Im Vorfeld der US-Wahlen befassen wir uns mit den politischen Entwicklungen der vergangenen 40 Jahre. Teil 1 der Serie gibt Einblicke in das amerikanische politische System.
Das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen vom 8. November 2016 war ein Alptraum. Es wird viel darüber spekuliert, ob sich das Gleiche am 3. November dieses Jahres wiederholen wird – der erste Alptraum war es jedenfalls nicht, im Gegenteil. Die Wahl George W. Bushs im Jahr 2000 kam zwar nicht so unerwartet wie die von Donald Trump, fiel aber ähnlich knapp aus und erwischte viele fortschrittliche Amerikaner*innen auf dem falschen Fuß. Bushs Wiederwahl aber war der wahre Alptraum: In den ersten vier Jahren seiner Präsidentschaft hatte sich der Texaner als strammer Rechter gezeigt – in den Augen vieler Linker war 2004 eine Schicksalswahl. Das Ergebnis war umso schmerzhafter, als es eindeutig war: 50,7 Prozent der abgegebenen Stimmen waren für Bush, bei überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung.
Gleichheit seit 1776?
Noch krasser war das Wahlergebnis von 1980, als Ronald Reagan, die Gallionsfigur der „New Right“, die Wahlen gewann (siehe Teil 2 unserer Serie). Der Hardliner, der die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ aus der Welt schaffen wollte, hatte fast zehn Prozent mehr Stimmen als Jimmy Carter. Die Lektion: Man muss immer mit dem Schlimmsten rechnen. Aber auch: Das Pendel schwingt wieder zurück. 1992 und 2008 gewannen die demokratischen Kandidaten und wurden 1996 und 2012 wiedergewählt.
Die USA werden von ihren Bewundrer*innen oft als die älteste kontinuierliche Demokratie der Welt bezeichnet. In gewisser Weise stimmt das auch – das Leitbild der „Founding Fathers“ von 1787 war ohne Zweifel die für diese Zeit revolutionäre Idee der Volkssouveränität. Zwar waren anfangs – und zum Teil für viele Jahrzehnte – große Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen: Frauen, Afroamerikaner*innen, „Native Americans“ und Personen ohne ausreichendes Vermögen. In anderen Demokratien gab es ähnliche Defizite und die Diskussionen darüber, wer wahlberechtigt sein soll, dauern bis heute an. In den USA konnte im Namen des Gleichheitsprinzips – bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ausformuliert – die Abschaffung der meisten Diskriminierungen nach und nach durchgesetzt werden.
„Die ‚Founding Fathers‘, die 1787 die US-Konstitution entwarfen, fürchteten politische Parteien, Massendemokratie (popular democracy) und eine zentrale Regierung“, schreibt Donald T. Critchlow in „American Political History“. Doch alle drei Phänomene haben sich durchgesetzt; sehr früh ist in den Vereinigten Staaten die Politik zu einem „blood sport“ geworden, so der Autor. Ab den 1830ern hätten die Politiker jeder Couleur sich als „Männer des Volkes“ stilisiert – Trumps Anti-Establishment-Pose stellt also keineswegs einen Bruch mit der Tradition dar. Für Critchlow hat sich nur ein einziges Prinzip der Gründerzeit halten können: „ein fester Glaube an die Verfassungsordnung“.
Zwei Parteien, ein System
Weil die Konzentration von Regierungsmacht zu gefährlichen Auswüchsen führen kann, konstruierten die „Founding Fathers“ ein System von „checks and balances“ auf der Basis der von Montesquieu theorisierten Gewaltenteilung, in der Legislative, Exekutive und Judikative voneinander unabhängig sind und sich gegenseitig kontrollieren. Auch die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Bundesstaaten und den föderalen Instanzen gehört zu diesem System. Dass die „checks and balances“ funktionieren, belegen historische Urteile des „Supreme Court“ (Oberster Gerichtshof) wie die gegen die Rassensegregation und für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Auch wenn diese Rechtssprechung großen Teilen der Rechten nicht passte, wurde sie doch respektiert und durchgesetzt. Die unsäglichen „government shutdowns“, wenn der Kongress das Haushaltsgesetz blockiert und dem Regierungsapparat die Geldmittel fehlen, illustrieren, wie die Legislative die Exekutive kontrolliert.
Über die Jahrzehnte hinweg ist das politische System der USA dennoch präsidialer geworden, was auch zur Polarisierung der Auseinandersetzungen beigetragen hat. Statt Kompromisse zwischen den einzelnen politischen Kräften auszuhandeln, wie sich das die „Founding Fathers“ vorstellten, gewinnen mal die einen, mal die anderen die Wahlen und üben dann – meist für vier oder acht Jahre – die Macht in ihrem Sinn aus. Durch das Wahlsystem hat sich ein Zwei-Parteien-System herausgebildet (wobei sich die Bezeichnungen und Positionen der Parteien über die Jahrzehnte verändert haben).
In diesem Zwei-Parteien-System hat es aber immer wieder Versuche gegeben, eine „Third Party“ zu etablieren. Insbesondere bei den Präsidentschaftswahlen haben die „dritten Kandidaturen“ beachtliche Ergebnisse erzielt, so 1856 der Anti-Einwanderungs-Kandidat Millard Fillmore mit 21,5 Prozent der Stimmen und 1912 der dissidente Republikaner und Ex-Präsident Theodore Roosevelt mit 27,4 Prozent. Manche dieser Parteien sind klar rechts oder links einzuordnen, andere, wie die Libertären, passen nicht in dieses Schema. Auch wenn sie bisher immer gescheitert sind, haben solche Parteien doch häufig das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen beeinflusst, indem sie der einen oder anderen großen Partei Stimmen „weggenommen“ haben. In unserer Serie werden wir auf ein paar dieser Fälle zurückkommen, insbesondere den des grünen Kandidaten Ralph Nader im Jahr 2000.
Polarisierung und Populismus
Da die demokratische wie die republikanische Partei stark unter dem Einfluss der Wirtschaft stehen, führt der Bipartismus dazu, dass radikale linke Politikansätze in den USA unterrepräsentiert sind, wie das mehrmalige Scheitern der Kandidaturen von Bernie Sanders belegt. Ein weiterer Kritikpunkt an der Repräsentativität des Systems bezieht sich auf die niedrige Wahlbeteiligung seit Anfang des 20. Jahrhunderts – meist zwischen 50 und 60 Prozent (in Europa für lange Zeit eher bei 80 Prozent). Doch alle diese Mängel der US-Demokratie verblassen angesichts der Bedrohung für die fortschrittlichen Kräfte, die der Rechtspopulismus der vergangenen Jahrzehnte darstellt.
Auch Mainstream-Beobachter*innen der „ältesten Demokratie der Welt“ wie Donald T. Critchlow haben Grund, sich zu sorgen: Die Verfassungstreue tritt angesichts der starken Polarisierung zwischen Rechts und Links immer mehr in den Hintergrund. Das zeigt sich beim gerade stattfindenden Grabenkampf über die Nominierung eines Richter*innenpostens am Obersten Gerichtshof.
Dass der amtierende Präsident Donald Trump eine Ernennung kurz vor Ende seiner Amtszeit vornimmt, widerspricht nicht der Verfassung. Problematisch ist aber, dass der 2016 ebenfalls von der Republikanischen Partei dominierte Senat eine Nominierung durch Barack Obama verhinderte – mit genau diesem Argument. Obama hatte seinerzeit, ganz im Geist der Verfassung, einen zentristischen Richter vorgeschlagen, doch das wurde von beiden Seiten kaum wahrgenommen. Damals wie heute ging es beiden Seiten darum, einen kurzfristigen Vorteil zu erzielen – ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen für die Glaubwürdigkeit der Institutionen.
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