Energiepolitische Zukunft: Kernspaltung kontrovers

Zusätzlich zur Klimakrise liefert der Krieg Argumente für eine Renaissance der Atomkraft. Ein Überblick über Vor- und Nachteile dieser Energieform.

Strahlende Zukunft. (Pixabay; Enrique)

Luxemburg ist gegen Atomenergie. „Nicht nur, weil sie eine schwere Bedrohung für unser Land darstellt, sondern auch weil sie als Energiequelle weder ökologisch noch klimaneutral ist.“ Das schreibt das „Comité national d’action contre le nucléaire“ in einem offenen Brief von Mitte November, der einen Ausstieg des Fonds de compensation aus Investitionen in die Atom-
industrie fordert. Paradox ist, dass dieses Komitee, dem alle drei Regierungsparteien angehören, nunmehr fordert, was letztere noch vor zweieinhalb Jahren – in Form einer Motion von Déi Lénk – ablehnten. Und es richtet seine Forderung an ein Regierungsmitglied, den LSAP-Minister Claude Haagen. Gut möglich, dass der geforderte Ausstieg am Ende zustande kommt. Auf einen weltweiten Atomausstieg hingegen wird man länger warten müssen.

Pendel und Wissenschaft

Wird 2023 als Beginn der Renaissance der Kernkraft in die Geschichte eingehen? Seit Jahren surft die Atomlobby auf der Welle des Klimaschutzes, zuerst mit AKWs als Ersatz für Kohlekraftwerke, dann als „ideale Lösung“ für den erhöhten Strombedarf durch die Elektrifizierung von Fahrzeugen und Industrieanlagen. Seit Beginn des Ukrainekriegs wird Kernkraft zusätzlich als Mittel gegen die Abhängigkeit von Brenn- und Rohstoffimporten beworben. Neue Reaktor-Bauprojekte werden derzeit vorbereitet, unter anderem in Frankreich, China, Polen, Japan, Schweden und den Niederlanden. Solche Erfolgsmeldungen der Atomindustrie werden allerdings durch eine Bestandsaufnahme der realen Entwicklung wieder relativiert (World Nuclear Industry Status Report). Unterm Strich kann man kaum von einer Zeitenwende reden, doch vieles deutet auf einen Stimmungsumschwung in der Politik wie in der Bevölkerung hin.

Wie ein Pendel scheint sich die Stimmung nach Katastrophen wie Tschernobyl und Fukushima gegen die Atomkraft zu wenden, um danach wieder, beschleunigt durch Krisen, zu mehr Akzeptanz für diese Energieform zu tendieren. Umso interessanter sind Analysen, die losgelöst vom Zeitgeist Argumente und Fakten vergleichen, zum Beispiel das von Science.lu Ende November 2022 veröffentlichte Video „Pro a Contra Atomenergie“.

Schon beim ersten im Begleittext angesprochenen Punkt wird klar, dass manche Zahlen extreme Argumente beider Seiten entkräften können. Einerseits ist Kernenergie keineswegs CO2-neutral, wie das gerne von ihren Verteidiger*innen behauptet wird – vom Uranabbau bis zur Lagerung von atomaren Abfällen entstehen durchaus Treibhausgase. Andererseits gilt das Gleiche für die Gesamtbilanz bei erneuerbaren Energien. Dabei schwanken die Werte für die Kernenergie je nach Studie stark, liegen aber weit unter denen von Kohle und Gas. Anders gesagt, Atomkraft ist relativ klimafreundlich – und viel mehr lässt sich über Solar- und Windenergie auch nicht sagen, auch wenn deren Anhänger*innen das nicht gerne hören.

Subtiler ist die Frage, ob Kernenergie Vorteile aufgrund ihres Ressourcenverbrauchs bietet. Hierzu zitiert Science.lu den List-Forscher Thomas Gibon, der auf den geringen Flächen- und Materialverbrauch hinweist. Doch insbesondere beim Verbrauch von spezialisierten Metallen ist der Vorteil der Kernenergie erstaunlich niedrig: In einem Beitrag von Alternatives économiques wird auf Zahlen der Internationalen Energieagentur verwiesen: Der Metallverbrauch der erneuerbaren Energien pro kWh liegt nur 1,4 bis 3 Mal höher als jener der Atomkraft.

Wettlauf fürs Klima

Unter dem Gesichtspunkt der energetischen Unabhängigkeit könnte das Vorteile bieten. Auf Science.lu betont Gibon, dass man für Kernkraft „nur Uran“ importieren muss. Zwar sind die erneuerbaren Ressourcen wie Sonne und Wind vor Ort vorhanden, doch die Anlagen halten weniger lange als AKWs und die Energiedichte des für deren Betrieb benötigten Urans ist extrem hoch. Das „nur“ ist aber weniger beruhigend, als es klingt: Frankreich zum Beispiel bezieht 90 Prozent dieses Rohstoffs aus den Ländern Usbekistan, Kasachstan und Niger – letzteres immerhin Teil der „Françafrique“.

Reaktorkern und Kühlsystem. (Wikimedia; Katana0182; CC BY 3.0)

Ein letztes Pfund, mit dem die Atomlobby wuchert, ist die Eignung der Kernenergie, kontinuierlich Strom zu liefern, wohingegen Solar- und Windanlagen von äußeren Umständen abhängig sind. Doch gerade der Ausbau der erneuerbaren Energien würde derzeit eher Gaskraftwerke als Ergänzung benötigen, weil diese kurzfristig hochgefahren und wieder abgeschaltet werden können. Richtig ist, dass „wir noch viel mehr Speicher-
infrastrukturen und auch viel mehr Fotovoltaik- und Windanlagen [benötigen]“, um zuverlässig Strom aus erneuerbaren Quellen zu jeder Tages- und Jahreszeit zu haben, wie Science.lu schreibt. Im bereits erwähnten Artikel von Alternatives économiques, der sich mit den Argumenten des Pro-Atom-Ingenieurs Jean-Marc Jankovici auseinandersetzt, heißt es, der Ausgleich der Diskontinuität der erneuerbaren Energien durch Speicheranlagen und „smart grids“ sei „eine reale technische Herausforderung, aber auf 20 Jahre gesehen nicht unmöglich zu meistern“. Ein Wettlauf mit der Zeit also – ähnlich dem, was die technische Optimierung und der Bau neuer AKWs bedeuten würde.

Die Stärken der Kernkraft sind nicht wegzudiskutieren, insbesondere als Ersatz für die unnachhaltigen Kohlekraftwerke. Zwar wird in Luxemburg offiziell wenig Strom aus Kohle verbraucht, doch das ist nur möglich, weil die „grünen Zertifikate“, dank derer der Anteil erneuerbarer Energien so hoch ist, das Problem der Diskontinuität einfach ausblenden. Rechte und wirtschaftsfreundliche Politiker*innen hatten, auch hierzulande, schon immer ein Faible für Atomenergie. Zwar schlägt kaum jemand noch vor, ein nationales AKW zu errichten, doch der CSV-Rechtsaußen Laurent Mosar tritt dafür ein, Investitionen in Kerntechnologie am Finanzplatz zu begünstigen. Dabei stellt er diese Energieform als nachhaltig im Sinne des Klimaschutzes dar, lässt aber andere Dimensionen der Nachhaltigkeit beiseite.

Pannenindustrie in Frankreich

Eine der am schwierigsten zu beantwortenden Fragen ist die der Kosteneffektivität; Science.lu geht überhaupt nicht darauf ein. Weil die Entwicklung und der Bau von AKWs sehr teuer sind, sie dafür aber sehr lange in Betrieb bleiben können, lässt sich ihr kWh-Preis nicht so einfach berechnen wie der von Wind- und Solaranlagen, die „von der Stange“ gekauft werden und eine kürzere Lebensdauer haben. Laut Alternatives économiques zeigt eine Studie des Netzbetreibers RTE, dass sich in Frankreich ein neues Atomprogramm finanziell lohnen würde – aber mit geringem Abstand zum entgegengesetzten Szenario. Das bedeutet, dass sich marktgläubige Atomgegner*innen mit der These, die Kernenergie werde aus Rentabilitätsgründen von selber verschwinden, in die eigene Tasche gelogen haben. Andererseits steht den prognostizierten finanziellen Vorteilen eine gewisse finanzielle und energiepolitische Unsicherheit gegenüber.

Das zeigt sich diesen Winter beim französischen Atompark, der die im Zuge der Energiekrise nötige Leistung nicht erbringen kann. Das ist unter anderem einem Korrosionsproblem geschuldet, dessen Beseitigung Voraussetzung für den Weiterbetrieb ist (woxx 1712). Das führt zu einer Reihe von Abschaltungen, die sich bis 2024 hinziehen werden. Im Prinzip hätte das neue EPR in Flamanville ab Herbst 2023 einen Teil der fehlenden Leistung liefern können. Doch die Inbetriebnahme des seit 2007 im Bau befindlichen Reaktors, dessen Kostenpunkt sich zudem vervielfacht hat, musste aufgrund neuer Probleme um sechs Monate verschoben werden. Makroökonomische Nachhaltigkeit kann die Kernenergie damit wohl eher nicht verbuchen.

Frankreich bietet allerdings das beste Beispiel dafür, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung beim Aufbau einer eigenen Nuklearindustrie noch komplexer ist: Die Entscheidung für AKWs in den 1950ern ging mit dem Wunsch nach Kernwaffen einher. Atombomben als Bonus zu verbuchen, mag seltsam erscheinen, doch seit der „Zeitenwende“ im Frühjahr 2022 hat sich die Akzeptanz dafür ebenfalls verändert.

Der Krieg in der Ukraine hat auch das Bewusstsein für die Verwundbarkeit von Atomzentralen geschärft: Die bis dahin theoretische Gefahr einer Zerstörung der Kühlkreisläufe oder der Sicherheitshülle durch Waffengewalt ist in Saporischschja konkret geworden. Grundsätzlich ähneln die sich daraus ergebenden Szenarien allerdings den klassischen Unfallrisiken, von der Kontamination der Umgebung bis hin zur Kernschmelze. Bei der Bewertung dieses Aspekts zeigt sich Science.lu sehr zurückhaltend: „Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls ist gering, doch die negativen Auswirkungen eines solchen potenziell groß. Wie bewertet man ein solches Risiko?“ In der Wissenschaft werden solche Wahrscheinlichkeitsverteilungen als „heavy tailed“ bezeichnet und sind bekannt dafür, dass ihr mittleres Risiko häufig unterschätzt wird. Die Gefahren an sich sind allerdings seit Langem bekannt und auf die Unfälle der Vergangenheit wurde mit zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen reagiert. Neue Gefahren gehen dagegen von der Liberalisierung des Energiesektors und dem Kostensenkungsdruck aus, sowie vom Klimawandel, der das Problem von Flut- und Hitzewellen verschärft.

Der Abfall bleibt

Wichtigstes Argument gegen die Kernenergie ist in der Darstellung von Science.lu der „hochradioaktive Abfall, der noch Millionen Jahre weiterstrahlt und ein Sicherheitsrisiko darstellt“. Dies bezieht sich wohl auf die Technik der Kernspaltung; bei der Kernfusion stellt sich die Frage des Abfalls anders, wird sich aber vor Mitte des Jahrhunderts kaum stellen. Für die Fission ist der Atommüll, anders als der Kostenpunkt oder das Unfallrisiko, die es auch bei großen Wasserkraftwerken und Chemieanlagen gibt, jedenfalls ein Alleinstellungsmerkmal. „Wirklich gute Endlager gibt es kaum – wenn überhaupt; darüber wird gestritten. So richtig ist dieses Problem noch nicht gelöst“, fasst Science.lu zusammen. Ergänzt man das „noch“ durch ein vorangestelltes „nach 75 Jahren immer“, so wird klar, dass Energie aus Kernspaltung zwar CO2-arm ist, aber wohl nie „sauber“ sein wird.

Zur Diskussion dürften deshalb eigentlich nur die Modalitäten eines Atomausstiegs stehen, inklusive eines Weiterbetriebs dort, wo der Rückgriff auf Kohle die Alternative darstellt. Science.lu wie Alternatives économiques betonen, dass das Akzeptieren der Nachteile von Kernenergie keine technische Notwendigkeit, sondern eine politische Entscheidung ist. Die aber ist heute offener denn je – ein guter Grund für Atomgegner*innen, sich nicht auf die emotionalen Nachwirkungen der Katastrophen der Vergangenheit zu verlassen, sondern die eigene wissenschaftliche Argumentation zu schärfen.


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