EU-Abkommen mit Vietnam: Handel statt Wandel?

Am Dienstag wird sich das EU-Parlament voraussichtlich für ein Freihandelsabkommen mit Vietnam aussprechen. Scharf kritisiert wird dies von zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes. Sie fordern Arbeitsschutz- und Menschenrechte.

Auf gute Handelspartnerschaft: 
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell (rechts) mit dem vietnamesischen Vizepremierminister Pham Bình Minh. (Foto: European Union, 2019/EC – Audiovisual Service)

Es war die größte Massendemonstration in Vietnam seit vielen Jahren. Zehntausende hatten im Juni 2018 gegen Korruption, Umweltverschmutzung und soziale Ungleichheit demonstriert. Den konkreten Anlass gaben zwei Gesetzentwürfe der vietnamesischen Regierung. Einer davon galt der „Cyber Security“, meint aber umfassende behördliche Überwachung und Zensur, der andere der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen. Rund 50.000 Arbeiter*innen einer Schuhfabrik nahe Ho Chi Minh-Stadt waren daraufhin auf die Straße gegangen, von dort verbreiteten sich die Proteste rasch übers ganze Land.

„Ein arabischer Frühling entwickelt sich in Vietnam”, schrieb der Journalist und Blogger Pham Chi Dung damals euphorisch, „es ist das erste Mal seit 1975, dass eine Aktion sich direkt gegen die herrschende Regierung richtet“. Doch deren Reaktion kam schnell und hart. Sie setzte Tränengas, Schlägertrupps und Lärmkanonen ein, mehr als 500 Menschen wurden verhaftet, viele davon misshandelt.

Seit November vergangenen Jahres sitzt auch Pham Chi Dung im Gefängnis. Ihm wird „Verbreitung staatsfeindlicher Propaganda“ vorgeworfen, damit drohen dem Journalisten bis zu zwölf Jahren Haft. Wenige Tage vor seinem Arrest hatte er einen Appell verschiedener vietnamesischer NGOs ans Europaparlament mit auf den Weg gebracht. Um Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Arbeitsschutz in dem südostasiatischen Land sei es katastrophal bestellt, so die unterzeichnenden Organisationen. Von den EU-Abgeordneten fordern sie daher, ein Freihandels- und Investitionsschutzabkommen mit Vietnam auf Eis zu legen, über das kommenden Dienstag in Straßburg abgestimmt werden soll.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ liegt Vietnam auf Platz 176 von 180, vom Internationalen Gewerkschaftsbund ITUC wurde es im „Globalen Index“ der Länder mit den schlimmsten Arbeitsbedingungen 2019 erneut herabgestuft, was „keinerlei Garantie von Rechten“ entspricht. Die Angriffe auf Arbeitsrechte hätten im Jahresverlauf noch weiter zugenommen.

Bereits seit 2012 hat die Europäische Union mit der vietnamesischen Regierung über ein nunmehr zweiteiliges Abkommen verhandelt, das am 30. Juni 2019 in Hanoi unterzeichnet worden ist. Das Freihandelsabkommen (FTA) sieht unter anderem einen Abbau von 99 Prozent aller Zölle vor, der von der EU binnen sieben Jahren, von Seiten Vietnams innerhalb von zehn Jahren abgeschlossen werden soll. Es tritt nach einer positiven Abstimmung im EU-Parlament in Kraft. Das Investitionsschutzabkommen (IPA) wird Vietnam als Produktionsstandort für EU-Unternehmen weiter öffnen, auch in Kernbereichen wie Nahrung, Düngemittel und Baumaterialien. Das IPA muss nach dem Parlamentsentscheid auch noch von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden.

Zwar ist Vietnam nach Singapur schon jetzt der zweitgrößte Handelspartner der EU aus dem „Verband Südostasiatischer Nationen“ (ASEAN); derzeit legen die Exporte in das Land jährlich um fünf bis sieben Prozent zu. Dennoch betrug das Handelsdefizit der EU mit Vietnam im Jahr 2018 rund 27 Milliarden Euro. Mit dem Abkommen soll sich das zugunsten Europas ändern. 65 Prozent aller EU-Exporte in das Land werden dann umgehend zollfrei sein. Des Weiteren garantiert Vietnam den Schutz europäischer Marken, überdies können Unternehmen aus EU-Staaten in dem Land fortan um öffentliche Aufträge konkurrieren.

Natürlich sieht das Abkommen auch die Wahrung von Menschenrechten, Arbeitsschutz, Umweltstandards und nachhaltige Entwicklung vor. So hat Vietnam mittlerweile sechs der acht grundlegenden Konventionen der „International Labor Organisation“ (ILO) ratifiziert, zuletzt im vergangenen Juni Konvention 98, die das Recht, sich zu organisieren sowie auf Kollektivverhandlungen garantieren soll. Bis dahin war dies de facto unmöglich, da formal die regierungsnahe Einheitsgewerkschaft die Interessen der Beschäftigten repräsentiert. Damit das so zugestandene Recht jedoch auch gewahrt wird, muss auch die sogenannte Konvention 87 gelten, die das Recht auf freie Vereinigung und Organisierung umfasst. Darauf will sich Vietnam jedoch erst ab 2023 verpflichten; während man Konvention 105, die Zwangsarbeit verbietet, noch im laufenden Jahr annehmen will.

„Wäre das Abkommen schon in Kraft getreten, gäbe es genügend Gründe, es sofort zu suspendieren.“

Dem zuständigen Ausschuss des Europaparlaments ist das fürs Erste gut genug. „Es gab eine klare Mehrheit für das Abkommen“, so der Luxemburger Christophe Hansen (CSV), der im Ausschuss für internationalen Handel (INTA) sitzt, gegenüber der woxx. 29 der Abgeordneten votierten in diesem Ausschuss Mitte Januar für das Freihandelsabkommen, sechs stimmten dagegen, zudem gab es fünf Enthaltungen. Das Investitionsschutzabkommen erhielt drei Stimmen weniger.

Bei der Abstimmung im Parlament wird die Mehrheit der Abgeordneten nun wohl der Empfehlung ihres Handelsausschusses folgen. Die kritischen Stimmen aus der vietnamesischen Zivilgesellschaft konnten also nicht überzeugen, obwohl es in der Vergangenheit nicht wenige Versuche dazu gegeben hat. Die nun noch anstehende Entscheidung des Europäischen Parlaments stelle „die letzte, machtvolle Gelegenheit dar, um diese Deals als Druckmittel für eine konkrete Verbesserung der Menschenrechte in Vietnam zu nutzen“, so der Tenor aller Appelle. Vom Parlament erwarten die Kritiker*innen, dass dieses die beiden Abkommen mit Vietnam so lange auf Eis legt, bis die dortige Regierung verpflichtende und überprüfbare Zusagen macht, Menschenrechte und Meinungsfreiheit zu wahren, sowie Arbeits- und Strafrecht zu ändern.

Der vom in Arrest befindlichen Journalisten Pham Chi Dung mitorganisierte Aufruf ans EU-Parlament von vergangenem November hebt hervor, das vietnamesische Regime habe in den vergangenen Jahren die Verfolgung von Menschenrechtler*innen und engagierten Mitgliedern der Zivilgesellschaft ungeachtet der Verhandlungen mit der EU noch intensiviert: „Jedwede Äußerung eines Dissenses wird von den staatlichen Behörden schwer bestraft, entweder direkt oder durch staatlich finanzierte Schläger.“ Hunderte Arbeiteraktivist*innen, Anwälte und Anwältinnen sowie Journalist*innen seien verurteilt und ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt worden. Die Initiator*innen des Aufrufs fordern daher vor allem auch eine Reform des „drakonischen Strafrechts“, das bislang die Kritik an der Regierung explizit unter Strafe stelle.

Den Vorhalt, es sei anmaßend, sich über diese Bedenken hinwegzusetzen, wie mit dem Abstimmungsergebnis des Handelsausschusses geschehen, weist Christophe Hansen entschieden zurück: „Wir wissen, dass die NGOs berechtigte Bedenken haben“, so der CSV-Politiker, doch „wenn wir diese Verhandlungen mit Vietnam gar nicht aufgenommen hätten, stünden wir in Punkto Arbeitsrechte und Menschenrechte in Vietnam heute noch ganz woanders.“

Das sehen offenbar auch die sozialdemokratischen Abgeordneten (S&D) so, die im Ausschuss ebenfalls für die Annahme des Abkommens votiert haben. Hingegen ist man beim Europäischen Gewerkschaftsbund (ETUC) bezüglich des bislang Erreichten eher skeptisch: „Alle Zugeständnisse, die Vietnam bislang gemacht hat, bestehen nur auf dem Papier“, so Daniele Basso gegenüber der woxx. Der Gewerkschafter bemängelt unter anderem, dass es keine Kontrollmöglichkeit gebe, ob die versprochenen Reformen auch umgesetzt würden.

In diesem Punkt, versichert Hansen, werde man noch Abhilfe schaffen. Ein sogenanntes Joint Committee zwischen der vietnamesischen Nationalversammlung und der EU soll dafür sorgen, dass Arbeits- und Menschenrechte auch so gewahrt werden, wie in den beiden Abkommen festgehalten. „Von unserer Seite wollen wir die Bestätigung für dieses Joint Commitee haben, denn das ist das Instrument, mit dem die Zivilgesellschaft und das Europaparlament in Zukunft die Umsetzung des Abkommens begleiten können.“ Bei schweren menschenrechtlichen Verstößen könne das Abkommen dann jederzeit außer Kraft gesetzt werden, so der Abgeordnete: „Ich denke, das ist finanziell ein sehr starker Hebel.“

Für den Europäischen Gewerkschaftsbund ist dies wenig überzeugend. „Ein solcher Artikel steht in jedem EU-Handelsabkommen, ist aber noch nie angewandt worden”, meint Basso. Das betonen auch die vietnamesischen NGOs in ihrem Appell an das EU-Parlament. Sie weisen darauf hin, dass schon der wirtschaftliche Nachteil eines solchen Schritts für die EU-Staaten diesen höchst unwahrscheinlich erscheinen lässt. Vor allem jedoch sei die Situation in Vietnam auch derzeit bereits katastrophal: „Wäre das Abkommen also zum jetzigen Zeitpunkt schon in Kraft getreten, gäbe es genügend Gründe, es nun unverzüglich zu suspendieren.“

Argumentative Unterstützung bekamen die NGOs im Dezember vergangenen Jahres vom Auswärtigen Ausschuss des EU-Parlaments. In einem an den Handelsausschuss INTA gerichteten Gutachten, für das Hansens Luxemburger Parteifreundin Isabel Wiseler-Lima verantwortlich zeichnet und das rechtlich für die INTA nicht bindend ist, wird unter anderem kritisiert, das Abkommen sei in punkto Menschenrechte sehr auf die ILO-Konventionen reduziert und in vielen Aspekten nicht präzise genug. Auch die fehlenden Mittel, über die Einhaltung all dessen zu wachen und sie nötigenfalls auch durchzusetzen, werden in dem Papier kritisiert. Dies alles hänge vom Willen des jeweils betroffenen Partners ab. ETUC-Mann Basso drückt es unverblümter aus: „Wenn es Probleme gibt, dann kann die EU-Kommission das zwar ansprechen und ein unabhängiges Expertengremium mit einem entsprechenden Bericht beauftragen – doch wenn die vietnamesische Seite den dann einfach in die Mülltonne wirft, kann die Kommission nichts weiter tun.“

Eine Woche vor der Abstimmung im EU-Parlament haben 26 internationale und vietnamesische NGOs am vergangenen Dienstag in einem Schreiben ihre Argumentation noch einmal bekräftigt und auch die Entscheidung des Handelsausschusses kritisiert: „Trotz mehrfacher Bitten haben Menschenrechts-NGOs nie die Chance bekommen, ihren Standpunkt vor dem Ausschuss dazulegen.“ Man hoffe nun, dessen Vorgabe werde durch das Europäische Parlament korrigiert. Das Abkommen müsse gestoppt werden, „bis die vietnamesische Regierung konkrete und überprüfbare Maßstäbe zum Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten einführt“.


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