Leben mit Schwerhörigkeit: Missverstehen

Gesagtes nicht gut verstehen, nachfragen müssen – Alltag für die rund 16.000 Menschen in Luxemburg, die mit einer Hörschädigung leben. Das Phänomen betrifft nicht nur Ältere. Missverständnisse und Vorurteile machen den Alltag oft schwer.

Jillian Petry lebt mit Schwerhörigkeit in Luxemburg und hat Anfang des Jahres zum Thema ein Buch herausgebracht. (Foto: Jillian Petry)

Sie sind auf einer Party, um sie herum wird gelacht, getanzt, geredet, aus einem Lautsprecher in der Ecke wummert ein tiefer Bass, den sie im ganzen Körper spüren. Plötzlich taucht das Gesicht einer Bekannten vor Ihnen auf. Der erwartungsvolle Ausdruck darauf verrät Ihnen, dass die Person gerade etwas zu Ihnen gesagt hat, Sie haben es jedoch leider nicht verstehen können. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Frage zu stellen: „Wie bitte?“

Für Jillian Petry gehören Situationen wie diese auch abseits von Feierlichkeiten zum Alltag. Menschen, die wie sie mit einer Hörminderung leben, stoßen immer noch oft auf Unverständnis. Selbst wenn sie Fremde darum bittet, lauter zu sprechen oder sich zu wiederholen, weil sie schwerhörig ist, ignorieren viele ihre Bitte. Ein Verstehen wird ihr so noch schwerer gemacht. Das „Problem“: Man sieht ihr ihre Hörminderung nicht an. „Eine Reaktion bleibt oft aus“, sagt die junge Frau, die seit ihrer Geburt schwerhörig ist. „Weil es nicht sichtbar ist, existiert es für viele einfach nicht.“

Selbst im engsten Freundeskreis hat Petry bereits schlechte Erfahrungen machen müssen. Eine der schwierigsten Phasen war die Schulzeit. Immer wieder sah sie sich damals mit Mobbing und Ausgrenzung konfrontiert. Hinzu kam, dass auch die Lehrkräfte teilweise keine Rücksicht nahmen oder – noch schlimmer – ihre Hörschädigung verleugnet haben. Der Grund: Sie lebt mit einer funktionellen Hörstörung, deren Ursache psychogen ist. Das bedeutet, dass Betroffene Geräusche entweder vermindert oder gar nicht wahrnehmen, obwohl das Hörorgan an sich intakt ist. Gründe können Stress oder Traumata sein, oftmals ist die genaue Ursache, wie in Petrys Fall, jedoch nicht auszumachen. Das Symptom bleibt dennoch bestehen. Hörschädigungen betreffen sowohl Menschen mit einer psychogenen Hörstörung als auch jene, die durch ständigen Lärm, etwa in einer lauten Arbeitsumgebung, oder durch Altersschwerhörigkeit ihr Gehör ganz oder teilweise verlieren.

Die Ohren der Psyche

Obwohl das Spektrum der Hörstörungen sehr weit gefächert ist, ist die Form mit der Petry lebt besonders vorurteilsbehaftet. „Viele Menschen haben Probleme zu glauben, dass die Ursache auch psychisch sein kann“, sagt sie. Dabei ist die Verbindung zwischen Gehör und Psyche keineswegs eine Einbahnstraße. Wer nicht hören kann, geht anders durch die Welt, weil er vor anderen Herausforderungen steht. Alltägliche Situationen machen schon im Vorfeld Stress, da sie mehr Planung erfordern. Gespräche in Lautsprache werden schnell anstrengend. Jillian Petry erklärt ihre Erfahrung mit der Analogie eines Puzzles. Im Gespräch mit hörenden Personen versteht sie Worte und Sätze nur teilweise, ihr Hörverstehen variiert zusätzlich in Abhängigkeit von ihrer mentalen und physischen Verfassung. Ist sie ausgeschlafen und wenig gestresst, versteht sie mehr, nach einer kurzen Nacht und unter Zeitdruck bekommt sie weniger Wort-Puzzleteile an die Hand, um aus dem Gesagten ein entzifferbares Bild zu puzzeln.

Das ständige Ergänzen fehlender Informationen strengt das Gehirn an, dadurch wird es durch soziale Interaktionen schneller erschöpft. Vergleichen lässt sich dieses Gefühl mit einer Person, die eine Fremdsprache lernt und mit einem niedrigen Sprachniveau plötzlich in eine Situation kommt, in der sie einem Gespräch auf höherem Level folgen soll. Das Gehirn ist zwar mit genügend Kontextinformationen in der Lage Verständnislücken auszugleichen, das klappt allerdings nur, wenn es in guter Verfassung ist. Außerdem ist das auf Dauer sehr anstrengend. Für Jillian Petrys Eltern war es früher schwer zu verstehen, wieso einfache soziale Situationen ihr Kind oft ausgelaugt haben. „Es ist schwer nachzuvollziehen, was man selbst nicht erlebt hat“, sagt sie heute.

Die Anstrengung bleibt, selbst wenn sich das hörende Gegenüber alle Mühe gibt möglichst verstehbar zu sprechen, also klar und deutlich formuliert und sich mit dem Gesicht dem*der Gesprächspartner*in zuwendet. Deshalb ziehen sich viele Menschen mit einer Hörbehinderung aus ihrem Sozialleben zurück. Eine Isolation, die für Gehirn und Psyche negative Folgen hat: Ohne ausreichende zwischenmenschliche Interaktion nimmt das Risiko für Demenzerkrankungen zu und auch die Anfälligkeit für Depressionen ist bis zu viermal höher.

Die Zahlen

Laut dem „World Report on Hearing“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leben 1,5 Milliarden Menschen weltweit mit einer Hörminderung, 80 Prozent davon in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen. Bis 2050 wird sich die Zahl der betroffenen Menschen auf 2,5 Milliarden erhöhen, schätzt die WHO. Als vermeidbare Ursachen sind neben Erkrankungen und Infektionen wie Meningitis, Mittelohrentzündung und das Zika- und Cytomegalievirus, lärmbedingter Hörverlust, etwa durch Industrie, Verkehr oder zu laute Musik, Mangelernährung und das Gehör schädigende (ototoxische) Substanzen zu nennen. Unter letztere fallen Medikamente zur Behandlung bei Chemotherapie, bestimmte Schmerzmittel und auch Antibiotika. Arzneimittel gegen Krankheiten, die immer häufiger auftreten.

(Foto: Mark Paton/Unsplash)

Lange Zeit lagen für Luxemburg keine genauen Zahlen zu Hörschädigungen vor. 2023 wurden dann Daten aus der allgemeinen Volkszählung 2021 hierzu veröffentlicht. Danach leben 2,5 Prozent der Bevölkerung Luxemburgs mit einer Hörbehinderung, die meisten davon sind mittel oder schwer betroffen. Laut Jacques Bruch, dem Präsidenten des Vereins „Solidarität mit Hörgeschädigten“ (SmH), gibt es in punkto Schwerhörigkeit in Luxemburg zwei parallele Entwicklungen. „Die Technik hat sich verbessert. Das hat den Vorteil, dass mehr Menschen zum Arzt gehen und Hörgeräte bekommen. Auf der anderen Seite ist dadurch auch die Zahl der Patienten angestiegen.“ Früher wären die Geräte nur in der Lage gewesen die Dezibelzahl, also die Lautstärke, aller Geräusche zu erhöhen, was das Benutzen für die*den Träger*in häufig unangenehm gemacht hat.

Moderne Geräte sind dagegen nicht nur unauffälliger, sie bieten häufig durch eine begleitende App auch die Möglichkeit das Hören auf verschiedene Situationen, wie Gespräche, Musik, Naturerlebnisse, und so weiter einzustellen und filtern entsprechende Störgeräusche heraus. „Deswegen ist die Akzeptanz der Hörgeräte heute viel größer“, sagt Bruch. Trotzdem warten viele Menschen noch zu lange, bis sie sich helfen lassen. Ein fataler Fehler, denn eine frühzeitige Diagnose hilft, Hörverluste auszugleichen und Folgen wie sozialen Rückzug oder Stress zu vermeiden.

Mit dem Kommunikationszentrum in Beggen hat die SmH einen Begegnungsort für gehörlose und schwerhörige Menschen in Luxemburg geschaffen. Das Zentrum bietet Räume für Veranstaltungen, Beratungen und soziale Aktivitäten, um die Kommunikation und den Austausch innerhalb der hörgeschädigten Gemeinschaft zu fördern. Zudem bietet der Verein soziale Dienstleistungen, Informationen und Beratungen für Menschen mit Hörbehinderungen an. Dazu gehören auch Dolmetscherdienstleistungen in Gebärdensprache. Dafür stehen in Luxemburg jedoch nur drei Personen zur Verfügung. Sie müssen neben der hierzulande verwendeten deutschen Gebärdensprache auch die französische und luxemburgische Lautsprache beherrschen, die für viele Behördengänge nötig sind – was die Anforderungen an Dolmetscher*innen besonders hoch macht.

Sprachbarrieren

Verschiedene Sprachen zu lernen ist für Menschen mit Hörschädigungen eine besondere Herausforderung. Die allgegenwärtige Mehrsprachigkeit in Luxemburg erschwert vielen die Alltagskommunikation zusätzlich. Zwar haben besonders Menschen, die von Geburt an schwerhörig sind, gelernt zumindest unterstützend Lippen zu lesen, jedoch ist auch diese Art des Verstehens sprachenabhängig. Mit Schrecken erinnert sich Jillian Petry an Diktate und Hörverständnisübungen aus ihrer Schulzeit. „Viele Hörbeispiele im Unterricht hatten auch einfach eine furchtbare Audioqualität, undeutliche Aussprache und viele Hintergrundgeräusche.“ Ihren guten Notendurchschnitt habe sie nur mithilfe von viel Auswendiglernen halten können. Ihre schlechten Erfahrungen von damals sind der Grund, weshalb sie sich heute dafür einsetzt zur Lebenssituation von Menschen mit Hörschädigungen aufzuklären, um Vorurteile abzubauen und Verständnis zu fördern. Anfang des Jahres hat sie deswegen ein Buch mit dem Titel „Tomaten auf den Ohren“ herausgebracht.

In ihrer eigenen Schulzeit wurden ihr viele Hilfen beim Lernen von Inhalten, besonders beim Erlernen von Fremdsprachen verwehrt. Dies geschah mit dem Argument, sie habe sonst einen „unfairen Vorteil“. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass die Hilfe nur ein Mittel zur Erreichung von Chancengleichheit gewesen wäre. Angesichts der vielen negativen Erfahrungen, die sie auch mit Mitschüler*innen gesammelt hat, ist es verwunderlich, dass sie Jahre später als Grundschullehrerin zurück in das schulische Umfeld gegangen ist. Zum Glück, denn ihre Erfahrungen auf der anderen Seite lassen hoffen. „Die Kinder sind sehr offen für das Thema. Man merkt, dass sich gesellschaftlich etwas getan hat. Da liegen Welten dazwischen.“ In punkto Inklusion sieht sie dennoch viel Bedarf. Workshops zur Inklusion von Menschen mit Hörschädigung für Lehrpersonal sowie die Möglichkeit, die deutsche Gebärdensprache in der Schule zu lernen, könnten einen wichtigen Beitrag leisten. Vor allem aber geht es ihr darum, ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. „Wenn ein Kind nicht gut hört, ist es oft kein Nicht-Wollen, es ist ein Nicht-Können.“

Tomaten auf den Ohren. Das „Wie Bitte?“-Leben einer Schwerhörigen, Kreativary, 246 Seiten.

Bin ich betroffen?

Schwerhörigkeit entwickelt sich oft schleichend. Erste Anzeichen sind häufiges Nachfragen, undeutlich klingende Stimmen in lauter Umgebung oder das Bedürfnis, Fernseher oder Musik lauter zu stellen. Auch das Gefühl, dass andere nuscheln, kann darauf hinweisen. Wer solche Veränderungen bemerkt, sollte bei einer*einem Hörakustiker*in oder in einer HNO-Praxis einen Hörtest machen. Auch die Beratungsstelle des Vereins Solidarität mit Hörgeschädigten asbl bietet Rat und Informationen unter www.hoergeschaedigt.lu.

Die Sprachbanane

(© Helga Velroyen)

Die Sprachbanane beschreibt den Bereich im Audiogramm, in dem sich menschliche Sprache bewegt. Vokale wie „o“ und „u“ liegen in tiefen Frequenzen (500–700 Hz), während hohe Konsonanten wie „s“ und „f“ bis zu 8.000 Hz (8 kHz) reichen. Da Hörverlust oft bestimmte Frequenzen betrifft, kann es dazu führen, dass Betroffene bestimmte Laute nicht mehr hören und Wörter schwerer unterscheiden können. Der verdunkelte Bereich zeigt den Hörverlust bei einer beginnenden Altersschwerhörigkeit an. Moderne Hörgeräte sind darauf ausgelegt, diesen Bereich gezielt zu verstärken, um Sprache wieder verständlich zu machen – selbst in lauten Umgebungen. Wie Hörschädigungen sind auch Sprachbananen sehr individuell. Deshalb muss auch die Art und Wirkweise der Behandlung an die jeweilige betroffene Person angepasst werden. Die ausführliche Erklärung finden Sie unter www.doofe-ohren.de.


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