Rechtsextreme bei den EU-Wahlen: Strategischer Schulterschluss?

Wird ein prognostizierter Rechtsruck im Europaparlament tatsächlich zum Game Changer bis in die Exekutive hinein? Vieles hängt von der strategischen Machtposition rechtsextremer Politiker*innen wie Viktor Orbán und Giorgia Meloni ab – und davon, wie sie ihre Kräfte bündeln können.

Solo con Giorgia? Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, deren Partei „Fratelli d’Italia“ in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer im Europaparlament eine wichtige Rolle spielt, möchte dort als Machtfaktor unverzichtbar werden. (Foto: EPA-EFE/ANGELO CARCONI)

Making Europe great again. „Wir stehen am Vorabend einer entscheidenden Wahl“, sagt Giorgia Meloni am 19. Mai per Videoschalte, als sie vor einer in Madrid abgehaltenen Versammlung rechtsextremer und souveränistischer Parteien spricht. „Wir sind die treibende Kraft für die Wiedergeburt unseres Kontinents.“

Die Selbstsicherheit, mit der sie das sagt, kommt nicht von ungefähr. Sie ist nicht nur Ministerpräsidentin Italiens, sondern auch Vorsitzende einer der wichtigsten rechtsextremen Parteien Europas, der „Fratelli d’Italia“. Der Europäischen Union hat sie in den vergangenen Monaten gehörig ihren Stempel aufgedrückt.

Vielleicht der größte Erfolg, den sie einfahren konnte: der sogenannte Tunesien-Deal. Im Gegenzug für den Erhalt von insgesamt rund einer Milliarde Euro soll der autokratische Präsident Kais Saied der EU Flüchtlinge vom Hals halten und an der Fahrt übers Mittelmeer hindern. Meloni gelang es, das windige Abkommen als PR-Coup zu inszenieren. Mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war sie im Juni vergangenen Jahres als Teil eines „Team Europe“ (O-Ton von der Leyen) unter großer medialer Aufmerksamkeit nach Tunis gereist, um den von ihr miteingefädelten Deal unter Dach und Fach zu bringen. Spätestens seitdem gilt die Politikerin vielen als etabliert.

Nach ihrer Madrider Rede bekommt Meloni auch Beifall von Marine Le Pen. Die Gallionsfigur des französischen „Rassemblement national“ hat es sich nicht nehmen lassen, persönlich nach Madrid zu reisen, um an dem von der spanischen rechtsextremen Partei „Vox“ organisierten „Konvent der europäischen Patrioten“ teilzunehmen. „Nous sommes, tous ensemble, dans la dernière ligne droite pour faire du 9 juin prochain un jour de délivrance et d’espérance“, stimmt Le Pen in Melonis euphorisierte Rhetorik zu den am gestrigen Donnerstag begonnenen und noch bis Sonntag dauernden Europawahlen ein.

Der Konvent mit dem Titel „Europa Viva 24“ macht deutlich, wie viel bei den so unterschiedlich gestrickten rechtsextremen Parteien Europas inzwischen zusammengeht. Le Pens Rassemblement national gehört im Europaparlament zur Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID), während der Veranstalter Vox ebenso wie Melonis Fratelli zur Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformer“ (EKR) zählen. Beiden Gruppen wird für die Wahlen ein deutlicher Stimmzuwachs prognostiziert. Laut einer „Pollwatch“-Prognose vom 1. Juni werden die EKR auf 89 Sitze kommen (2019: 58 Sitze) und wären damit drittstärkste Kraft hinter der konservativen „Europäischen Volkspartei“ (EVP; 181 prognostizierte Sitze) und der „Progressiven Allianz der Sozialdemokraten“ (S&D; 139 prognostizierte Sitze). Die ID würde zwar de facto nur noch auf 63 Sitze kommen (2019: 73 Sitze), da sind aber die (prognostizierten 12) Sitze der vor kurzem aus der Fraktion geworfenen „Alternative für Deutschland“ (AfD) schon nicht mehr mitgezählt. Die AfD war in der ablaufenden Legislaturperiode mit 9 Sitzen im EU-Parlament vertreten und darf laut Prognosen ebenfalls auf zugewonnene Stimmen hoffen.

Längst hat sich der mögliche Durchmarsch der extremen Rechten bei den EU-Wahlen zu einem medialen Dauerbrenner entwickelt (siehe „Rechte profitieren weiter vom Credo der Alternativlosigkeit“ in woxx 1774). Vielfach ist von einem drohenden „beispiellosen Rechtsruck“ die Rede; auch über eine neue rechtsextreme „Superfraktion“ gibt es Spekulationen. Diese heizten Meloni und Le Pen gerne noch ein wenig an: „Jetzt ist der Moment, sich zu vereinen“, ließ sich Le Pen am Samstag vorvergangener Woche von der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ zitieren: „Wenn wir Erfolg haben, können wir die zweitgrößte Fraktion im Europäischen Parlament werden.“ Meloni versicherte tags darauf in einem Fernsehinterview, man habe gegenüber der ID-Fraktion keine Berührungsängste: „Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, Noten darüber zu vergeben, wer akzeptabel ist und wer nicht.“

Politikwissenschaftler*innen beurteilen die mögliche Bildung einer „Superfraktion“ angesichts unter Rechten umstrittener Themen wie der Haltung zu Russland und zur Homosexualität als wenig realistisch. Während sich beispielsweise in ID Parteien wie Geert Wilders’ „Partei für die Freiheit“ (PVV) versammeln, die für die Interessen von Schwulen und Lesben einzutreten verspricht, spielt bei den EKR die polnische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eine zentrale Rolle, die unablässig gegen queere Personen hetzt und sie während ihrer Zeit in der Regierung auch juristisch verfolgte.

Auch über eine neue rechtsextreme „Superfraktion“ gibt es Spekulationen – diese heizten Meloni und Le Pen gerne noch ein wenig an.

Und doch dürfte an solchen Themen eine Fusion kaum scheitern: Neben einer rigiden Migrationspolitik eint die extremen Rechten vor allem der Wunsch, den Einfluss der EU zurückzudrängen und die „nationale Souveränität“ zu wahren. Geschlechtergerechtigkeit und ähnliches wird man daher letztlich als Angelegenheit der jeweiligen Länder abtun. Auch die unterschiedlichen Positionen zu Russland müssen nicht zwangsläufig unvereinbar sein. Zwar wird ID als tendenziell pro-russisch eingestuft, während die EKR Russland scharf kritisieren und Sanktionen unterstützen. Der niederländische Politologe Cas Mudde wendet in einem aktuellen Artikel für die Zeitschrift „Intereconomics“ jedoch ein, die meisten in ID organisierten Parteien hätten ihre Position zu Russland seit dessen Invasion in der Ukraine geändert. Der Wissenschaftler Jakub Wodreys, der unter anderem das Abstimmungsverhalten der rechtsextremen Abgeordneten im EU-Parlament untersucht hat, schrieb im Oktober vergangenen Jahres in der Zeitschrift „Party Politics“, nur 44 von ihnen seien als „russlandfreundlich“ einzustufen. Zieht man zudem in Betracht, dass sich die EKR seit Monaten um den prorussischen Viktor Orbán und dessen seit dem Bruch mit der EVP fraktionslose Partei Fidesz bemüht, wirkt es noch unwahrscheinlicher, dass das Thema zum allentscheidenden wird. Selbst die polnische PiS, die europaweit mit am lautesten gegen die Politik Russlands eintritt, hat ihre prinzipielle Bereitschaft zur Aufnahme von Fidesz in die EKR signalisiert.

Orbán selbst hat die Idee einer „Superfraktion“ in einem Interview mit dem französischen „Le Point“ in der vergangenen Woche ausdrücklich unterstützt. „Die Zukunft der Rechten in Europa liegt in den Händen zweier Frauen“, sagte er dem Magazin und meinte damit Meloni und Le Pen: „Wenn es ihnen gelingt zusammenzuarbeiten, im Rahmen einer Fraktion oder Koalition, dann wären sie eine Macht für Europa“. Diese könne sogar ausreichend sein, die europäische Rechte neu auszurichten und die EVP zu ersetzen, so der ungarische Premierminister.

Er selbst hat einen Beitritt zur EKR-Fraktion bereits vor Monaten in Aussicht gestellt. Das könnte nicht nur im EU-Parlament für Wirbel sorgen, sondern auch darüber hinaus die europäische Politik erschüttern, meint Cas Mudde und spricht von einem möglichen „Game Changer“, insbesondere, falls einige von Orbáns regionalen Verbündeten seinem Beispiel folgen: „Die tschechische ANO von Andrej Babiš, die slowenische SDS von Janez Janša und die slowakische Smer von Robert Fico stehen alle innerhalb ihrer derzeitigen Fraktionen – Renew (die liberale Fraktion; Anm. d. Red.), EVP beziehungsweise S&D – unter Druck und sind zunehmend euroskeptisch und Orbán-nah. Sollte dies geschehen, könnte die neue rechtsextreme Fraktion nicht nur die größte Fraktion im neuen Europaparlament werden, sondern auch ein wichtiger Akteur im Europäischen Rat und (möglicherweise) in der Kommission.“

Nicht nur Orbán sucht den strategischen Schulterschluss. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen macht Meloni und Co. Avancen, für den Fall, dass sie von den Mitte-Links-Parteien und den Liberalen nicht mehr ausreichend Unterstützung bekommt. Eine Kooperation mit den EKR hänge davon ab, wer nach den Wahlen Teil dieser Fraktion sei, sagte sie bei einer Wahldebatte Ende April in Maastricht. Während einer Fernsehdebatte der „European Broadcasting Union” Ende Mai auf Melonis LGBTIQA+-feindliche Politik angesprochen, meinte von der Leyen nur, sie verfolge einen „komplett anderen Ansatz“. Sie beharrte aber darauf, ohne die Unterstützung der Italienerin sei Europa schwächer: „Sie ist eindeutig pro-europäisch, gegen Putin, das hat sie sehr deutlich gesagt, und für die Rechtsstaatlichkeit – wenn das so bleibt, dann bieten wir eine Zusammenarbeit an.“ Hingegen seien die Grünen bei Abstimmungen kein verlässlicher Partner.

Die wiederum ließen keinen Zweifel, dass sie für eine Koalition, an der auch die EKR als Mehrheitsbeschaffer beteiligt sind, nicht zur Verfügung stehen. Gemeinsam mit Renew, S&D und den Linken (GUE/NGL) hatten sie sich schon Anfang Mai schriftlich zu einem „Cordon Sanitaire“ bekannt. Giorgia Meloni sei rechtsextrem, bekräftigte S&D-Spitzenkandidat Nicolas Schmit (LSAP) vergangenen Mittwoch in einem Interview mit dem Luxemburger „Tageblatt“: „Sie führt in Europa einen Diskurs, der, wenn sie in Brüssel ist, relativ moderat ist. Wenn sie aber in Italien oder bei ihren Freunden der extremen Rechten ist, dann redet sie wie alle anderen der extremen Rechten.“ Von der Leyen wolle Glauben machen, dass es gute und schlechte Rechtsextremisten gibt, so Schmit über seine Konkurrentin von der EVP.

„Die Zukunft der Rechten in Europa liegt in den Händen zweier Frauen.“ (Victor Orbán)

Ob die sich von derlei Kritik beeindrucken lässt, ist fraglich. Für von der Leyen geht es zunächst darum, von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten wieder für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin nominiert zu werden. Die zweite Hürde besteht dann darin, mit einer absoluten Mehrheit im EU-Parlament gewählt zu werden.

Dass von der Leyen der EKR so offen Avancen macht, bringt diese in eine komfortable Rolle. Unter Melonis Führung müsste sich die Fraktion nicht zwingend zwischen einer Anbindung an die EVP oder an ID entscheiden. Aktuelle Prognosen lassen erstmals in der Geschichte des Europaparlaments eine rechte Mehrheit als möglich erscheinen, wenn man neben EVP, EKR und ID auch an einige Sitze der Fraktionslosen denkt. Eine sich als ‚hybrid’ verstehende EKR-Fraktion könnte Kräfte aus ID, Orbáns Fidesz, sowie Fraktionslose und Abtrünnige anderer Fraktionen einbinden, um sich auch ohne Superfraktion zugleich der EVP als Mehrheitsbeschaffer an- bieten.

Francesco Nicoli, Politikwissenschaftler vom Brüsseler Thinktank „Bruegel“, gibt zu bedenken, dass die Gründung einer solchen auch auf die Zeit nach der Wahl des EU-Kommissionspräsidiums, die vermutlich Mitte September stattfinden wird, verlegt werden könnte. Von der Leyen habe dann gegebenenfalls die Möglichkeit, sich sowohl die Stimmen der Rechten als auch die der Mitte-Links-Parteien zu sichern. Auf diese Weise kann sich Meloni bei von der Leyen, die ihr in Tunis die Steigbügel gehalten hat, revanchieren, und hat sie nachher womöglich in der Hand.

Wie auch immer das Spiel um von der Leyen ausgehen wird: Der Gewinner der Wahlen wird wohl eine im Europaparlament erstarkte Rechte sein. Nicht nur die EKR, auch der rechte Flügel der EVP kann dann mit den prognostizierten neuen Machtverhältnissen spielen; etwa mit der Drohung, eine unliebsame Politik durch Kooperation mit den extremen Rechten zu torpedieren. Es bedarf nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, was das migrationspolitisch und für Klimaschutzprojekte wie den „European Green Deal“ bedeuten wird.

Die Europawahlen seien Wahlen „zweiter Ordnung“, wird von Wissenschaftlern wie Cas Mudde immer wieder betont: weil die beiden Exekutiv- organe, der Europäische Rat und die EU-Kommission, vollständig respektive weitgehend unabhängig von den Entscheidungen des zu wählenden Europaparlamentes sind. An der knallhart auf Abschottung ausgerichteten Migrationspolitik, die von dieser Exekutive – von der Kommission und den im Rat versammelten Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten – vorangetrieben wird, zeigt sich beispielhaft, wie sehr in Europa bereits eine rechte Agenda dominiert (siehe den Artikel „Um Solidarität oder um Sicherheit bemüht?“ in dieser Ausgabe). Insofern würde mit dem vorausgesagten Rechtsruck bei den EU-Wahlen nur ratifiziert, was in vielerlei Hinsicht längst zur bitteren Realität geworden ist.


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