Alles, was die Luxemburger Bevölkerung auch nur ein bisschen vor den neuen Covid-Varianten schützen kann, sollte getan werden. Oder vielleicht doch nicht?
Trotz großspuriger Erklärungen gibt der Westen derzeit keine gute Figur ab, wenn es gilt, im Rahmen der Covidkrise die Werte der UN-Menschenrechtserklärung konkret umzusetzen. Statt im Namen der Gleichheit alles zu tun, damit im globalen Süden ähnliche Impfquoten erreicht werden wie im Norden, erwägen viele Länder, ihre Bevölkerung „vorsichtshalber“ ein drittes Mal zu impfen. Kein Wunder, dass die Vereinten Nationen (UN) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese egoistische Vorgehensweise ablehnen (online-woxx: Dritte Impfung oder Dritt-Welt-Impfung?).
Kein Wunder auch, dass China daraus diplomatischen Nutzen ziehen kann. Das Land hat bisher bei der internationalen Solidarität, wie der Westen, mehr Schein als Sein aufzuweisen, doch jetzt organisiert es das erste internationale Forum für Zusammenarbeit bei Covid-Impfstoffen. Und wenn die chinesische Regierung die Covid-Fälle weiterhin auf sehr niedrigem Niveau halten kann, ist sie in der Lage, einen guten Teil ihrer Impfstoffproduktion dem WHO-Covax-Programm zur Verfügung zu stellen. Derweil stehen westliche Regierungen unter dem Druck verunsicherter Bevölkerungsgruppen, denen es mit der Auffrischungsimpfung nicht schnell genug gehen kann – obwohl hierfür derzeit, über Risikogruppen hinaus, kein medizinischer Handlungsbedarf besteht.
Politischer Realismus tötet
Argumentationen wie die von Claude Muller auf 100,7 können für den Drittimpfungsdiskurs eine Legitimation liefern: Warum auf Impfstoff verzichten, wenn, wie er unterstellt, die Dritte Welt es sowieso nicht hinbekommt, ihre Bevölkerung durchzuimpfen und damit die Entstehung neuer Varianten zu verhindern? Doch die WHO hält das Ziel einer 70-Prozent-Impfquote in allen Ländern immer noch für realistisch – und für notwendig. Mehr noch, das erhoffte Zustandekommen eines Covid-Deals im Zeichen der Zusammenarbeit und der Solidarität könnte Signalwirkung haben: für den weltweiten Kampf gegen den Klimawandel und für die Sustainable Development Goals im Allgemeinen.
Dem stehen weniger logistische als politische und ökonomische Hindernisse im Weg. Der von der WHO geforderte globale Impfplan, im Rahmen der G20 beschlossen, würde ja nicht nur die Herstellung und Zuteilung der Impfdosen betreffen, sondern auch die Aufstockung der Impflogistik in den Ländern des globalen Südens. Doch den Regierungen im globalen Norden steckt die vergangene Kritik am den verspäteten und langsamen Impfkampagnen noch in den Knochen – werden sie den Mut haben, die Auffrischungsimpfungen auf später zu verschieben?
Sollten unsere Regierungen im Gegenteil, auf Kosten der Dritten Welt, den Weg des geringsten politischen Widerstands wählen, dann wird das den Pharmakonzernen jedenfalls recht sein. Der Rush auf die dritten Impfdosen würde die „lästige“ Forderung nach einer Freigabe der Impfstoffpatente vergessen machen. Und mit dem Verkauf dieser Dosen zum Marktpreis ließe sich sicher mehr Geld verdienen als mit einem regulierten Verkaufspreis im Rahmen des Covax-Programms.