Mit insgesamt 1.618 Anrufen verzeichnete das Kanner-Jugendtelefon 2018 die höchste Anzahl an Anrufen seit seiner Gründung 1992. Es ist ein ambivalenter Erfolg, der gesellschaftliche Missstände aufweist.
Allein die Kontaktaufnahmen zur Helpline BEESECURE hat sich im Vergleich zu 2017 fast verdoppelt (von 225 auf 412 Anrufe). Die Gesprächsthemen waren E-Kriminialität, Datenschutz und Fragen zu technischen Einstellungen. Der BEESECURE-Stopline, die zur Meldung von dokumentiertem Kindesmissbrauch oder anderen illegalen Web-Inhalten dient, gingen 2018 indes 124 Meldungen im Bereich Rassismus, Revisionismus und Diskriminierung ein. 69 Inhalte wurden daraufhin als illegal eingeschätzt und an die zuständigen Instanzen weitergeleitet.
Beim Kanner-Jugendtelefon (KJT), das sich hauptsächlich an Kinder und Jugendliche richtet, bezogen sich die zentralen Problembenennungen auf psychosoziale Gesundheit, Beziehungen zu Gleichaltrigen und auf Sexualität. Dabei haben deutlich mehr Kinder und Jugendliche telefonisch (767 Anfragen) zu den Berater*innen Kontakt aufgenommen als über die Online-Plattform (218 Kontaktaufnahmen). Letztere nahmen vor allem 16- bis 17-Jährige in Anspruch, während die jüngeren Altersgruppen eher zum Hörer griffen. Die Verantwortlichen des KJT sprechen von der gegenseitigen Ergänzung beider Formate.
Stress, Leistungsdruck, Reizüberflutung
Eltern, die sich an die entsprechende Helpline wandten, sorgten sich vorwiegend um familiäre Beziehungen, die psychosoziale oder psychische Gesundheit ihrer Kinder und deren Schullaufbahn. Auffällig: Fragen zum Thema Schule sind seit 2017 um das Fünffache gestiegen. Eltern geraten, so heißt es im Jahresbericht des KJT, zunehmend unter „enormen Druck“, wenn sie Lernprobleme beobachten. In Verbindung mit dem erhöhten Stressgefühl, über das Kinder und Jugendliche zunehmend beim Kanner-Jugendtelefon klagen, deutet das auf einen manifesten Leistungsdruck hin. Eltern und Schüler*innen scheinen den schulischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nicht gewachsen zu sein.
Die Verantwortlichen des KJT sprechen zusätzlich von digitaler Reizüberflutung, Mobbing in sozialen Netzwerken und Versagensängsten. Kindern fehle zwischen Freizeitstress und Zusatzunterricht immer öfter die Zeit für freies Spielen oder Entspannung. Auch gesellschaftliche Schönheitsideale und Wertvorstellungen würden junge Menschen immer mehr unter Druck setzen. „Die Selbstdarstellung im Netz oder in der Öffentlichkeit“ werde „unumgänglich zum Thema“, die Anzahl der „Likes“ ermögliche eine „virtuelle Quantifizierung dieser Bedürfnisse“.
Mehr Gewalt und Missbrauch?
Darüber hinaus sind in allen vier Helplines (11611, Online Help, Elterentelefon, BEE SECURE Helpline) die Berichte über Erfahrungen von Missbrauch und Gewalt gestiegen (2017: 111, 2018: 127). Mehr als die Hälfte der Anrufer*innen waren von Mobbing/Cybermobbing betroffen, andere waren direkt oder indirekt physischer Gewalt ausgesetzt. Im Jahresbericht des KJT heißt es, die rege Kontaktaufnahme sei vor allem auf die intensive Öffentlichkeitsarbeit sowie auf die Informationsweitergabe durch Stakeholder*innen aus dem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Sektor zurückzuführen. Liegt die vermehrte Kontaktaufnahme nur an der Sichtbarkeit der Hotlines oder vielmehr an einem Zuwachs physischer und psychischer Gewalt an Kindern und Jugendlichen? Die häusliche Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen nahm laut einem Polizeibericht von 2017 im Vergleich zu 2016 um 6,16 Prozent zu. Ein Zeichen dafür, dass die Rekordzahlen des Kanner-Jugendtelefon Ausdruck einer gelebten Realität sind. Das wiederum schließt auf eine bedenkliche Entwicklung, auf die die Helplines in jedem Fall reagieren müssen.
Den gesamten Jahresbericht vom KJT gibt es hier.