Kulturpolitik: Nach Esch2022 die Sintflut?

Ein Knall zum Ende des Kulturjahres: Das Künstler*innenkollektiv Richtung22 wirft der Gemeinde Esch unter anderem finanzielle Intransparenz vor. Die Verantwortlichen schweigen. Was jetzt?

Bei der Eröffnungsfeier zu Esch2022 im Rampenlicht, jetzt in der Kritik: Lässt die Gemeinde Esch seine Kulturschaffenden im Stich? (Foto: GilPe, CC BY-SA 4.0/creativecommons.org)

Der Schöffenrat der Gemeinde Esch präsentierte am Dienstag seine Bilanz zum Kulturjahr Esch2022 (E22) auf dem Escher Weihnachtsmarkt, während das Künstler*innenkollektiv Richtung22 zum eigenen Jahresrückblick am Ende des Monats einlud – mit Vermerk am Schluss der Einladung: „PS. Schreibt uns, wenn ihr Lust habt einen Artikel darüber zu schreiben, was in der Escher Kulturpolitik alles schiefläuft – wir haben zu viel Material.“

Bereits letzte Woche erhob Richtung22 Vorwürfe gegen die Stadt Esch, übte Kritik an deren provisorischen Kulturbudget 2023. Fast 19 Millionen sollen dem Bereich „Culture et fêtes publiques“ zugutekommen, der Großteil davon der Sanierung von Gebäuden. Richtung22 bedauert in einem öffentlichen Schreiben, dass demnach nur ein Bruchteil der Gelder in die Taschen der Kulturschaffenden fließt, also dahin, wo sie zur Finanzierung ambitionierter Projekte nach E22 gebraucht würden. Im Gespräch mit der woxx deckt das Kollektiv die Hintergründe auf.

Das Kollektiv traf sich Mitte September mit Ralph Waltmans, dem Direktor kultureller Angelegenheiten der Gemeinde Esch, und mit Pim Knaff (DP), dem Escher Kulturschöffen und Abgeordneten. Beide sind Mitglieder des Verwaltungsrats der ASBL frEsch, Knaff präsidiert ihn seit der Gründung der ASBL im Jahr 2020. Gegenstand der Zusammenkunft waren eine Präsentation der Zwischenresultate und Verhandlungen über eine mögliche Konvention zwischen der Gemeinde Esch und Richtung22, das im Escher Bâtiment 4 ansässig ist. Richtung22 forderte einen Zuschuss von 175.000 Euro, um die eigenen Aktivitäten weiterführen zu können, was damals und in mehreren Folgegesprächen von Waltmans zwar als hoch, aber berechtigt und nicht unmöglich bewertet worden sein soll. Den Künstler*innen soll bei diesem Treffen auch versichert worden sein, dass es mehrere Optionen zur finanziellen Unterstützung gebe. Doch dann geriet das Dossier ins Stocken, wie es übrigens bei weiteren Antragssteller*innen der Fall sein soll, die im Zuge von Esch2022 Projekte durchgeführt haben. Anfang Dezember hakte Richtung22 bei Waltmans nach, weil es zur Beantragung weiterer Unterstützungsgelder durch die Œuvre Nationale de Secours Grande-Duchesse Charlotte die Auskunft über seine Basisfinanzierung vorlegen sollte.

„Es ist eine Lüge zu behaupten, das Kulturjahr sei nachhaltig, denn durch die bestehenden Umstände treibt es die Kulturschaffenden auf lange Sicht aus der Region.“

Es erkundigte sich nach „belastbareren Informationen“ darüber, ob und wann mit einer Konvention zu rechnen sei. Nach einem kurzen Austausch vertröstete Waltmans das Kollektiv: Solange das Budget nicht gestimmt und vom Innenministerium abgesegnet worden sei, könne die Gemeinde Esch beziehungsweise frEsch den Kulturakteur*innen nichts zusichern. Zwar seien Gelder für alle „post 22“-Projekte vorgesehen, doch die Verteilungsprozedur sei noch unklar. Bis Ende Januar sei es also nicht möglich, Auskunft über mögliche Fördergelder zu geben. Die woxx erhielt von der Pressesprecherin der Gemeinde Esch dieselbe Antwort auf die Frage nach dem Stand des Dossiers von Richtung22. Waltmans stand im CC der Mail mit Bitte um Weiterleitung an die Verantwortlichen und konnte den umfassenden Fragenkatalog der woxx einsehen, der bis auf die Auskunft zum Budget unkommentiert blieb.

Im besagten Kulturbudget der Gemeinde Esch, über das am heutigen Freitag abgestimmt wurde*, sind keine Gelder für neue Konventionen mit Kulturakteur*innen vorgesehen, dafür aber für die Anpassung bestehender Abkommen, beispielsweise dem mit der Kulturfabrik (Erhöhung um 50 Prozent) und dem mit frEsch. Die ASBL soll die Umsetzung des Escher Kulturplans (Connexions 2.0) gewährleisten, der im Oktober vorgestellt wurde. Darüber hinaus verwaltet frEsch die Finanzen des Bâtiment 4, des Bridderhaus und der Konschthal sowie der „Nuit de la culture“ und der „Francofolies“. Die Gemeinde sieht vor, die ASBL im kommenden Jahr mit 4 Millionen Euro bei Personalkosten und der Umsetzung des Kulturplans zu unterstützten. Wo genau die 2,7 Millionen vom letzten Jahr hingeflossen sind, bleibt unklar, denn im „Registre de commerce et des sociétés“ ist keine einzige Jahresbilanz hinterlegt. Die woxx forderte den Jahresbericht erfolglos bei der Gemeinde Esch und bei Waltmans an.

Das Kulturministerium teilte der woxx hingegen in einer Mail mit: „Die Assoziation frEsch wird ab 2023 mit einem Betrag in Höhe von 500.000 Euro vom Kulturministerium bezuschusst, um die Nachhaltigkeit ihrer neuen Initiativen wie der Konschthal, dem Bridderhaus und dem Bâtiment 4 zu garantieren.“ Es handele sich dabei um eine Konvention. Das habe zum Vorteil, dass die Verhältnisse geklärt seien, was den Begünstigten „eine gewisse Planungssicherheit“ gebe. „Um die Bedingungen der Konvention zu erfüllen, muss frEsch ASBL dem Kulturministerium im Vorfeld ein Budget, einen Finanzierungsplan sowie ein Kulturprogramm zukommen lassen, damit überprüft werden kann, ob die Gelder richtig eingesetzt werden“, betont das Ministerium. Es verweist außerdem darauf, weitere partizipative Projekte nach E22 zu unterstützen. So seien beispielsweise die Konventionen mit den Kollektiven Independent Little Lies (ILL), Maskénada, aber auch die mit Richtung22 erhöht worden. Richtung22 erhält kommendes Jahr 150.000 Euro vonseiten des Ministeriums. Auch würde das Kulturministerium Assoziationen zur Förderung der Industriekultur (IK-CNCI, D-Kollektiv, FerroForum …) nach E22 unterstützen. „Das Kulturministerium hat uns gegenüber allerdings gesagt, die Hauptverantwortung liege bei den Gemeinden“, betont Richtung22.

CC BY-ND 2.0 Chambre des députés

Darüber hinaus offenbarte das Kollektiv der woxx, dass seines Wissens maximal die Hälfte der Zuschüsse, die frEsch vom Kulturministerium erhalten würde, für die Unterstützung der Kulturschaffenden vorgesehen sei. „Die anderen 250.000 Euro versinken in den Abgründen der ASBL und Esch selbst gibt keinen Cent für Künstler*innen aus“, so das Kollektiv. Die woxx bat auch hier um eine Stellungnahme der Verantwortlichen. Eine Bitte, der bis zum Redaktionsschluss niemand nachkam. Für Richtung22 ist jedenfalls klar, dass entsprechende Fördergelder von der Gemeinde selbst verwaltet werden sollten. Hier stellt sich mit Blick auf die Zusammensetzung des Verwaltungsrats von frEsch die Frage, ob das einen großen Unterschied machen würde: Mit dem Kulturschöffen als Präsidenten ist eine klare Trennung zwischen den Interessen der Gemeinde und der ASBL als solcher schwer umzusetzen, was sich besonders jetzt als Problem entpuppt – bei Konflikten bleiben die wichtigsten Ansprechpartner*innen dieselben.

Richtung22 betont wiederholt, das Kollektiv kämpfe nicht nur in eigener Sache. Viele Kulturakteur*innen seien durch E22 gewachsen und würden ihre Projekte gerne weiterführen. Noch am Dienstag hätten sämtliche Gruppen und einzelne Künstler*innen des Bâtiment 4 – in dem Gebäude sind unter anderem auch CELL, ILL und Hariko vertreten – sich sorgenvoll mit einem Brief an den Verwaltungsrat von frEsch gerichtet, denn auch sie würden auf Antworten warten, was die Planung kultureller Produktionen erschwere. „Wir haben Verbündete, nur sind wir derzeit die einzigen, die sich öffentlich beschweren“, sagt Richtung22. Es sei absurd, dass ausgerechnet die lokalen Projekte von der Presse und Esch2022 als Höhepunkt des Kulturjahres gelobt worden seien. „Und jetzt drohen genau diese Projekte nicht weitergeführt zu werden und ins Wasser zu fallen“, warnt Richtung22. „Es ist eine Lüge zu behaupten, das Kulturjahr sei nachhaltig, denn durch die bestehenden Umstände treibt es die Kulturschaffenden auf lange Sicht aus der Region. Es entwickelt sich zum feindlichen Terrain.“

„All die Künstler*innen und Kollektive, die 2022 gezeigt haben, dass sie zu Innovation fähig sind, stehen jetzt vor einem Scherbenhaufen”

Dabei schwebt der Gemeinde Esch das genaue Gegenteil vor: Sie will bis 2027 als „terre d’accueil“ für Kulturschaffende gelten. Das steht nicht nur im Connexions 2.0, sondern auch in der Pressemitteilung zur Bilanz von E22. Dort verbucht der Schöffenrat das Kulturjahr als Erfolg und zieht einen „premier bilan très positif“. Das Schreiben ist zum Beleg mit ausgewählten Besucher*innenzahlen und einer Auflistung diverser Ausstellungen sowie Veranstaltungen gespickt. Zum Programm im Bâtiment 4 gibt es nur eine Information: Dort fanden seit dem Auftakt des Kulturjahres im Februar 100 Veranstaltungen statt. Während Richtung22 um die Zukunft der Kulturakteur*innen in Esch bangt, verweist der Schöffenrat unter dem Punkt „L’après Esch2022 et prévisions“ vor allem auf Auszüge aus dem städtischen Kulturplan, der die Route für die Escher Kulturentwicklung bis 2027 markieren soll. In der Pressemitteilung zur E22-Bilanz werden fünf Zielsetzungen daraus hervorgehoben, die zur nachhaltigen Kulturentwicklung beitragen sollen.

Davon wirkt sich nur die erste der zitierten Maßnahmen unmittelbar auf den Alltag der Kunstschaffenden aus. Darunter falle die präzise Definition der „création“, ihrer optimalen Rahmenbedingungen, die Erarbeitung von Unterstützungsmöglichkeiten und deren Umsetzung. Als möglicher Arbeitsschritt wird in Connexions 2.0 die Einrichtung einer „Task Force“ bestehend aus nicht näher benannten „services“ und internationalen Expert*innen vorgeschlagen, die seit Oktober „certains projets locaux“ von E22 auswählen sollten. Und weiter: „Ces projets seront soumis au Conseil de Gouvernance culturelle, qui choisira lesquels seront pérennisés en 2023 et potentiellement à plus long terme.“ Von offizieller Seite wurde hierzu noch nicht weiter kommuniziert.

Richtung22 hält die Zielsetzung von Connexions 2.0 für richtig, doch werde der Kulturplan schlichtweg nicht umgesetzt. Als das Kollektiv sich im September mit Knaff und Waltmans traf, ging es davon aus, man sei dabei, sich über die vielfältigen Projekte zu informieren, und im Sinne des Kulturplans werde nach Wegen gesucht, die Kollektive in der Stadt Esch zu halten. Nachdem jedoch Monate nichts in diese Richtung passiert sei, sei es jetzt zu spät, um „wirklich an den Elan von 2022 anzuknüpfen“. Den Verantwortlichen ginge es nur um Gebäude und Events, hier stünden die Millionen bereit. Als Beispiel nennt das Kollektiv die „Nuit de la Culture“, die auch in der Bilanz zum Kulturjahr hervorgehoben wird: „Im Gemeindebudget sind 1,9 Mio. für die Nuit de la Culture vorgesehen, zusammen mit Personal- und Mietkosten aus dem frEsch-Budget stehen für die Veranstaltung, die 2023 in einer kleineren Ausgabe im September stattfinden soll, über 3 Mio. zur Verfügung. Kunst liefert dafür hauptsächlich „La Machine“ aus Frankreich.“ Diese Zahlen müsse man sich vor Augen halten, wenn man erfahre, dass für die Weiterführung der Arbeit aller lokaler Gruppen, die E22 mitgestaltet haben, im Gegenzug „gerade mal 250.000 Euro“ vorgesehen seien.

Am Ende zieht das Kollektiv ein ernüchtertes Fazit des Kulturjahres 2022, an dem es sich mit mehreren Projekten beteiligt hat. „Die Chance wurde vertan, die Kulturszene weiterzubringen. All die Künstler*innen und Kollektive, die 2022 gezeigt haben, dass sie zu Innovation fähig sind, stehen vor einem Scherbenhaufen“, schreibt das Kollektiv. Dafür sei nicht nur die Leitung von E22 verantwortlich, sondern auch die Escher Gemeinde und das Kulturministerium. Dieser Seitenhieb gegen das Kulturministerium bezieht sich auch auf das Budget 2023 der Regierung: 0,7 Prozent des Staatsbudgets, das letzte Woche gestimmt wurde, kommt nächstes Jahr dem Kulturministerium zugute. Das ist 0,1 Prozent weniger als letztes Jahr. „Was für eine Symbolik zum Ende der europäischen Kulturhauptstadt“, kommentiert Richtung22.

* Das Ergebnis der Abstimmung lag bis Redaktionsschluss nicht vor.

„Die anderen 250.000 Euro versinken in den Abgründen der ASBL und Esch selbst gibt keinen Cent für Künstler*innen aus.“
(Richtung22)


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