Der Jahresbericht von ILGA-Europe macht klar: Europa ist gespalten, was die Haltung gegenüber LGBTIQA+ -Menschen angeht, und Musterschüler Luxemburg rutscht vom Siegertreppchen. Kein Grund zur Panik, finden die EU-Abgeordneten Tilly Metz und Marc Angel sowie Mylène Porta vom Centre LGBTIQ+ Cigale.
Die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association Europe (ILGA-Europe) hat Mitte Februar ihren Jahresbericht veröffentlicht. Die Organisation analysiert darin unter anderem die Rechtslage von LGBTIQA+ -Menschen und erstellt eine entsprechende Rangliste. Luxemburg besetzte seit 2019 den dritten Platz. Dieses Jahr verpasst das Großherzogtum das Siegertreppchen und fällt hinter Malta, Dänemark und Belgien zurück.
Die luxemburgischen Europaabgeordneten Tilly Metz (Déi Gréng) und Marc Angel (LSAP) – beide sind Mitglied der LGBTI Intergroup des EU-Parlaments, Angel ist Co-Vorsitzender – reagieren gelassen darauf. Metz nennt das Ergebnis „super“, Angel „immer noch top“. „Der Platzverlust hat mich nicht besonders traurig gemacht“, sagt er. Mylène Porta, Fortbildungsbeauftragte und Sonderpädagogin beim Centre LGBTIQ+ Cigale, wertet Luxemburgs Ergebnis gar als positives Zeichen: Das bedeute im Umkehrschluss, dass andere Länder aufholen. Sie verweist außerdem darauf, dass sich die Rechtslage von LGBTIQA+ -Menschen in Luxemburg im vergangenen Jahr nicht verschlechtert hat. „Der Wert liegt nach wie vor bei 72 Prozent, was nicht verhindern soll, dass wir uns in den kommenden Jahren verbessern“, merkt sie an.
Fortschritt im Schneckentempo
Schaut man sich die Ergebnisse der Vorjahre an, fällt auf, dass sich die Situation in Luxemburg seit Beschluss des aktuellen Koalitionsvertrags nur schleppend positiv verändert hat. Allein der Sprung von 2018 auf 2019 ist nennenswert: Galten 2018 in Luxemburg nur 47 Prozent bestehender Gesetze und Richtlinien, die LGBTIQA+ -Personen unterstützen und schützen, betrug dieser Wert nur ein Jahr später 70 Prozent. Anschließend stagnieren die Fortschritte der Regierung. Tilly Metz will die Kritik, Luxemburg ruhe sich auf seinen Lorbeeren aus, jedoch nicht gelten lassen. „Man muss zugeben, dass die aktuelle Regierung in diesem Bereich mehr erreicht hat, als jede andere zuvor“, sagt sie. „Seit der Einführung der Ehe für alle im Jahr 2015 haben wir viele Fortschritte gemacht, auch im Bereich Antidiskriminierung auf dem Arbeitsplatz.“
Trotz anerkennendem Schulterklopfen für die Regierung sind sich Angel, Metz und Porta einig, dass es auch hierzulande noch Luft nach oben gibt. Mylène Porta führt ein Beispiel für die strukturelle Diskriminierung von LGBTIQA+ -Menschen an: „Wir begrüßen, dass Personen selbstbestimmt ihren Geschlechtseintrag ändern können, und doch ist es bedauerlich, dass die Ordnung binären Mustern – männlich, weiblich – folgt.“ Angel spricht im Hinblick auf Verbesserungen vor allem über das Verbot geschlechtsangleichender Operationen bei intersex Kindern und verweist auf den aktuellen Koalitionsvertrag: Dort ist ein entsprechendes Gesetz vorgesehen, das laut dem EU-Politiker bald umgesetzt werden soll. ILGA-Europe weist in ihrem Jahresbericht weitere Baustellen auf. Die Regierung soll die Bestimmungen zur Blutspende unabhängig der Sexualkontakte der Spender*innen vereinheitlichen, die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare automatisch anerkennen und Konversionspraktiken explizit verbieten. Das sind drei Forderungen, die ILGA-Europe seit Jahren an Luxemburg stellt.
In die Dossiers Elternschaft und Blutspende kam seit geraumer Zeit Bewegung, sowohl auf EU-Ebene als auch in der Nationalpolitik. Im September 2021 verabschiedete das Europaparlament einen Entschluss, nach dem die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare europaweit anerkannt werden soll. Seit Januar 2021 ist es Männern, die in den letzten zwölf Monaten mit einem Mann geschlafen haben, in Luxemburg möglich, Blutplasma zu spenden. Die Begründung: Plasma lässt sich länger aufbewahren und in Quarantäne halten. Blut dürfen Männer, die Sex mit Männern haben, aber weiterhin nicht abgeben, wie die woxx bereits berichtete. Informationen zu Konversionspraktiken in Luxemburg liegen derweil nicht vor. Die Aussicht auf ein explizites Verbot ist ungewiss. Tilly Metz und Marc Angel fänden es als vorbeugende Maßnahme gut, auch wenn beiden keine nationalen Fälle bekannt sind.
Prekarität und Diskriminierung
Für Mylène Porta ist es in jedem Fall wichtig, zwischen Rechtslage und Lebensrealität zu unterscheiden. „Ein Teil der LGBTIQA+ -Menschen, denen wir begegnen, leben in prekären Verhältnissen. Manche wurden von ihrer Familie verstoßen, haben keine Arbeit und befinden sich in finanziellen Notlagen, hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche“, sagt sie. „Andere können im Falle von Depressionen, die durch ein schweres Coming-out bedingt sind, kein Geld für psychologische Unterstützung aufbringen. Es gibt zwar finanzielle Hilfsangebote, doch diese Prozesse sind langwierig und die Pandemie hat sie zusätzlich verlangsamt.“ Auch im Zusammenhang mit der Anerkennung beider Elternteile in gleichgeschlechtlichen Beziehungen fehle es den Betroffenen manchmal an finanziellen Mitteln, um sich von Anwält*innen beraten und vertreten zu lassen.
Oft käme es aber auch in Alltagssituationen zu Diskriminierungen, etwa wenn eine trans Person der Neugier anderer Menschen ausgesetzt sei, die ihren Körper anfassen wollen, oder sie vor der Namensänderung auf der Bank und anderen Dienststellen mit ihrem „Deadname“ (An.d.R.: bezeichnet bei einer Person, die einen neuen Vornamen angenommen hat, den alten, von ihr nicht mehr verwendeten Vornamen) angesprochen werde. „Die junge Generation ist LGBTIQA+ -Menschen gegenüber aufgeschlossener, doch auch unter ihnen kommt es in Chatgruppen und im Unterricht zu Diskriminierung“, stellt Porta fest.
Diese Aussage deckt sich mit den Ergebnissen von ILGA-Europe. Die Organisation schreibt in ihrem Jahresbericht von europaweiten Angriffen auf LGBTIQA+ -Personen. Die Vorfälle nähmen in allen Regionen zu, allein in Deutschland um 39 Prozent. ILGA-Europe bringt diesen Allgemeinzustand unter anderem mit der LGBTIQA+ -feindlichen Rhetorik verschiedener Lokalpolitiker*innen zusammen, wie beispielsweise in Ungarn.
Gleichzeitig beobachtet die Organisation, dass die Solidarität mit LGBTIQA+ -Menschen in der Bevölkerung und auf EU-Ebene steigt. Sie führt eine Studie an, die Amnesty International Hungary und die Háttér Society, eine ungarische Organisation zur Verteidigung von LGBTIQA+ -Rechten, 2021 in Auftrag gaben: „73 percent of Hungarians reject the government’s false claim that gay and lesbian people abuse or harm children. A clear majority of Hungarian society (74,5 percent) believe that transgender people should be able to change their gender and name in their official document, while 59 percent support same-sex marriage.“
Geht der Schuss nach hinten los?
Doch auch die Diskrepanz zwischen konservativ geführten Regierungen und anderen EU-Mitgliedsstaaten ist auffällig: Das Europäische Parlament machte letztes Jahr immer wieder klar, dass es das diskriminierende Verhalten von Ungarn und Polen ablehnt. Die Abgeordneten ernannten die EU unter anderem zur LGBTIQ Freedom Zone, als Antwort auf LGBT-freie Zonen in polnischen Gemeinden. Die betroffenen polnischen Städte wurden finanziell sanktioniert, was einige dazu bewegte, die Bezeichnung aufzuheben. Selbst in den Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen spielt die Haltung gegenüber LGBTIQA+ -Menschen eine Rolle, sagte Marc Angel im Gespräch mit der woxx. All das hielt die ungarische Regierung 2021 jedoch nicht davon ab, unter anderem ein Gesetz gegen die Sichtbarkeit homosexueller und trans Menschen in Formaten, die Minderjährigen zugänglich sind, zu verabschieden und es in einem Gesetz gegen Pädophilie festzuhalten.
Darauf angesprochen, ob das einmal mehr die Grenzen der Europapolitik aufzeige, verweisen Angel und Metz auf eine Direktive gegen Diskriminierung, die dem Europarat seit 2009 vorliegt. Die Direktive soll – in der Kurzfassung – zu einem verbesserten Schutz gegen Diskriminierung beitragen und die Mitgliedsstaaten dazu anhalten, unter anderem die sexuelle Orientierung in nationale Gesetzgebungen gegen Diskriminierung einzubinden. Der Prozess stockt seit Jahren wegen Unstimmigkeiten. Angel und Metz halten das beide für einen Skandal. Die Verabschiedung der Direktive würde auch konservative Regierungen zur fristgerechten Umsetzung veranlassen, da sie sich sonst schadensersatzpflichtig machen.
Liest man sich den Jahresbericht von ILGA-Europe durch, drängt sich am Ende eine weitere Frage auf: Gießen die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und symbolischen Aktionen der EU Öl ins Feuer? Werden sie am Ende zur Gefahr für diejenigen, denen sie Unterstützung vermitteln sollen? Tilly Metz gibt der woxx gegenüber an, sich ähnliche Fragen gestellt zu haben. Sie erinnert sich an die Zeit, in der keine Woche ohne Aktion für LGBTIQA+ -Rechte im Europaparlament vergangen sei. „Ich habe mich damals gefragt, ob der Schuss nach hinten losgehen könnte, weil es ‚too much‘ ist”, gibt sie zu. „Doch mir ist ‚too much‘ in diesem Fall aber lieber, als tatenlos zuzusehen. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, den Aktivist*innen und den Menschen vor Ort zu zeigen, dass wir hinter ihnen stehen und sie ‚empowern‘, dass es kein Verbrechen ist zu lieben, wen man liebt, und zu sein, wer man ist.“