Die neue Mobilitätsstrategie bietet viele Lösungsansätze für das Problem der alltäglichen Staus, bleibt dabei jedoch überraschend zahm.
„Der Verkehr ist das Bindeglied zwischen den Dörfern, die am Tag leer sind, und den Städtezentren, die nachts leer sind. Der Stau ist der Haupttreffpunkt im öffentlichen Raum.“ Diese düstere Beschreibung der luxemburgischen Realität ist nicht etwa der hyperkritischen Sicht von Fahrradaktivist*innen oder Mouvement écologique entsprungen, sondern steht so in dem neuen Mobilitätsstrategiepapier „Modu 2.0“ des Nachhaltigkeitsministeriums. Das Dokument wurde am vergangenen Dienstag offiziell vorgestellt – zuerst der zuständigen Parlamentskommission, dann der Presse.
Gleich auf den ersten Blick offenbart sich, dass hier nicht nur ein Update jener Strategie vorgenommen wurde, die unter der Leitung des ehemaligen Infrastrukturministers und jetzigen CSV-Spitzenkandidaten Claude Wiseler erarbeitet worden war. Der trendige Kartonschuber, in dem das Ganze präsentiert wird, enthält nicht nur das Strategiepapier namens Modu 2.0, sondern auch sechs großformatige Poster. „Das Ganze ist sehr pädagogisch aufgebaut“, erläuterte François Bausch während der Pressekonferenz. Die Strategie selbst hat zumindest optisch nur noch wenig mit dem dichten, sehr technischen Bericht seines Vorgängers zu tun: Das Layout erinnert mit ganzseitigen Fotos, Infografiken, Erklärkästchen und herausgestellten Zitaten eher an ein Magazin.
Hippes Layout und echte Zahlen
Nach einer Beschreibung des aktuellen Zustands, die auf der Mobilitätserhebung Luxmobil beruht, werden kurz die Ziele für 2025 vorgestellt. Die umfangreichsten Kapitel beschreiben die „Werkzeugkiste“, die die Instrumente enthält, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen, und daneben die laufenden Projekte. Das Ministerium hat vier Gruppen von Akteur*innen bezeichnet, die alle getreu dem Motto „Mobilitéit zesummen erreechen“ ihren Beitrag zur Umsetzung einer nachhaltigen Mobilität leisten sollen: Staat, Gemeinden, Bürger*innen und Arbeitgeber*innen. Den Visionen, die am entfernteren Horizont des Jahres 2035 stehen, ist ein kleines Schlusskapitel gewidmet. Die neue Strategie mit den Bürger*innen zu diskutieren – vermutlich eher: sie ihnen zu präsentieren – beabsichtigt der Minister auch. Dabei könnte er allerdings auf schärfere Kritik stoßen, als sie bisher zu hören war. Die Reaktionen von CSV, ACL und Mouvement écologique sind eher vorsichtiges Lob.
Erste Ergebnisse der Luxmobil-Studie waren bereits Anfang Dezember 2017 vorgestellt worden; das entsprechende Kapitel von Modu 2.0 verrät dementsprechend wenig Neues. Zur Erinnerung: 69 Prozent der Wege entfallen auf den motorisierten Individualverkehr, 17 Prozent werden mit Bus oder Bahn zurückgelegt, 12 Prozent zu Fuß und lediglich 2 Prozent mit dem Fahrrad. Allerdings arbeitet das Nachhaltigkeitsministerium an einer weiteren Studie, die eine Art Kosten-Nutzenrechnung für die verschiedenen Transportmodi darstellt und deshalb auch externe Kosten wie Unfälle, Klima und Umwelt miteinbezieht. Nach diesen Berechnungen kostete der Personenverkehr im Jahr 2016 in Luxemburg 4,2 Milliarden Euro, wovon 31 Prozent von der Gesellschaft getragen wurden. Einzig die Fußgänger*innen und Radfahrer*innen sind „im Plus“: Pro Kilometer sparen sie der Gesellschaft beinahe sieben Cent. Anders als die Version von 2012 kann sich die aktuelle Ausgabe der Mobilitätsstrategie dank der Luxmobil-Erhebung auf echte, empirisch erhobene Zahlen stützen – eine echte Verbesserung, die der künftigen Verkehrspolitik auf jeden Fall zugute kommen wird.
Der Stau ist der Feind
Der alltägliche Autobahnstau, als einzig verbliebenes Zusammentreffen im öffentlicher Raum, wird in der Mobilitätsstrategie nicht nur als der Istzustand, sondern auch als das Hauptproblem präsentiert. Modu 2.0 setzt sich vier große Ziele, die allesamt den Eindruck erwecken, als ginge es einzig und allein darum, den Stau zu Spitzenzeiten zu bezwingen. Zwei der Ziele beschäftigen sich mit dem Modal Split, also der Verteilung der verschiedenen Verkehrsmittel. Die Arbeitswege sollen 2025 zu 65 Prozent (2017: 73 Prozent) mit dem motorisierten Individualverkehr zurückgelegt werden, und statt bisher 12 sollen 19 Prozent als Passagiere mitfahren – keine dramatischen Veränderungen also. Dementsprechend sind für öffentlichen Transport und aktive Mobilität auch nur dezente Steigerungen geplant: 22 statt wie bisher 19 Prozent der Arbeitswege sollen mit Bus, Tram und Bahn, vier statt zwei Prozent mit dem Rad und neun statt sechs Prozent zu Fuß bewältigt werden. Allerdings rechnet die Strategie auch mit einer Erhöhung des Verkehrsaufkommens um 20 Prozent – in absoluten Zahlen würde die Zunahme durchaus beachtlicher wirken.
Ein ambitionierteres Bild entwirft die Zielvorgabe für die Schulwege. Statt bisher 39 sollen 2025 nur noch 20 Prozent der Schüler*innen mit dem PKW in ihre Bildungsanstalt gelangen; statt zwei sollen volle zehn Prozent das Fahrrad benutzen. Auch beim öffentlichen Verkehr und den Fußwegen wird eine Steigerung angestrebt. Daneben soll, wie schon bei der Vorstellung der staatlichen Mitfahrzentrale „CoPilote“ angekündigt (siehe woxx.eu/copilot), der Besetzungsgrad der Automobile in Luxemburg auf durchschnittlich 1,5 Personen angehoben werden. Dies würde zwei Personen in jedem zweiten Fahrzeug entsprechen.
Das vierte Ziel ist es, den öffentlichen Transport attraktiver zu machen. 2025 soll nur noch einer von 100 Zügen ausfallen – aktuell ist es einer von 40 –, und die Zahl der offiziellen Verspätungen (länger als 6 Minuten) soll um ein Viertel sinken. Außerdem soll erreicht werden, dass Fahrten mit den neuen Express-Bussen schneller sind als mit dem Privatfahrzeug auf der gleichen Strecke. Ein Ziel für den globalen Modal Split wird nicht angegeben – außerhalb der Spitzenzeiten sollen die Luxemburger*innen wohl weiterhin nicht auf ihr liebstes Spielzeug verzichten müssen. Weitere Ziele sind zwar genannt, stammen aber aus externen Quellen – etwa dem Pariser Klimaabkommen, der UN-Behindertenkonvention oder dem Straßensicherheitsaktionsplan.
Die „Vision Zero“, also das Ziel keine Schwerverletzten und keine Toten mehr beklagen zu müssen, ist in Modu 2.0 zwar erwähnt – an konkrete Maßnahmen hierzu ist jedoch offenbar nicht gedacht. Luxemburg scheint auf dem guten Weg zu sein: 2017 ist die Zahl der Unfalltoten auf das Rekordtief von 25 Personen gesunken. Die Zahl der Schwerverletzten ist allerdings leicht gestiegen. Dank des vermehrten Einsatzes automatisierter Geschwindigkeitsüberwachung, der sogenannten „Radare“, wird vielleicht ein Mentalitätswechsel eintreten.
„Es ist illusorisch, zu glauben, jedes Mobilitätsproblem ließe sich mit noch und noch mehr Infrastruktur lösen. Neben dem Staat und den Gemeinden müssen auch die Bürger und Arbeitgeber ihren Teil dazu beitragen, um nachhaltige Mobilität umzusetzen“, erklärte Minister Bausch die Philosophie, die Modu 2.0 zugrunde liegt. Sie wird durch vier Punkte symbolisiert, die sich auch als Layout- elemente durch das Strategiepapier ziehen. Dementsprechend stellt das Dokument vor allem Werkzeuge vor, die die verschiedenen Akteur*innen nutzen können, um die Mobilität anders zu gestalten.
Werkzeugkoffer mit stumpfen Instrumenten
Tatsächlich jedoch sind die Möglichkeiten der Bürger*innen bei den Vorschlägen, die Modu 2.0 macht, ziemlich begrenzt. Die meisten von ihnen lassen sich nämlich so zusammenfassen: „Verschiedene Transportmittel ausprobieren und testen, was auf der eigenen Strecke am besten funktioniert“, garniert mit dem Hinweis, dass die Haltung eines eigenen Automobils teuer ist, die Nutzung des öffentlichen Transports, der Mitfahrgelegenheiten, und des Fahrrads aber vergleichsweise billig. Der praktischste Tipp ist da noch, die Gehwege freizuhalten, etwa von Mülltonnen oder wild wuchernden Hecken.
Allerdings werden Einzelne nur dann dazu angeregt werden auf den öffentlichen Transport oder das Fahrrad umzusteigen, wenn das Angebot stimmt. Das unterstreicht die Mobilitätsstrategie auch sehr schön mit einer Grafik, die darstellt, dass die Bereitschaft, auf das Rad umzusteigen, mit besserer Infrastruktur – sprich getrennte Radwege – stark wächst. An Ideen dafür, wie nachhaltige Mobilität gestaltet werden kann, ist in Modu 2.0 eigentlich kein Mangel: Fußgänger*innen-freundliche Ortschaften, Carsharing, Mitfahrgelegenheiten und Parkraumgestaltung werden genannt.
Für letztere werden zwar Maßnahmen vorgestellt, die zu weniger Verkehr und Flächenverbrauch führen könnten, eine wirkliche Reduktion ist jedoch nicht geplant. Dabei ist gerade das Parkplatzangebot oft der Faktor, der dazu führt, dass der motorisierte Individualverkehr attraktiver ist als die Alternativen. Das zeigen auch immer wieder erbitterte Kämpfe gegen die Parkraumbewirtschaftung oder die Beseitigung von Stellplätzen bei Neugestaltungen von Straßen. Hier verpasst es MoDu 2.0, Akzente zu setzen, und drückt sich an einer Erörterung der Schaffung finanzieller Negativanreize herum, obwohl diese ein äußerst wirksames Mittel sind. In Wien konnte mit der Einführung des „Parkpickerl“ die Parkplatz-Auslastung von 91 auf 66 Prozent gesenkt werden – wer für seinen Parkplatz zahlen muss, lässt das Auto dann doch oft lieber stehen.
Teilweise scheint die neue Version der Mobilitätsstrategie auch einer deutlichen Bewertung auszuweichen. Im Kapitel über Urbanismus und Verkehrsfluss werden zwei Stadtbilder vorgestellt: Eines, das den PKW bevorzugt und ein zweites, das Fuß- und Radverkehr favorisiert. Ein normatives Urteil darüber fehlt jedoch – vielleicht liegt das auch daran, dass in den Köpfen der Autor*innen glasklar ist, welches der beiden begünstigt werden muss. Ob jeder Schöff*innenrat des Landes das auch so sieht, ist eher fraglich.
„Unter den Netzen, die ähnlich groß sind, hat Luxemburg die billigsten Tarife in Westeuropa“, heißt es großspurig im Kapitel über den öffentlichen Transport. Verglichen wurde das Gesamtnetz in Luxemburg mit neun Großstädten; herangezogen wurden die Einzel- und Tageskarten für Strecken von 30 Kilometern. Ein recht unfairer Vergleich, da viele Verkehrsverbünde in Städten darauf setzen, attraktive Tarife für Monats- und Jahreskarten anzubieten. Mit 365 Euro für eine Jahreskarte ist das rot-grün regierte Wien bei Weitem günstiger zu befahren als das blau-rot-grün regierte Luxemburg. Hierzulande kostet das Jahresabo nämlich 440 Euro.
Nicht viele Neuigkeiten, dafür aber einen guten Überblick, liefert das Kapitel über die laufenden Projekte. Neben Evergreens wie der Landesplanung, der Elektromobilität, den telematischen Projekten der „Mobilitéitszentral“ und dem Carsharing werden hier auch viele Infrastruktur-Projekte vorgestellt. Zum Beispiel der Ausbau des Schienennetzes, die Erweiterung des nationalen Radwegenetzes, die Umgestaltung einiger Bahnhöfe und den Bau der Tramstrecke. „Das alles in dem geplanten Tempo umzusetzen, ist eine wahre Herkulesaufgabe!“, so Bausch.
Die Neuorganisation des RGTR-Busnetzes, die Express- und transversale Linien vorsieht, war bisher noch nicht veröffentlicht worden. Mit Straßenbauprojekten soll der Busverkehr zusätzlich fließender gemacht werden: Etwa mit einer speziellen Busspur zwischen Gonderingen und Kirchberg, die morgens in Richtung Luxemburg-Stadt und abends in Richtung Gonderingen benutzt wird. Oder mit einer exklusiven Spur für Busse und starkbesetzte PKWs auf der auszubauenden A3. Das entsprechende Kapitel ist im FAQ-Stil gehalten und gibt auch Antwort auf die Frage, was denn passieren würde, wenn sich der Verkehr auch auf der „High Occupancy Vehicle Lane“ staut. Die Antwort ist so simpel wie verblüffend: Dann müsste man die Mindestzahl der Passagiere von drei auf vier oder gar fünf erhöhen.
Vision 2035: Ein Luxemburg ohne Ösling
Am Ende des Modu 2.0-Dokuments werden die Projekte für 2035 vorgestellt. „Momentan laufen wir dem Stau hinterher. Es wird Zeit, dass wir vorausschauend planen und die Infrastruktur so ausbauen, dass sie mit der Entwicklung mithalten kann“, so Bausch. Die bereits angekündigte „schnelle Tram“ zwischen Luxemburg-Stadt und Belval ist so ein Projekt, ein engmaschigeres Straßenbahnnetz in der Haupstadt ein weiteres. So sollen auch Hollerich und das Centre Hospitalier angebunden werden. Obwohl die Nordstad als dritter Entwicklungspol angeführt wird, fehlen Visionen für die Gegend rund um Ettelbrück und Diekirch. Einer Nordstad-Tram oder einer Benutzung der Frachtzugstrecke zwischen Colmar-Berg und Bissen für den Passagiertransport erteilte der Nachhaltigkeitsminister auf der Pressekonferenz sogar eine konkrete Absage.
Wie Modu 2.0 bei den Bürger*innen – die künftig ihre Hecken zugunsten einer nachhaltigen Mobilität schneiden sollen – ankommen wird, wird François Bausch wohl erfahren, wenn er seine neue Strategie selbst vorstellt. Der Slogan „Diskutieren Sie mit François Bausch über Mobilität“, mit dem die Veranstaltungen beworben werden, wirkt allerdings wie Etikettenschwindel: Die Strategie ist ja schon fertig und die Details sind im sektoriellen Leitplan für den Transport versenkt.
Die Reaktionen aus der politischen Sphäre waren überwiegend vorsichtig, aber grundsätzlich positiv. Der Mouvement écologique begrüßt Modu 2.0 insgesamt, gibt aber zu bedenken, dass nun verbindliche Umsetzungsschritte entwickelt werden müssten, „denn sonst wird es bei einem reinen Ideenkatalog bleiben, der wenig Chancen auf Erfolg hat“, so die Umwelt-NGO in einer Pressemitteilung. Sie mahnt allerdings auch, die (kapitalistische) Wachstumslogik zu hinterfragen. Weniger rebellisch ist der Automobilclub ACL, der sich selbst als Mobilitätsclub versteht – man begrüße die neue Strategie grundsätzlich, fordere aber zusätzliche Investitionen für den Individualverkehr.
Dass dies eine realistische Möglichkeit bleibt, zeigt die wohl größte Schwäche von Modu 2.0 auf: Als echt Mobilitätsstrategie ist sie an vielen Stellen zu schwammig und zu wenig ambitioniert. Die Reaktion des CSV-Abgeordneten Marco Schank im Interview mit Radio 100,7 zeigt diese Ambivalenz ebenfalls: Auch wenn die nächste Regierung eine andere Zusammensetzung habe, sei Modu 2.0 ein nützliches Arbeitsinstrument. Vielleicht wird das ja das politische Vermächtnis Francois Bauschs sein: Er hat die im internationalen Vergleich recht unambitionierte Strategie seines Vorgängers umgesetzt und legt nun selbst eine vor, die auch von einer CSV-Regierung ohne allzuviel Bauchweh und ohne große Abänderungen umgesetzt werden könnte.