Russlands Wirtschaft: Putins Wette auf den Krieg

Die Inflationsrate ist hoch, der Rubel im Keller – doch die russische Wirtschaft erlebt eine mit staatlichen Investitionen angefachte Konjunktur. Der Kater auf den künstlichen Boom lässt womöglich noch lange auf sich warten.

Der Kurs des Rubel ist in den vergangenen Monaten gegenüber Euro und US-Dollar stark gefallen, doch sagt dies nur bedingt etwas über die russische Wirtschaft aus: Kurstaffel an einer Wechselstube in Podolsk, außerhalb von Moskau. (Foto: EPA-EFE/Maxim Shipenkov)

Elvira Nabiullina scheint recht behalten zu haben. „Wir gehen davon aus, dass sich die Wirtschaft in diesem Jahr weiter erholen wird“, hatte die Präsidentin der Russischen Zentralbank Ende April prognostiziert und ergänzt, die Erholung werde möglicherweise „mit einem Anstieg des Inflationsdrucks einhergehen, wobei dies in hohem Maße von nachfrageseitigen Faktoren abhängen wird“.

All dies ist nun eingetreten, wenn man den am vergangenen Freitag von Michail Mischustin vorgestellten Wirtschaftsdaten Glauben schenkt. Laut vorläufigen Schätzungen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung sei das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Russlands in den vergangenen sieben Monaten um mehr als zwei Prozent gestiegen, sagte der russische Premierminister anlässlich der Vorstellung des Haushaltsentwurfes der Russischen Föderation für das kommende Jahr. Noch im Februar hatte die Zentralbank eine Wachstumserwartung von maximal einem Prozent für das Jahr 2023 in Aussicht gestellt; im April hatte Nabiullina ihre Erwartung auf zwei Prozent nach oben korrigiert.

Aber auch die Inflationsrate ist in den vergangenen Monaten wieder gestiegen: Von 2,3 Prozent im April dieses Jahres auf aktuell 5,2 Prozent. Der Abfangkurs, den die Zentralbank im vergangenen Jahr eingeleitet hatte, nachdem die Inflation infolge der Invasion in der Ukraine kurzeitig sogar auf nahezu 18 Prozent emporgeschnellt war, scheint daher unterbrochen. Dass diese Entwicklung eine Erhöhung des Leitzinses nötig machen könne, hatte Nabiullina bereits im April angekündigt. Damals hatte sie auch prophezeit, dass eine Stabilisierung der Inflation erst im kommenden Jahr zu erwarten sei. Und tatsächlich hat die Zentralbank den Leitzins in den vergangenen Monaten bereits mehrmals erhöht. Zuletzt am 15. September auf 13 Prozent, zuvor im August gleich um 3,5 Prozent auf 12 Prozent. Da war der Wechselkurs des Rubel zum US-Dollar auf über 100 Rubel für einen Dollar gestiegen. Derzeit liegt er wieder bei 96 Rubel.

Zentralbank in der Kritik

Für manche im russischen Establishment hat die Zentralbankpräsidentin im August allerdings nicht schnell und drastisch genug reagiert. Normalerweise steht sie eher in dem Ruf, eine gnadenlose Austeritätspolitikerin zu sein und sich im Zweifelsfall mehr an den Weltmarktkriterien anstatt an den Bedürfnissen der russischen Wirtschaft zu orientieren. Dieses Mal jedoch war für Maxim Oreschkin, Wirtschaftsberater der russischen Regierung, eine „zu lockere Geldpolitik die Hauptursache für die Abschwächung des Rubels und die Beschleunigung der Inflation“. Dabei verfüge die Zentralbank doch über alle notwendigen Instrumente, um die Situation in naher Zukunft zu normalisieren, kritisierte er Nabiullina, ohne sie namentlich zu nennen, in einem Meinungsartikel für die Nachrichtenagentur „tass“.

Die so attackierte Zentralbank hielt mit ihrer eigenen Analyse dagegen: Hauptgrund für den steigenden Inflationsdruck sei ein stetiges Wachstum der Inlandsnachfrage, das die russischen Möglichkeiten, die Produktion auszuweiten, deutlich übersteige. Die auch dank der Knappheit inländischer Waren erhöhte Nachfrage nach Importprodukten, die seit den Sanktionen ohnehin nur teuer zu bekommen sind, trage ebenfalls zu einer Abwertung des Rubel bei.

Die Argumente der Zentralbank deuten auf die tieferliegenden Pro-
bleme in der russischen Wirtschaft hin und lassen den von Mischustin verkündeten Aufschwung in einem anderen Licht erscheinen. Die steigende Inlandsnachfrage nämlich hängt nicht zuletzt mit einer de facto bestehenden Vollbeschäftigung zusammen. Die Arbeitslosenquote liegt bei drei Prozent – ein historisches Tief. Die Konkurrenz um die knappe Arbeitskraft lässt die Löhne und damit die Kaufkraft im Lande steigen. Darin spiegelt sich auch ein demographisches Problem: Die russische Gesellschaft ist überaltert, und aus den jungen Generationen sind viele Männer – ebenfalls vergleichsweise gut bezahlt – an der Front oder haben sich ins Ausland abgesetzt.

Entscheidend für diesen wirtschaftlichen Aufschwung, der zugleich einen hohen Inflationsdruck erzeugt, ist laut dem unabhängigen russischen Wirtschaftsmagazin „The Bell“ jedoch nicht die seit den Sanktionen gestiegene Nachfrage nach heimischen Produkten, die sogenannte „Importsubstitution“. Maßgeblich sind vielmehr die gestiegenen staatlichen Militärausgaben. Sie sind es, die die russische Wirtschaft maßgeblich stützen. Das Wirtschaftswachstum sei insbesondere in jenen Regionen deutlich, in denen die Rüstungsindustrie stark vertreten sei, so die belgische Tageszeitung „Le Soir“: Das gelte beispielsweise für den Ural und Zentralrussland, wo innerhalb der vergangenen Monate ein Wachstum von 10 bis 15 Prozent zu verzeichnen gewesen sei, während in den Regionen mit einer starken Automobilindustrie, wie Kaluga und Kaliningrad, eine Schrumpfung zwischen 15 und 18 Prozent stattgefunden habe. Zudem trügen die staatlichen Investitionen in die Rüstungsindustrie nicht nachhaltig zur Entwicklung der Wirtschaft bei: „Investir dans un pont ou une high-tech a une influence future sur la croissance du pays. Ce n’est pas le cas pour un tank.“

Drastisch erhöhte Staatsausgaben

Auch 2024 soll es auf diese Weise weitergehen. Um mehr als 25 Prozent wird die russische Regierung laut dem Premierminister die Staatsausgaben im kommenden Jahr erhöhen, auf 36,6 Billionen Rubel. Eine Priorität ist es laut „Financial Times“, „die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu stärken“. Genaue Zahlen wurden nicht genannt. Das Wirtschaftsnachrichtenportal „Bloomberg“ berichtete am vergangenen Freitag, es sei eine Erhöhung der Militärausgaben von 6,4 Billionen Rubel in diesem Jahr auf 10,8 Billionen Rubel im kommenden Jahr geplant. Das gehe aus einem Entwurf des Haushaltsplans hervor, der dem Portal vorliege.

Träfe dies zu, würde dies das Dreifache des Militärhaushalts von 2021 umfassen und entspräche einem Anteil am Bruttoinlandprodukt des Landes von 6 Prozent. „In der gesamten modernen russischen Geschichte Russlands hat es keine solch hohen Militärausgaben gegeben“, kommentierte die ehemalige Zentralbankmitarbeiterin Alexandra Prokopenko, die heute als Wirtschaftsanalystin arbeitet, die Zahlen. Im vergangenen Jahr hatte die russische Regierung einen Haushalt von 23,7 Billionen Rubel geplant, diesen laut späteren Angaben aber auf rund 31 Billionen Rubel erhöht. Auch davon soll ein großer Teil in Militärausgaben geflossen sein (siehe „Sparen und siegen“ in woxx 1724).

Bleibt die Frage, wie die russische Regierung die geplanten Mehrausgaben finanzieren will. Einnahmen von 35 Billionen Rubel hat Mischustin für das kommende Haushaltsjahr in Aussicht gestellt. „Dies wäre ein erheblicher Anstieg, der auf unsere Bemühungen zur Entwicklung der nationalen Wirtschaft zurückzuführen ist“, so der Politiker am vergangenen Freitag, der ergänzte, „die Einnahmen aus anderen Quellen als Öl und Gas dürften doppelt so hoch sein wie die Einnahmen aus Öl und Gas“. Diese Schätzung ist überraschend, denn bislang haben die durch den Verkauf von Rohstoffen erzielten Einnahmen stets rund 50 Prozent des Staatshaushalts umfasst.

Expert*innen, die die russische Wirtschaftsentwicklung genau beobachten, reiben sich angesichts dieser optimistischen Prognosen verwundert die Augen. „Der Anstieg der Ausgaben, der aus dem Budgetentwurf hervorgeht, ist nicht die eigentliche Überraschung; es ist der fast identische Anstieg der Einnahmen, der ins Auge sticht“, wird die Volkswirtin und ehemalige Zentralbankbeamtin Sofia Donets in der „Financial Times“ zitiert. Zwar funktionieren die Sanktionen von Öl- und Gas durch westliche Nationen alles andere als perfekt. Dennoch zeigen sie Wirkung, wie auch der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze meint: „Russland findet zweifellos zahlreiche Möglichkeiten, die Sanktionen zu unterlaufen, aber die Auswirkungen auf seine Öleinnahmen sind gravierend, was sich direkt und indirekt in der Handelsbilanz und auf den Devisenmärkten bemerkbar macht.“ Das liegt auch an den Preisnachlässen, die Russland vor allem Indien und China gewährt, wobei die Discounts aufgrund der zunehmenden Zahl neuer Kunden für russisches Öl wieder kleiner geworden sind.

Im Zweifel lieber im Defizit

Doch selbst wenn man Mischustin und den optimistischen Prognosen des Haushaltsentwurfes Glauben schenkt, bleibt ein Defizit von 1,6 Billionen Rubel, das der Staat verkraften muss. „Wir haben alles getan, um das Haushaltsdefizit so gering wie möglich zu halten“, beteuerte Mischustin in seiner Rede: „Der größte Teil dieses Defizits wird durch Anleihen gedeckt.“ Anfang des Monats hatte der russische Finanzminister Anton Siluanow bekräftigt, man wolle das Staatsdefizit weiter reduzieren. Sogar wenn das nicht gelänge, hat der russische Staat indes – auch dank der Renationalisierung privater russischer und der Enteignung ausländischer Unternehmen – allerdings genügend Einnahmen und Ressourcen, um noch lange weiterzumachen, ohne die Investitionen in den Militärhaushalt und die Sozialausgaben zu reduzieren, wie die Wirtschaftsexpertin Alexandra Prokopenko meint.

Ein wirtschaftlich erzwungenes Ende des Krieges steht also nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Nicht nur die Rüstungsindustrie profitiert von ihm, sondern beispielsweise auch die Günstlinge Putins, die sich die Firmenanteile ausländischer Unternehmen, die das Land verlassen, gesetzlich gedeckt 50 Prozent unter dem Marktwert einverleiben. Vor allem jedoch die Erzeugung von Nachfrage auf dem heimischen Markt ermutige den Kreml, „den Krieg so lange wie möglich hinauszuzögern“, wie Prokopenko meint. Je mehr der Staat sich mit Investitionen in den Militärsektor und der Finanzierung günstiger Kredite zur Belebung der Wirtschaft verausgabe, desto größer werde am Ende zwar der Kater, so die Expertin, aber Putin habe keine Alternative zu bieten: „Putin setzt auf einen ewigen Krieg – der Krieg ist für das Regime und die Wirtschaft unerlässlich geworden.“

Adam Tooze bezeichnet die wirtschaftliche Entwicklung in Russland sinngemäß als „Kriegskeynesianismus“. Zwar sei die Analyse der Zentralbank zutreffend, dass eine überlastete Produktion, die die Nachfrage nicht bedienen kann, zur Überhitzung der Wirtschaft, Inflation und Kursverfall führt. Entscheidend sei aber, dass es überhaupt gelungen ist, die Nachfrage und damit ein starkes Wachstum zu generieren. „Aus Sicht der russischen Wirtschaft und der Stabilität an der Heimatfront scheint es offensichtlich, dass die Art der Defizite, die Moskau macht, bei weitem die bessere Option ist als eine verfrühte Haushaltskonsolidierung.“ Natürlich entspreche dies nicht der Idealvorstellung von einem Wachstumsregime. Das jedoch, so der Wirtschaftshistoriker, habe für Russland auch schon vor der Invasion der Ukraine nicht gegolten.


Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , , , , , , , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.