Tausende Flüchtlinge stecken an der belarussisch-polnischen Grenze fest und die EU will gegenüber Belarus Stärke zeigen. Reflexionen zum Umgang mit „hybriden Bedrohungen“ als Folge des Bankrotts einer EU-Asylpolitik, die für andere zur Waffe wird und Flüchtlinge in Waren verwandelt.
„Dies ist ein hybrider Angriff. Keine Migrationskrise“, twitterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch vergangener Woche. Sie bezog sich damit auf die mehrere Tausend Flüchtlinge, die sich an der belarussisch-polnischen Grenze angesammelt haben und kündigte Sanktionen gegen den „Angreifer“ Belarus an, der die Bewegungen der Flüchtlinge orchestriert. „In modernen Konfliktszenarien setzen Angreifer auf eine Kombination aus klassischen Militäreinsätzen, wirtschaftlichem Druck, Computerangriffen bis hin zu Propaganda in den Medien und sozialen Netzwerken“, ist über das Wesen der „hybriden Bedrohungen“ auf der Internetseite des deutschen Verteidigungsministeriums zu lesen, das von der Leyen zwischen 2013 und 2019 geleitet hat: „Ziel der Angreifer ist es, nicht nur Schaden anzurichten, sondern insbesondere Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.“
Von Flüchtlingen ist hier noch nicht die Rede. In einem geleakten Entwurf für einen außenpolitischen „Strategischen Kompass“ der EU, der kommenden März verabschiedet werden soll, werden jedoch auch sie bereits zum Arsenal der „hybriden Bedrohungen“ gezählt: „Staatliche und nichtstaatliche ausländische Akteure verfeinern ständig ihre Taktiken, Techniken und Verfahren, einschließlich der Instrumentalisierung irregulärer Migration“.
In diesem Sinne also wird als „hybrider Angriff“ verstanden, was der belarussische Präsident Lukaschenko im Schilde führt. Seit Monaten lässt er Menschen aus dem Irak, Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens nach Minsk einfliegen und dann an die Grenze zu Polen bringen, während er sie mit der Hoffnung nährt, von dort aus in die EU gelangen zu können. Er wolle sich damit für die Sanktionen rächen, die die EU wegen seiner skrupellosen Unterdrückung der demokratischen Opposition in Belarus gegen ihn und seine Helfershelfer erlassen hat, lautet eine gängige Interpretation seiner Motive in Politik und Medien.
Ebenso wichtig dürfte es ihm sein, international genügend Wirbel zu veranstalten, damit er zuhause weiter möglichst ungestört und skrupellos gegen Oppositionelle vorgehen kann. „Brutale Repression und Menschenrechtsverletzungen gehen weiter und werden sogar schlimmer“, ließ der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am selben Tag, an dem von der Leyen ihren Tweet veröffentlichte, verlauten. Und tatsächlich berichtet die belarussische Menschenrechts-NGO „Viasna“ unablässig von neuen Verhaftungen. Es demonstriere den Zynismus des belarussischen Regimes, mit der Verschärfung der Krise an den EU-Außengrenzen zu versuchen, von der Situation im eigenen Land abzulenken, so Borrell. Tausende Menschen aus Ländern wie Syrien und dem Irak harren dort derzeit bei Temperaturen um den Gefrierpunkt aus. Ohne ausreichende Verpflegung, adäquate Kleidung oder gar ärztliche Versorgung. Sie hoffen auf eine Chance, trotz der massiven Abschottung die Grenze nach Polen, Litauen oder Lettland überqueren zu können.
Wenn die Kommissionspräsidentin davon spricht, es handle sich hierbei um „keine Migrationskrise“, dann klingt das so, als wolle sie den Eindruck vermeiden, die aktuellen Ereignisse hätten etwas mit jenen des Jahres 2015 zu tun. Diese werden heute allgemein als „Migrationskrise“ bezeichnet und waren neben der Euro- und Finanzkrise die größte Bedrohung für die Integrität der EU der vergangenen Jahre. Nur die jetzige Situation, nicht jedoch die von 2015 soll offenbar als ein im Kern politisches Problem begriffen werden. Dabei wurde damals die Grundlage dafür geschaffen, die jetzt Machthabern wie Lukaschenko die Möglichkeit zu Inszenierungen wie der aktuellen gibt. Die „Waffe“, die der belarussische Diktator bei seinem hybriden Angriff in den Händen hält, ist ein europäisches Fabrikat, das als de-facto Abschaffung des Asylrechts bezeichnet werden kann. Das Versagen der Europäischen Union, besonnen und rational die Aufgabe zu bewältigen, einigen Hunderttausend Menschen Asyl und eine Perspektive zu bieten, die Panikmache vor der „Flüchtlingskrise“, hat den Wirkungsgrad der „Waffe“ potenziert.
Nur die jetzige Situation, nicht jedoch die von 2015 soll offenbar als ein im Kern politisches Problem begriffen werden.
Die „Munition“, um bei dem zynischen Bild zu bleiben, sind die Asylsuchenden selbst. Sie allerdings werden in dem grausamen Spiel der vergangenen Wochen und Monate von offizieller Seite meist nur noch als „Migranten“ bezeichnet. Dadurch gerät leicht in Vergessenheit, dass sie auf der Flucht sind, dass für sie der Horror nicht erst in den Wäldern der polnisch-belarussischen Grenzregion begonnen hat.
„Das ist ja keine normale Fluchtbewegung“, sagte der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt vorige Woche in einem Interview auf dem TV-Kanal der deutschen Tageszeitung „Welt“. Die Menschen würden „mit Lügen ins Land gelockt und dann ausgenutzt in diesem geopolitischen Konflikt“. Ihr Leid zu beenden, bedeute daher vor allem zu verhindern, dass nicht noch mehr von ihnen nach Minsk kommen.
„Normale“ Fluchtbewegungen, soweit man sich eine Form von Normalität beim Flüchten überhaupt denken kann, gibt es angesichts der hermetischen Abschottung der EU-Außengrenzen allerdings schon lange nicht mehr. Viele Menschen, die vor Bürgerkrieg, aus geschlechtsspezifischen, religiösen oder sonstigen Gründen verfolgt werden, sehen für sich daher keine andere Wahl, als den Strohhalm zu ergreifen, der sich ihnen bietet. Dabei werden die meisten von ihnen, welche Route sie auch nehmen mögen, unterwegs mit dem Tode bedroht und betrogen – sei es von skrupellosen Schleppern, libyschen Milizen oder, wie in diesem Fall, von Lukaschenkos Bütteln. Selbst eine Taxifahrt von Minsk an die polnische Grenze sei preiswerter als das, was das belarussische Regime von den Flüchtlingen für seine „staatlich koordinierten Schlepperdienste“ kassiert, so die Einschätzung, die laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf dem regimekritischen belrussischen Telegram-Kanal „Nexta“ derzeit die Runde macht.
„Wir verstehen, dass es zwischen Europa und Belarus Spannungen gibt“, zitiert die US-amerikanische Zeitschrift „Foreign Policy“ einen jungen somalischen Flüchtling zu seinem Aufenthalt an der polnisch-belarussischen Grenzregion: „Ich weiß nichts über Lukaschenko – alles, was ich weiß ist, dass Belarus eine Tür aufgemacht hat, aber sie haben uns nicht gezwungen, hierher zu kommen.“ Für den Autor des zitierten Artikels bringt dies die Heuchelei einer von demokratischen Staaten sanktionierten Politik auf den Punkt, die den meisten Asylsuchenden gar keine Fluchtwege mehr öffnet und deren vermeintliche Schaffung somit eben jenen „finsteren Diktaturen und Schmuggelnetzwerken“ überlasse, die man doch angeblich bekämpft.
Bei seinem Treffen am vergangenen Montag in Brüssel hat der Rat der EU-Außenminister nun weitere Sanktionen gegen Belarus beschlossen, die unter anderem die staatliche Fluggesellschaft Belavia treffen sollen. Der Airline, die mehr als fünfzig Prozent ihrer Flüge mit Mietflugzeugen bestreitet, soll es künftig versagt bleiben, Maschinen von europäischen Anbietern zu leasen. Zuvor hatte die irakische Regierung bereits angekündigt, Hunderte ihrer Staatsbürger „auf freiwilliger Basis“ aus Belarus zurückholen. Durch Verhandlungen mit den Regierungen der Herkunfts- und Transitländer der Flüchtlinge will man deren weiteren Transfer nach Belarus unterbinden. Das jedoch gleicht einer Sisyphusarbeit, gibt auch der EU-Außenbeauftragte zu. Zwar habe man in Verhandlungen mit dem Irak Erfolge erzielt, und auch „Turkish Airlines“ sowie weitere Fluggesellschaften haben angekündigt, keine solchen Flüge nach Belarus mehr durchzuführen, doch geht es laut Borrell um ein ganzes „Netz von Zielen und Transitländern, an dem viele Fluggesellschaften und viele Menschen beteiligt sind“.
Und so setzt die EU weiter auf die Logik, der sie bereits seit Jahren folgt: die Außengrenzen werden unaufhörlich zu einer Wehranlage ausgebaut. Bereits jetzt hat Polen einen provisorischen Stacheldrahtverhau von 2,50 Metern Höhe entlang der Grenze zu Belarus errichtet, der dann durch eine 5,5 Meter hohe Sperranlage mit Kameras und Bewegungsmeldern ersetzt werden soll. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte diesbezüglich bei seinem Solidaritätsbesuch in der vergangenen Woche eine frohe Botschaft für die polnische Regierung im Gepäck. Es sei aus rechtlicher Sicht möglich, solche „physischen Strukturen“ aus EU-Mitteln zu finanzieren, dies habe ein Gutachten des juristischen Dienstes des Europäischen Rats ergeben. Er hoffe auf eine baldige Entscheidung der EU-Kommission, die bislang Zahlungen für solche Anlagen abgelehnt hatte.
Bis es soweit ist, schützen 15.000 polnische Soldaten und 20.000 Polizeikräfte die polnische Grenze zu Belarus und gehen, wie am vergangenen Dienstag, bei eisigen Temperaturen mit Wasserwerfern gegen Flüchtlinge vor, die auf polnisches Territorium zu gelangen versuchen. Die polnische Presseagentur PAP berichtet, belarussische Soldaten hätten Stacheldrahtzäune niedergerissen, um den Flüchtlingen beim Durchbrechen zu helfen. Ebenso hätten sie diese mit Steinen und Tränengasgranaten bewaffnet. Überprüfen lässt sich all das nicht, denn seit der Verhängung des Ausnahmezustands durch die polnische Regierung entlang der Grenze ist journalistische Arbeit dort kaum mehr möglich. Mitte der Woche hat die polnische Regierung nun einen Gesetzesentwurf zum Schutz der Grenze vorgelegt, der den temporären Ausnahmezustand ersetzen soll. Auch der Entwurf sieht eine zeitweilige Einschränkung der Presse- und Bewegungsfreiheit in Grenzregionen vor, die dann als „Gefahrenbereich“ deklariert werden.
Von Rechten wie Björn Höcke von der AfD oder Frankreichs Eric Zemmour wird all dies gefeiert und begrüßt. „Was wir jetzt machen, ist die AfD-Politik, die wir 2015 nicht gemacht haben an der Grenze der Europäischen Union“, fasste der Migrationsforscher Gerald Knaus die Lage vorige Woche im deutschen Fernsehsender ARD zusammen. Er spielte damit auf eine Aussage der AfD-Politikerin Beatrix von Storch an, die damals argumentiert hatte, notfalls sei Flüchtlingen der Zutritt auf EU-Territorium mit Waffengewalt zu verwehren. Über kurz oder lang würden nun sicherlich bald auch Stimmen laut werden, die fordern, mit Lukaschenko zu verhandeln, so Knaus; die Situation zeige, wie erpressbar die EU geworden sei.
„Ich weiß nichts über Lukaschenko – alles, was ich weiß ist, dass Belarus eine Tür aufgemacht hat.“
Dazu hat aber zu einem beträchtlichen Teil der – im Übrigen von Knaus als Berater der deutschen Bundesregierung mit ersonnene – „Deal“ mit der Türkei beigetragen. Sie wird letztlich dafür bezahlt, damit das Gros der Flüchtlinge nicht von dort in die EU gelangt. „Refugee Commodification“ nennen die Migrationsforscherin Luisa F. Freiera und zwei ihrer Kollegen das in einer jüngst erschienen wissenschaftlichen Publikation – Flüchtlinge werden zu Waren. Angesichts des wachsenden Unwillens westlicher Nationen, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, werde dies zu einem neuen Geschäftsmodell auch im Globalen Süden.
„Ändert eure Politik gegenüber dem Regime, setzt euch an den Verhandlungstisch und zahlt, wenn ihr dieses Problem loswerden wollt“, ist laut dem belarussischen Journalisten Alexander Klaskowski auch die Haltung des dortigen Regimes. Solches „refugee rentseeking“ verspricht jedoch nicht allein finanzielles Kapital. Gerade Lukaschenko hat das längst gelernt. Und so gab es am Donnerstag, nur drei Tage nach dem Treffen der EU-Außenminister, erste Berichte, wonach einige EU-Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland und Italien, die geplanten Sanktionen gegen Belavia abzuschwächen versuchen. Die östlichen EU-Länder sprechen zornig von „Appeasement“ gegenüber Lukaschenko.
Hinter ihm jedoch steht der russische Präsident Wladimir Putin, der „Minsk die Bälle zuspielt“, wie Klaskowski es in einem Artikel für das unabhängige belarussische Online-Medium „Naviny.by“ formuliert: Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vorige Woche etwa versucht habe, die Lage mit Putin zu besprechen, habe dieser sie zu Lukaschenko weitergeschickt.
Pawel Ussow, der Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose in Warschau vermutet laut Klaskowski, Putin könne der Europäischen Union für seine Vermittlerdienste bei der Lösung der Krise die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland abzunötigen versuchen. Der Kreml wäre damit in der Lage, die politische Kontrolle über Belarus zu erhöhen und gleichzeitig „Lukaschenko zur Realisierung der eigenen Außenpolitik im Hinblick auf die EU zu instrumentalisieren“, wie Klaskowski den Analysten Ussow zitiert.
Die EU verhält sich angesichts all dessen wie jemand, der erst dem Erpresser die Mittel dazu aushändigt, um danach zu versichern, sich um keinen Preis erpressen zu lassen. Die Quittung hierfür bekommen die frierenden, hungernden Flüchtlinge an der belarussischen Grenze, darunter irakische Kurd*innen, die gegen den Islamischen Staat gekämpft, und Jesid*innen, die unter dessen genozidaler Bedrohung gelitten haben und noch immer von dessen Kämpfern bedroht werden.
„Ich würde dafür plädieren, dass die Menschen, die dort sind … in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden“, so der SPD-Politiker und geschäftsführende deutsche Außenminister Heiko Maas am Montag in Brüssel. Man müsse ihnen deutlich machen, „dass sie nicht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen sich zu einem Instrument der Politik von Lukaschenko machen lassen dürfen“. Zumindest in diesem Punkt kann sich Maas vermutlich sicher sein: Sie alle werden ihre Lektion über politische Instrumentalisierung inzwischen gelernt haben.