Reflexionen über Corona und die ökologische Situation des Menschen

Ein paar – mehr oder weniger philosophische – Gedanken darüber, wie uns die Krise uns dazu bringen kann, unsere Lebensweise auf den Prüfstand zu nehmen.

CC BY-SA 3.0 / Haeferl

Schlimmes steht in Folge der Corona-Pandemie zu befürchten. Es werden viele sterben, und viele werden in eine deutlich schlechtere Situation geraten als zuvor. Die unmittelbaren Gefahren für die Gesundheit sind das Erste, was Beachtung findet. Zudem könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen auf einzelne und die Gesamtsituation schlimm bis verheerend ausfallen. Drei- bis sogar vierstellige Milliardenbeträge zur Unterstützung der Wirtschaft werden in vielen Ländern erwogen. Bei all dem droht die sozio-ökonomische Schere der Ungleichheit noch weiter auseinanderzugehen und viele Lasten werden schleichend ‚privatisiert’. Wer aufgrund privater Ressourcen seine Arbeit und die Kinderbetreuung gut zuhause bewältigen kann, ist nun im Vorteil. Schließlich wird auch die europäische Solidarität in der EU auf eine harte Probe gestellt werden, und dringende Aufgaben an anderen Stellen – wie z.B. die in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge human zu versorgen – werden zu kurz kommen. Schlechte Aussichten, und das Ende ist noch nicht in Sicht. Allerdings auch Hoffnungsvolles, da an vielen Stellen sowohl im Kleinen als auch auf der großen, internationaler Ebene solidarische Initiativen ergriffen werden, die sogar Gewohnheitszyniker zum Staunen bringen.

Gibt es hier ein Potential für Einsichten?, könnte man fragen. Natürlich werden sich praktische Lehren für die Bewältigung eventueller weiterer Epidemien o.Ä. ergeben. Man wird solche Lernvorgänge vor allem nach einer Beruhigung der Lage, die in x Monaten eintreten wird, in Angriff nehmen können. Schon jetzt kann man versuchen, bestimmte grundsätzliche Fragen zu diskutieren, wie z.B. die Ethik der sogenannten Triage oder das erkenntnistheoretische Problem der Verlässlichkeit von Expertenaussagen. (1) Kann die Situation darüber hinaus noch eine interessante Einsicht zu Tage fördern – vielleicht auch eine eher grundsätzliche Einsicht?

Ich meine, eine Einsicht liegt eigentlich auf der Hand. Wir haben – mal wieder – unsere natürlichen Grundbedingungen aus den Augen verloren. Anthropozän ja, da befinden wir uns. Die Überraschung über die gegenwärtige Pandemie aber war groß, sehr groß. Warum eigentlich? Hatten wir vergessen, dass es neue und alte Viren gibt, die todbringend sein können? Wir scheinen uns die ökologische Brille für unsere eigene Lebenssituation noch nicht richtig zu eigen gemacht zu haben. Selbstverständlich sind wir auf günstige Lebensbedingungen angewiesen. Selbstverständlich brauchen Menschen frische Luft und sauberes Wasser. Und selbstverständlich kann menschlicher Kontakt zur Ausbreitung von Krankheiten führen. Das Unverständnis, auf das manche Maßnahmen im Zuge der Pandemie bei manchen stoßen, lässt ein grundsätzlicheres Unverständnis vermuten, das sich in eher diffuser Weise wohl im gegenwärtigen kollektiven Bewusstsein eingenistet hat. Es gibt eine große Lehre: sich voll und ganz klar zu machen, dass wir in ein Ganzes von Lebens- und Umweltprozessen eingeflochten sind, die wir einschlägig mitprägen mögen, aber von denen wir immer grundlegend abhängig sind. Menschsein ist ein Teil dieses einen natürlichen Ökoraumes und nichts, was grundsätzlich diesen Raum übersteigen könnte.

Fragile Vernetzung

Die Pandemie entwickelt sich vor dem Hintergrund einer globalen Vernetzung, die sich nun als höchst fragil erweist. Im Zuge der Globalisierung sind Strukturen geschaffen worden, die an seidenen Fäden hängen, und ein kleiner Riss an einer Stelle führt zu einer lawinenartigen Ausbreitung von Unterversorgung, Stillstand oder Aufhäufung und den damit einhergehenden Verlusten. Vorbauende Stabilisierungsmaßnahmen sind strukturell versäumt worden. Hinter dieser Anfälligkeit steckt ebenfalls ein Unverständnis, ein Unverständnis für die Schwierigkeiten, welche die Globalisierung für den Menschen darstellt, der zunächst einmal nicht global tickt, sondern auf eine eher regionale Lebensweise ausgerichtet ist. Die Corona-Krise erinnert uns an die vergessene oder verdrängte Fragilität menschlicher Existenz. Aber außerdem steht unser mangelndes Bewusstsein von der ökologischen Einbettung und Interaktion des Menschen mit den anderen Lebewesen und dem Anorganischen noch mit dieser Krise in einem kausalen Zusammenhang. Denn dieses geringe ökologische Bewusstsein ist es, das uns das Gespinst der globalen Verflechtungen hat schaffen lassen, welches die strukturelle Hintergrundsursache darstellt, auf deren Boden nun die proximale Ursache einer Virenübertragung von wilden Tieren auf den Menschen überhaupt erst die gegenwärtigen Ausmaße annehmen kann. Mehr oder weniger blind für die vielfältigen mutuellen Abhängigkeiten haben wir in Form einer Welle kurzfristiger, inkrementeller Schritte ein Kartenhaus von Subsystemen geschaffen, das nun teilweise einstürzt und an anderen Stellen deutlich einsturzgefährdet ist. Daher ist die größte grundsätzliche Lehre, die sich schon jetzt aus der Corona-Krise ziehen lässt, die Einsicht, dass wir eine umfassendere ökologische Perspektive auf den Menschen und seine natürliche Basis einnehmen sollten.

Wir wissen inzwischen zum Glück deutlich mehr über das Zusammenleben von Mensch und Tier als noch die alten Römer. Mehrere Epidemien zwischen dem dritten und sechsten Jahrhundert haben vermutlich beim Niedergang des römischen Reiches eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. (2) Andere Kulturen, wie z.B. die Anasazi,  haben sehr wahrscheinlich auch aufgrund von mangelnder ökologischer Einsicht ihre eigenen Lebensgrundlagen untergraben. Es sollte uns endgültig klar sein, dass wir schnell dafür zu sorgen haben, die natürlichen Bedingungen, innerhalb derer wir leben, immer mitzudenken. Sie sind nicht ein Faktor unter vielen, sondern der entscheidende Rahmen für alles andere.

Die Menschen sind sehr unterschiedlich. Auch das ist Teil dieser Lebensform, und zwar ein wichtiger. Aber Menschen haben generisch aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte einige Merkmale und Dispositionen, die nicht so ohne weiteres ignoriert werden können. Das macht es z.B., dass wir eher fünf als fünfzig Vertraute haben und dass wir einander im persönlichen Kontakt, der in der ganzen Wahrnehmung des Kontextes eingebettet ist, besser verstehen als vermittelt über Facebook oder Webex. Einige Merkmale können rasant verändert werden. Ein generalisierender Schluss auf alle wäre fatal. Die natürlichen Basisbedingungen der humanen Ökologie, sowohl physiologischer als auch psychologischer Art, können nicht ausgeblendet werden, wenn es um die humane Weitergestaltung der menschlichen Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten geht, wie z.B. bei der anstehenden Digitalisierung. Wenn der Mensch im Mittelpunkt stehen soll – wie es der ‚human-centric focus’ der digital Luxembourg initiative zu Recht vorsieht –, dann geht es auch darum, die humane Ökologie in ihrer Vernetztheit mit materiellen und organischen Faktoren als Maß der Dinge zu begreifen. Wir könnten die Möglichkeiten einer Digitalisierung in diesem Sinne nutzen, um der menschlichen Ökologie angemessenere Systeme des Wirtschaftens und Lebens aufzubauen. Auf die eine oder andere Gewohnheit, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte als quasi ‚selbstverständlich’ eingespielt hat, wird man verzichten können. Der menschliche Verlust, den die Corona-Epidemie verursacht, könnte uns motivieren, unsere Lebensweise noch einmal gründlich auf den Prüfstand zu stellen.

(1) Diese erkenntnistheoretische Frage behandelt Thomas Grundmann in seinem Artikel „Wer verdient Vertrauen?“ (FAZ vom 3. April 2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-experten-wer-verdient-vertrauen-16708941/derzeit-ein-viel-gefragter-16709514.html). Die ethische Problematik der Triage diskutiert z.B. Bettina Schöne-Seifert in ihrem Artikel „Wen soll man sterben lassen?“ (FAZ vom 31. März 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/konflikte-wegen-corona-wen-soll-man-sterben-lassen-16703671.html).

(2) Diese These wird von dem Historiker Kyle Harper vertreten. Eine hilfreiche Besprechung seiner und anderer Arbeiten dazu findet sich in dem Artikel „The plagues that might have brought down the Roman Empire“ von Caroline Wazer in der Zeitschrift The Atlantic, Ausgabe vom 16. März 2016 (https://www.theatlantic.com/science/archive/2016/03/plagues-roman-empire/473862/).

Der Autor ist Professor für systematische Philosophie an der Université du Luxembourg.


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