Ein Plädoyer für sinnvolle Maßnahmen, kontinentale Zusammenarbeit und „Sozialismus“.
Was können die betroffenen Länder in Europa und Amerika von Chinas Umgang mit der Corona-Epidemie lernen? Mit dieser Frage ist nicht gemeint, welche Vorteile ein autoritäres System für die effiziente Eindämmung der Krankheit bieten könnte. Der Verzicht auf Demokratie und Rechtsstaat steht in den meisten Ländern zum Glück nicht auf der Tagesordnung. Außerdem ist auch in puncto Effizienz unklar, ob die Nachteile des Autoritarismus die Vorteile nicht aufwiegen – man erinnere sich an die Versuche der politischen Instanzen, am Anfang den Ausbruch der Krankheit zu vertuschen. Ob diese Krise der Welt wohl erspart geblieben wäre, wenn China demokratisch funktionieren würde?
Relokalisierung: Gréngewald zu Klopapier?
In China gab es, anders als hierzulande, im Großen und Ganzen genug Masken, Schutzanzüge und Tests – weil diese Produkte zum Teil dort hergestellt werden. Die Idee, wichtige Produktionsabläufe im medizinischen und in anderen Bereichen wieder nach Europa „zurückzuholen“, macht derzeit die Runde. Der Ansatz ist nicht falsch, könnte jedoch Nebenwirkungen haben. Zum Beispiel wenn man über Einfuhrbeschränkungen und Patente die hiesigen Konzerne „schützt“: Ohne die fernöstliche Konkurrenz ergeben sich ganz neue Möglichkeiten für Preiserhöhungen, die auf Kosten der Allgemeinheit gehen. Grundsätzlich ist es nicht sinnvoll, alles lokal herstellen zu wollen. Wenn man das für medizinisches Material tun will, warum dann nicht auch gleich Reisanbau im Alzettetal oder Klopapier aus dem Gréngewald fordern?
Einen Überblick über wirklich sinnvolle Anregungen, die der Blick nach Osten liefert, findet man im BBC-Beitrag „What could the West learn from Asia?“. Dazu zählt der massive Rückgriff auf Tests. Anders als hierzulande werden in den hochentwickelten ostasiatischen Ländern Personen mit Symptomen getestet, auch wenn sie keine Hospitalisierung benötigen. Chinas Nachbarn haben frühzeitig strenge Einreisekontrolle eingeführt. Dafür ist es im Westen nun zu spät. Für die Rückkehr zur Normalität, wenn die Neuansteckungen in einem Land stark zurückgegangen sind, ist dies aber eine wichtige Maßnahme, wie sie ja jetzt auch China ergriffen hat.
Tests, Masken und Überwachung
Auch andere Maßnahmen, die die Eindämmung oder den Ausstieg aus der Quarantäne begleiten, sollten im Westen ins Auge gefasst werden. In Ostasien gibt es an den Eingängen zu Einkaufszentren und Läden Kontrollen mit Fiebermessungen und Namenslisten. Die umstrittene Überwachung durch diese Listen, durch Handyortung oder Kameraüberwachung, dient dazu, im Falle eines Ausbruchs alle potenziell Betroffenen zu benachrichtigen. Und natürlich erhöht sie den Druck, die individuell verordneten Quarantänen einzuhalten. Schließlich der Maskenzwang: Lange genug hat man im Westen den Menschen erklärt, die Masken taugten nichts zum Selbstschutz – was weitgehend stimmt. Sind genügend verfügbar, helfen sie, anfällige Mitmenschen zu schützen. Auch im Westen könnte man die Masken kontingentieren und dann verlangen, dass alle Personen außerhalb der eigenen Wohnung eine tragen.
Aber ist die Bekämpfung der Corona-Epidemie in Ostasien wirklich so erfolgreich gewesen? Die ganze Welt blickt nach China, denn die Lockerung der Maßnahmen kann auch als Experiment interpretiert werden. Grundsätzlich kann, den Masken zum Trotz, das Virus sich jetzt unbemerkt über stille Träger verbreiten. Die Regierung in Beijing scheint davon auszugehen, dass solche infizierten Personen ohne Symptome nur sehr schwach ansteckend sind – die Expert*innen sind sich in dieser Frage nicht einig.
Was ist in Italien und Spanien anders als in China?
Ganz allgemein gibt es starke Zweifel an den offiziellen Zahlen aus China, wie zum Beispiel der Guardian berichtet. Das Misstrauen gegenüber der Regierung stellt auch eine Lektion dar: Wer lügt und dissidente Stimmen unterdrückt, dem wird grundsätzlich misstraut. Anders als in der stark repressiven Volksrepublik können sich Regierungen im Westen so eine massive Welle des Misstrauen gar nicht leisten. Doch bei allem Zweifel an den Zahlen, Fakt ist, dass die Corona-Epidemie in China eingedämmt werden konnte, bei relativ wenig Todesopfern.
Warum hat dort funktioniert, was in Italien oder Spanien nicht gelingt? Weil der Stadt Wuhan, der Provinz Hubei, ein ganzes Land, so mächtig wie ein Kontinent, zu Hilfe gekommen ist. In China war eine Provinz erkrankt und die 22 anderen haben geholfen, sie „gesund zu pflegen“. In Europa hat jedes Land für sich erst einmal autonom und im (vermeintlich) besten eigenen Interesse Entscheidungen getroffen. Mittlerweile wurden immerhin Kranke aus Frankreich nach Luxemburg und in andere weniger betroffene Länder verlegt. Doch eine wahrhaft europäische, sinnvoll koordinierte medizinische Antwort ist ausgeblieben.
Erstaunlich auch, dass es in den europäischen Ländern, sogar im zentralistischen Frankreich, gedauert hat, bis die Kranken aus den am meisten betroffenen Regionen in andere, weniger betroffene, verlegt wurden. Möglich, dass dies eine Folge der Politik der „Autonomisierung“ der lokalen medizinischen Versorgung ist – eine Politik, die mehr Wert auf Wirtschaftlichkeit als auf das Allgemeinwohl legte. Die neoliberale Parole, wir könnten uns keinen Wohlfahrtsstaat mehr leisten, wird jedenfalls mit dieser Krise Lügen gestraft. Im Gegenteil: Komplexe Gesellschaften wie unsere können sich die Rentabilisierung und Privatisierung der Sozialsysteme der vergangenen Jahrzehnte nicht leisten. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ ist eine schlechte Garantin für das Allgemeinwohl. Benötigt wird, was in den USA Bernie Sanders Gegner*innen als „Sozialismus“ bezeichnen: eine vorausschauende, solidarische Gesundheitpolitik.