Brasiliens Präsident Lula da Silva steht vor der Herkulesaufgabe, die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft, die sein Vorgänger Jair Bolsonaro vertieft hat, zu kitten. Zwei politische Biografien zeigen, wie unterschiedlich die beiden Politiker waren und sind.
Die Bilder ähneln sich. Die Erstürmung des brasilianischen Kongressgebäudes, des Präsidentenpalastes und des Sitzes des Obersten Gerichtshofes in Brasilia durch mehrere Tausend Anhänger*innen des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro am 8. Januar (siehe „Bolsonaros klägliches Spiel“ in woxx 1719) erinnert an den Angriff auf das Washingtoner Capitol durch Gefolgsleute von Donald Trump zwei Jahre zuvor. Beide Fälle zeigen, wie ernst es um die Demokratie sowohl in Brasilien als auch in den USA zurzeit bestellt ist. Wie Trump spricht auch Bolsonaro von Wahlbetrug. Und wie in den USA gilt die Attacke nicht nur den demokratischen Institutionen, sondern dem Präsidenten selbst, in diesem Fall dem seit Anfang Januar regierenden Staatschef Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Der 77-Jährige hatte die Stichwahl gegen Bolsonaro am 30. Oktober in einem engen Kopf-an-Kopf-Rennen mit 50,9 Prozent der Wählerstimmen gewonnen. Es ist nun sein drittes Mandat als Präsident.
Zweiundzwanzig Monate zuvor hatte eben jenes am 8. Januar verwüstete Oberste Bundesgericht Lula den Weg zu einer erneuten Kandidatur geebnet, indem es vier Urteile annullierte, die dem Politiker der Arbeiterpartei eine zwölfjährige Haftstrafe wegen vermeintlicher Korruption eingebracht hatten. Lula musste davon nur 580 Tage absitzen. „Es war ein mittleres politisches Erdbeben, was brasilianische Medien am 8. März 2021 vermeldeten: Edson Fachin, Richter am Obersten Gerichtshof, (…), hatte die Urteile, die im Zuge der Antikorruptionsermittlungen ‚Lava Jato‘ gegen Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva verhängt worden waren, annulliert. Oder präziser: Der entscheidende Teil des Urteils wurde mit dem Argument der angeblichen Unzuständigkeit des ursprünglichen Gerichts aufgehoben. Das Gericht in Curitiba (…) hatte seine Kompetenzen überschritten.“ So schreibt Andreas Noethen in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Lula-Biografie.
Obwohl es kein Freispruch für Lula war, witterte das Lager seiner Anhänger*innen und seiner Arbeiterpartei, der „Partido dos Trabalhadores“ (PT), doch Morgenluft. Lulas Weg zurück in die Politik und an die Macht war frei. Im Mai 2022 erklärte er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl. „Der Frust der letzten Jahre schien wie weggeblasen“, schreibt Noethen. Der Journalist, Jahrgang 1973, lebte mit seiner Familie von 2016 bis 2019 in Rio de Janeiro und ist freiberuflich für mehrere Medien tätig, unter anderem für die „Jüdische Allgemeine“, des Weiteren für die „Deutsche Presseagentur“ (DPA). In seinem Buch schildert er den Aufstieg Lulas aus einfachsten Verhältnissen zum Gewerkschaftsführer, zur Ikone der lateinamerikanischen Linken und zum Präsidenten Brasiliens. Zum besseren Verständnis des politischen Hintergrunds liefert Noethen Informationen zur brasilianischen Zeitgeschichte, etwa zur Militärdiktatur der Jahre 1964 bis 1985.
Andreas Noethen stellt eine entscheidende Frage, die er mit seinem Buch klären will: „Gibt es so etwas wie eine gute Korruption?“
Noethen beschreibt, wie Lula als Mitgründer und Führungsfigur der PT für deren Wandel von einer Graswurzelbewegung zur Regierungspartei steht. Er zeichnet den Werdegang des mit seiner Familie aus dem Bundesstaat Pernambuco im bitterarmen Nordosten des Landes in die Region São Paulo eingewanderten früheren Schuhputzers und Botenjungen nach, der es vom Dreher einer Metallwarenfabrik zum Gewerkschafter, vom Streikführer und Klassenkämpfer zum Präsidentschaftskandidaten und schließlich tatsächlich ins höchste politische Amt Brasiliens brachte. Von Rückschlägen ließ sich Lula nicht beeindrucken. Ein ums andere Mal bewies der Politiker seine Qualitäten als „Stehaufmännchen“, stellt Noethen fest. In seinem Buch schont der Autor weder Lula, der bis zu seinem historischen Triumph 2002 vier Anläufe brauchte, noch dessen Partei, „die praktisch von Beginn ihrer Regierungsführung an in mehrere große Korruptionsvorwürfe verwickelt war, die Brasilien erschütterten und der Glaubwürdigkeit der Arbeiterpartei massiven Schaden zufügten“.
Die PT war einst als systemkritische Partei angetreten, als Alternative zu einem politischen System, das zutiefst von Korruption zersetzt ist. Sie war die erste Partei Brasiliens, die über ein ideologisches Fundament und eine starke Organisation verfügte. Doch nach Lulas Machtantritt dauerte es nicht lange, bis sie in den Sumpf der Korruption geriet. Die Partei konnte, um sich zu behaupten, nicht mehr ihren eigenen moralischen Ansprüchen und ethischen Standards gerecht werden. Das wurde ihr zum Vorwurf gemacht und von ihren politischen Gegnern ausgeschlachtet. Noethen zeigt diesen Zwiespalt, in den sich das frühere Schreckgespenst des Establishments selbst gebracht hatte. Weil sie selbst keine parlamentarische Mehrheit besaß, erkaufte die PT sich diese bei Politikern anderer Parteien mit hohen monatlichen Schmiergeldern. Spätestens mit diesem „Mensalão“ genannten Skandal hatte die Arbeiterpartei ihre Unschuld verloren. Lula war lange Zeit hiervon nicht betroffen. An ihm perlten die Vorwürfe ab. Doch hatte er sich selbst schnell zum Meister im Beschaffen von Mehrheiten entwickelt.
Andreas Noethen stellt eine entscheidende Frage, die er mit seinem Buch klären will: „Gibt es so etwas wie eine gute Korruption? War die Politik Lulas und der PT eine Art von ‚Pragmatismus‘, für den Lula von Kommentatoren immer auch gelobt wurde, weil es in Brasilien ohne Korruption nicht geht?“ Und falls dem so war, wann wurde der Punkt erreicht, als aus möglicherweise notwendigen Zugeständnissen an die korrupten Strukturen Gier wurde? All dies will der Autor wissen, setzt sich sehr kritisch mit dem von ihm porträtierten Politiker auseinander und schont ihn nicht, wenn er etwa schreibt: „Im Allgemeinen scheint man von außen etwas nachgiebig in Sachen Korruption zu sein, weil Lula sie anscheinend nicht nutzte, um sich selbst zu bereichern, sondern als Mittel zum Zweck einer Politik, die vielen Minderprivilegierten der brasilianischen Gesellschaft zugute kam.“
Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Lulas Regierung gelang, zum Beispiel mit den sozialen Transferprogrammen wie „Fome Zero“ und „Bolsa Familia“ Millionen Brasilianer*innen den Weg aus der Armut zu zeigen. Es war wohl der größte Erfolg seiner acht Jahre währenden Präsidentschaft von 2003 bis 2011. Doch dies wirft zugleich die Frage auf, ob die Armutsbekämpfung die Korruption und den Nepotismus der PT rechtfertigte. Tatsache ist jedenfalls, dass die genannten Programme vor allem sehr medienwirksam waren. Leider profitierten von ihnen oft nur die Anhänger*innen der PT. So kommt Noethen zu dem Fazit: „Die PT und Lula haben für Brasilien viel erreicht. Sie waren aber ebenso häufig in Skandale und Korruption verwickelt.“
Der Autor hatte 2020 bereits in seinem so betitelten Buch den „Bulldozer Bolsonaro“ analysiert. Mit seinem Buch über Lula ist ihm eine differenzierte Biografie von einem der bedeutendsten Politiker Lateinamerikas gelungen, der im Laufe seiner ersten beiden Amtszeiten Zustimmungswerte von bis zu 80 Prozent erreichte. Lula wurde zum „anerkannten Exportschlager der politischen Linken Brasiliens“. Der frühere US-Präsident Barack Obama nannte ihn einmal den „beliebtesten Politiker des Planeten“. Und doch glich Lulas politische Karriere stets einer „Achterbahnfahrt“. Noethen schildert die Skandale um Abgeordnetenkäufe, systematische Bestechung und kriminelle Geldwäsche durch Konzerne wie „Odebrecht“ oder „Petrobras“. Zwar habe sich Lula nicht selbst bereichert, schreibt der Autor, weist aber auch darauf hin, dass der PT-Politiker Mitverantwortung am System der endemischen Korruption trug. Dies laste wie ein dunkler Schatten auf dem neuen Mandat Lulas. Ein Fazit der gelungenen Biografie, die eine Lücke schließt, lautet: Für Lula und die PT heißt es, aus den Fehlern der bisherigen Regierungsperioden zu lernen.
Doch wie sind die extremen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen zu beheben, die Bolsonaros vierjährige Amtszeit zur Folge hatte? Um dies zu beantworten, gilt es nicht nur die historische Tragweite, sondern auch die Ursachen der „rechten Revolte“ zu ergründen, von der Niklas Franzen schreibt. Diesen Versuch hat der deutsche Journalist unternommen, der mehrere Jahre in São Paulo lebte, als Korrespondent unter anderem für die „taz“ berichtete und auch bereits für die woxx geschrieben hat (zuletzt in woxx 1642 über „Bolsonaros schwerste Krise“).
Im Laufe der Recherchen zu seinem Buch „Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte“ sprach Franzen nicht nur mit Anhänger*innen des im vergangenen Jahr abgewählten Präsidenten und mit linken Aktivist*innen, sondern führte Interviews mit zahlreichen Vertreter*innen der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche des Landes. Er begab sich unter die Demonstrant*innen in São Paulo, ging in die Favelas von Rio de Janeiro, fuhr ins Amazonasgebiet und sprach dort mit Goldgräbern. Er beschreibt außerdem die Zustände in einem überfüllten Gefängnis sowie den Aufstieg der Evangelikalen in Brasilien zum wichtigen Machtfaktor und reiste nach Mato Grosso do Sul auf eine Soja-Farm. So ist aus seinem Buch mehr als nur eine politische Analyse des Bolsonarismus geworden, nämlich das Porträt einer Gesellschaft. Franzen thematisiert darüber hinaus die Rolle des Militärs und die Gefahr eines Militärputsches, ebenso die der äußerst korrupten und auch kriminellen brasilianischen Polizei.
Aus Niklas Franzens Buch ist mehr als nur eine politische Analyse des Bolsonarismus geworden, nämlich ein Porträt der brasilianischen Gesellschaft.
Franzen verfügt als langjähriger Korrespondent über viele Kenntnisse der politischen Zusammenhänge. Das Ergebnis ist aufschlussreicher als wenn er sich darauf beschränken würde, Bolsonaro nur als rechtspopulistischen und rassistischen Waffennarr und Demokratieverächter zu zeigen. Franzens Buch erklärt, warum so viele Brasilianer*innen zur Gefolgschaft des Ultrarechten gestoßen sind. Zwar sagen auch Brasilienkenner, dass es fast unmöglich sei, das Land und seine politische Kultur zu verstehen. Doch mit den Büchern von Franzen und Noethen kommt man diesem Ziel einige Schritte näher.
Das Problem ist, dass sich der Bolsonarismus nicht einfach in Luft auflösen wird, wie Franzen zu Recht feststellt, ebenso wie auch der Trumpismus in den USA ganz und gar nicht von der Bildfläche verschwunden ist. Demokratische Politiker und Regierungen, wie etwa jene Lulas und Joe Bidens, werden sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen müssen. Als Bolsonaro nach rund drei Monaten, in denen er sich in Florida aufgehalten hatte, in Brasilia landete, warteten Hunderte von Unterstützer*innen auf ihr Idol. Ihr Wunsch ist es, Widerstand gegen Lulas Regierung zu leisten. Dabei ist Bolsonaros Bilanz verheerend: Er spaltete die Gesellschaft, in der Corona-Pandemie sind sieben Millionen Brasilianer*innen in Armut gestürzt, zugleich berichten Medien wie die britische Sendeanstalt „BBC“ von einem „spektakulären Aufstieg der Milliardäre“ im Land, die immer reicher werden.
Derweil mussten Künstler unter Bolsonaro leiden. In seiner Regierungszeit wurde die Kulturförderung massiv gestrichen und das Kulturministerium zu einem Sekretariat herabgestuft. Seit Lulas Wahlsieg atmet die Szene wieder auf. Die Künstler*innen und im Kulturbetrieb Beschäftigte setzen große Hoffnungen auf ihn. Er hat in seiner Siegesrede versprochen, die Förderung der Künste wieder aufzunehmen. Der Musiker, Dramatiker und Schriftsteller Chico Buarque, während der Diktatur aktiv im politischen Widerstand und einige Zeit im Exil, erhielt am 24. April den Luis-de-Camões-Preis, die höchste literarische Auszeichnung in der portugiesisch-sprachigen Welt. Eigentlich hätte er diese schon 2019 bekommen sollen, doch Bolsonaro hatte sich geweigert, ihm den Preis zu überreichen. Nun erhielt Buarque ihn aus Lulas Händen. Bei der Preisübergabe sagte der Schriftsteller, es tröste ihn, dass der Ex-Präsident die Höflichkeit besaß, die Urkunde nicht mit seiner Unterschrift zu beschmutzen. Und Lula meinte: „Es ist mir eine Freude, eine der größten Absurditäten zu korrigieren, die in letzter Zeit gegen die brasilianische Kultur begangen wurde.“