Russlands Krieg gegen die Ukraine: Putins Kalkül

Viele fragen nach dem Sinn, den es macht, dass Wladimir Putin nun doch Krieg gegen die Ukraine führt. Die Antwort liegt im politischen System, das er geschaffen hat.

Putins Krieg gegen die Ukraine ist nicht zuletzt eine Nachricht an die eigene Bevölkerung. (Bildquelle: EPA-EFE/Anatoly Maltsev)

Nun hat er es also tatsächlich getan: Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Donnerstagfrüh mit einer Militäroffensive gegen die Ukraine begonnen. Seinen gegen internationales Recht verstoßenden Angriff auf einen souveränen Staat hatte er wenige Tage zuvor mit der Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk auf ukrainischem Staatsgebiet eingeleitet.

Es war kaum vorhersagbar, ob Putin eines der im Raum stehenden Eskalationsszenarien tatsächlich wahr machen würde. Blamiert scheinen nun all jene, die sich überzeugt wussten, dass es zur jetzigen Situation nicht kommen wird.

Dabei gab es durchaus gute Gründe, so zu argumentieren. Da sind zum einen die Kosten, die mit einer großangelegten Militäraktion verbunden sind. Zum anderen wird spekuliert, ob Russland eine Invasion der Ukraine militärisch dauerhaft bewältigen kann. Ungeachtet der russischen Überlegenheit werde ein solcher Krieg erstens blutiger verlaufen als etwa die Annexion der Krim. Zweitens werde es nicht möglich sein, im ganzen Land nach dem Vorbild der bereits seit 2014 besetzten Gebiete im Donbass ein Machtgefüge zu installieren, in dem lokale Bandenchefs mithilfe russischer Militärberater herrschen. Ein regelrechtes Besatzungsregime werde daher vonnöten sein.

Argumente wie diese sprachen dafür, eine weitere Eskalation für unwahrscheinlich zu halten. Sie verkannten den russischen Präsidenten und das von ihm geschaffene System jedoch an einem entscheidenden Punkt: Sie haben ihm ein rationales Kalkül unterstellt.

Nicht zufällig mehren sich derzeit die Analysen, in denen die gesundheitliche Verfassung Wladimir Putins zum Thema wird. Der inhaftierte russische Oppositionelle Alexej Nawalny bezeichnete ihn bereits vor einem Jahr als „psychisch krank“. Doch so sehr dies vielleicht manche seiner jüngsten Entscheidungen in einem anderen Licht erscheinen ließe: Putins Handeln lässt sich nicht aus einer individuellen Pathologie erklären, sondern aus der Spezifik des von ihm geschaffenen politischen Systems.

Oft wird dieser Tage die Geschichtsvergessenheit kritisiert, die außer Acht gelassen habe, wie konsequent die Nato-Staaten in den vergangenen 30 Jahren russische Sicherheitsinteressen missachtet hätten. Putin jedoch hat sich nicht erst 2007 enttäuscht von sogenannten westlichen Werten abgewandt, wie man unter Verweis auf seine damalige Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz glauben machen will. Unmittelbar nachdem er im Jahr 2000 das Erbe Boris Jelzins angetreten hatte, machte sich der neue Präsident der Russischen Föderation daran, alle dort existierenden rechtsstaatlichen Strukturen im Eiltempo gründlichst zu zerschlagen.

Putins Handeln lässt sich nicht aus einer individuellen Pathologie erklären, sondern aus der Spezifik des von ihm geschaffenen politischen Systems.

An deren Stelle schuf er die von ihm so genannte „Vertikale der Macht“, die im Kern aus einem informellen Klientelsystem besteht. Putin sitzt an dessen Spitze, von wo aus er die Interessenkonflikte der konkurrierenden Machtgruppen in Schach hält und moderiert. Zerstört wurden dadurch jedoch nicht nur nahezu alle demokratischen Instanzen, sondern auch die geregelte Ordnungsstruktur des Staates selbst. Die Stabilität des auf der Verteilung von Öl- und Gasrenten basierenden „Systems Putin“ ist hochgradig prekär.

Wenn Putin sich nun völkerrechtswidrig über einen souveränen Staat hermacht, ist das also kein Ausdruck russischer Sicherheitsinteressen. Vielmehr bedarf er einer permanenten Eskalation nach innen wie nach außen, um seine Machtposition aufrechtzuerhalten. Schon im Jahr 2011 beurteilte der Politikwissenschaftler Robert Horvath die russische Außenpolitik als zentral innenpolitisch motivierte „präventive Konterrevolution“. Mit ihr soll die Opposition kaltgestellt, die verschiedenen Machtfraktionen auf Linie gebracht und öffentliche Zustimmung organisiert werden. Ein Kalkül, das, wie jetzt erneut zu beobachten ist, einer irrationalen und letztlich selbstzerstörerischen Dynamik folgt.

Den Preis dafür müssen diesmal die Menschen in der Ukraine bezahlen, die nun Gefahr laufen, ihre zur Verhandlungsmasse herabgesunkene Freiheit zu verlieren.

Eine längere Analyse des Systems Putin in unserem Dossier aus dem Jahr 2017: Die Souveränität der Seilschaften.

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