Fit for 55 und Luftverkehr: Kaum gestutzte Flügel

Die EU-Kommission will den Flugverkehr klimaverträglicher gestalten. Doch ihre Vorschläge werden als unzureichend kritisiert.

Seit Beginn des Industriezeitalters steigt der CO2-Gehalt der Atmosphäre. Der Flugverkehr hat daran einen immer größeren Anteil. (Pixabay; cocoparisienne)

„Um nicht stur Kurs auf die Klimakatastrophe zu halten, müssen wir den Flugverkehr sofort und umfassend besteuern“, heißt es im Pressekommuniqué, mit dem „Stay Grounded“ auf das „Fit for 55“-Programm der EU-Kommission reagiert hat. Das NGO-Netzwerk, dessen Name in etwa „Bleibt am Boden!“ bedeutet, begrüßt grundsätzlich die Idee einer Kerosinbesteuerung, kritisiert aber den verwässerten Kommissionsvorschlag. Die Kerosinbesteuerung ist nur ein Nebenaspekt des „Fit for 55“-Programms, mit dem die EU ihr neues CO2-Reduktionsziel für 2030, nämlich 55 Prozent weniger Emissionen als 1990, erreichen will (woxx 1641: Les 55 % dans leur contexte). Im Vordergrund stehen Vorhaben wie die Ausweitung des Emissionshandels auf den Energieverbrauch des Straßenverkehrs und des Heizens (Racheter le climat?) oder die Einführung einer Grenzausgleichssteuer (Eck- oder Stolperstein?).

Bleibt Kerosin steuerfrei?

Im Bereich Luftverkehr stellt die Kommission eine Kerosinsteuer in Aussicht – zurzeit ist der Flugzeugtreibstoff in fast allen europäischen Ländern steuerbefreit. Zusätzlich soll das System der handelbaren Emissionszertifikate ausgeweitet werden. Das „Emissions trading scheme“ (ETS) der EU kommt bisher nur für innereuropäische Flüge zur Anwendung.

Weil die Kerosinbesteuerung über zehn Jahre hinweg progressiv eingeführt werden soll, erscheint der Vorschlag Stay Grounded völlig unzureichend – schließlich geht es um ein in neun Jahren zu erfüllendes CO2-Reduktionsziel. Enttäuscht ist das Netzwerk außerdem darüber, dass Flüge in Nicht-EU-Zielländer von der Steuer ausgenommen wären. Und vor allem, dass die Steuerbefreiung weiterhin für reine Frachtflüge gelten soll. Darüber hinaus ist fraglich, ob überhaupt ein Mindeststeuersatz für Kerosin eingeführt werden kann – dazu braucht es Einstimmigkeit im EU-Ministerrat. Die derzeit besonders wirtschaftsliberale Kommission wird kaum darauf drängen – sie setzt sowieso auch beim Klimaschutz lieber auf Marktmechanismen.

Doch der Versuch, über Marktmechanismen die CO2-Emissionen des Luftverkehrs einzudämmen, ist ebenfalls ein Flop, zumindest in den Augen der NGO Transport & Environment (T&E), die für ihre fundierten Analysen bekannt ist. So sollen die Gratis-Emissionsrechte, von denen die Fluggesellschaften – wie die Industrie – bisher profitiert hat, noch bis 2026 verteilt werden. Außerdem will die EU-Kommission das ETS nur punktuell ausdehnen. Grundsätzlich sollen die dem CO2-Ausstoß entsprechenden Emissionsrechte für Flüge außerhalb der EU im Rahmen des Systems „Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation“ (Corsia) erworben werden. Um die Konkurrenzfähigkeit nicht zu gefährden, benötigt man keine Emissionsrechte in Ländern, die sich nicht am Corsia beteiligen. T&E plädiert stattdessen dafür, alle Flugemissionen ins ETS einzubeziehen und dieses strenger zu gestalten. Die Möglichkeit, Emissionsrechte von der Industrie zu kaufen, solle beschränkt werden; Multiplikatoren könnten einen Ausgleich schaffen für das wahrscheinliche Scheitern einer Kerosinbesteuerung und die über das CO2 hinausgehenden klimaschädlichen Auswirkungen des Flugverkehrs.

ETS oder Corsia, was hilft?

Systeme wie das europäische ETS werden von vielen Klimaschützer*innen kritisiert. Einerseits, weil ihr Grundprinzip – wer zahlt, darf verschmutzen – suspekt klingt, andererseits, weil sie sich in der Praxis kaum bewährt haben. Allerdings ist der Emissionshandel mit einem sich jährlich verringernden Emissionsvolumen ein aus theoretischer Sicht effizienter Rahmen für Industriekonzerne oder Fluggesellschaften, die vor allem einer ökonomischen Rationalität gehorchen. Nach den jahrzehntelangen Anlaufschwierigkeiten könnte das EU-ETS für die Industrie endlich Resultate erbringen – T&E zieht es auf jeden Fall dem Corsia-System vor.

Letzteres basiert auf dem „Carbon Offset“, also darauf, dass für jede Tonne ausgestoßenes CO2 irgendwo eine Tonne eingespart oder „gebunden“ wird. Das entspricht einer Business-to-Business-Version der Bäumchen-Pflanz-Angeboten, mit denen viele Flugpassagier*innen ihre Reisen mittlerweile „kompensieren“ und sich ein gutes Gewissen kaufen. Dass Corsia mit dem Segen der Vereinten Nationen von der Internationalen Luftfahrtbehörde ausgearbeitet wurde, verhindert nicht, dass es ähnliche Schwächen aufweist wie die Programme für wohlmeinende Flugpassagier*innen.

Ende des Flugzeitalters?
Keine Sorge! Obwohl der Luftverkehr das Klima bedroht, handelt die EU nur zögerlich.  (Pixabay; Pexels)

Interessanterweise ließ die Kommission bereits vor drei Jahren eine Studie anfertigen, die Corsia und ETS verglich. Wohl weil sie nicht zu dem von der Kommission bevorzugten – und im Rahmen von Fit vor 55 vorgestellten – Konzept passte, landete sie in der Schublade. Aus der T&E sie – dank der EU-Regeln über Informationszugang – wieder hervorholte. Auf der Grundlage der Studie forderte die NGO bereits im März dieses Jahres, das ETS auf alle Flüge auszuweiten, statt für außereuropäische Flüge das Corsia-System einzuführen.

„Corsia ist die schlechtestmögliche Option für das Klima“, heißt es in der T&E-Veröffentlichung. Laut Studie wird keines der im Rahmen des Systems angebotenen Kompensationsprogramme allen Nachhaltigkeitskriterien gerecht. Insbesondere besteht für fast die Hälfte der bis 2020 angebotenen Offset-Maßnahmen das Risiko, dass sie doppelt gezählt werden, also einmal als CO2-Reduktion für das Land, in dem sie umgesetzt werden, und ein zweites Mal im Rahmen von Corsia. Bei vielen Kompensationsprogrammen ist auch nicht ersichtlich, dass die damit „eingesparten“ Emissionen nicht sowieso weggefallen, die Maßnahmen also auch ohne Corsia ergriffen worden wären. Letztendlich soll das Corsia-System aber nicht nur sinnvolle Kompensationsmaßnahmen fördern, sondern für die Fluglinien auch einen ökonomischen Anreiz schaffen, weniger CO2 auszustoßen. Hier dürfte das neue System mindestens so lächerliche Ergebnisse bringen wie das EU-ETS in der Vergangenheit. Die Studie schätzt den Kostenpunkt der Kompensation einer Tonne CO2 auf unter 1 Euro. Kein Wunder, denn nach Berechnungen von T&E könnte das Angebot an Corsia-Offsets die Nachfrage im Flugverkehr um ein Dreifaches übersteigen.

Wohin soll das Geld fließen?

Ein weiterer Vorteil des ETS gegenüber Corsia ist in den Augen von T&E, dass in diesem Modell das von den Fluggesellschaften aufgewendete Geld nicht in zweifelhafte Projekte fließt, sondern im EU-Topf landet und für die Förderung grüner Investitionen zur Verfügung steht. Interessanterweise erwägt die Brüsseler NGO keine Finanztransfers in den globalen Süden, der von den zweifelhaften Corsia-Projekten profitieren kann, vom ETS aber direkt nichts abbekommt. Stattdessen sollen laut T&E die ETS-Einnahmen zur Förderung neuer, klimaneutraler Flugtreibstoffe („e-Kerosin“) dienen. Bemerkenswert ist, dass auch das radikalere Stay-Grounded-Netwerk über die bescheidenen EU-Pläne für alternative Treibstoffe klagt und für e-Kerosin plädiert – in Verbindung mit einer drastischen Reduktion des Luftverkehrs.

Was weder ETS noch Corsia derzeit erfassen, sind die Auswirkungen des Flugverkehrs, die nicht mit dem CO2-Ausstoß zusammenhängen. Laut einer EU-Studie von 2020 wirken sich andere Emissionen und Kondensstreifen noch einmal doppelt so stark auf die globale Erwärmung aus. Damit Fluglinien bei ihrer Routenplanung auch solche Faktoren einbeziehen, werden zusätzliche ökonomische und regulatorische Lenkungsinstrumente benötigt, so T&E. Die Erwartungen der Klimaschützer*innen sind groß, die Verhandlungen über Fit for 55 stehen erst am Anfang. Werden die EU-Institutionen im Sinne der Nachhaltigkeit nachbessern oder das Paket aufgrund des Drucks der Wirtschaftslobbys weiter verwässern?


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