Ausdrucksweise.

Das kommt auch in ihren Überlegungen zum Umgang mit der eigenen Positionierung zum Ausdruck: „Trotzdem stellt sich für mich die Frage, wie sich die eigenen Ansprüche und Einsprüche artikulieren lassen, in welchem Vokabular, mit welchen Kontextualisierungen, mit welchen Bildern und Erzählungen sie auch diejenigen überzeugen können, die sie bislang nicht wahrhaben oder nicht ernst nehmen wollten. Wie gelingt es, die Kritik an Diskriminierung so zu artikulieren, dass sie gerecht, aber nicht selbstgerecht daherkommt?“ Damit nennt Emcke eine der großen Herausforderungen, vor der die Gesellschaft in dem Rahmen steht und die sie gemeinsam lösen muss: Sie muss eine gemeinsame Sprache finden, um über jede Form von Diskriminierung sprechen zu können.

Der Text zu „Ja heißt ja und …“ beruht auf einem Bühnenprogramm, das im Dezember 2018 an der Schaubühne in Berlin uraufgeführt wurde. Der Titel erinnert an das kürzlich in Schweden verabschiedete Gesetz, dass Sex nur mit ausdrücklicher Einstimmung aller Beteiligten als einvernehmlich gilt. Passivität gilt nicht als Einverständnis, wie das beispielsweise in Deutschland der Fall ist: Dort greift der Slogan „Nein heißt Nein“ – nur wer einer Person gegen ihren Willen sexuelle Handlungen aufzwingt, macht sich strafbar. Wer kein klares „Nein“ ausspricht und die Handlungen über sich ergehen lässt, hat später rechtlich gesehen nichts gegen die Täter*innen in der Hand. Emcke selbst sagte in einem Interview mit dem Online-Magazin „Republik“, sie habe mit ihrem Titel dem deutschen Slogan für die Sexualstrafrechtsreform „Nein heißt nein“ nicht widersprechen, aber ihn ergänzen wollen.


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