Öffnung der Schulen: Leistung hat Priorität

Die graduelle Schulöffnung wird hierzulande vor allem durch psychosoziale Faktoren gerechtfertigt. Es ist jedoch fraglich, ob die anvisierte Vorgehensweise im besten Interesse der Schüler*innen ist.

Quelle: Pixabay

Non à la reprise des lycées et écoles en mai, protégeons nos enfants, frères etc…“ – so lautet der Titel einer Ende letzter Woche veröffentlichten Petition. Sie entstand in Reaktion auf die von Bildungsminister Claude Meisch angekündigte graduelle Öffnung der Luxemburger Schulen. Im Petitionstext wird gefordert, den Unterricht erst im September wieder anlaufen zu lassen, um somit gefährdete Menschen besser zu schützen. Die Petition wurde mittlerweile mehr als 12.000 mal unterschrieben.

Aus epidemiologischer Sicht wäre es ohne Zweifel besser, Kontakte weiterhin auf ein Minimum zu reduzieren. Nur müssen auch andere Faktoren in Betracht gezogen werden. Die Regierung wird nicht müde zu betonen, dass das Ankurbeln der Ökonomie zurzeit nebensächlich ist: Der Schutz der Gesundheit hat äußerste Priorität, an zweiter Stelle stehen psychosoziale Kriterien. In der Tat lässt sich eine schrittweise Öffnung der Schulen vor allem durch den Aspekt der psychischen Gesundheit legitimieren. Eine solche Schwerpunktsetzung fällt auf, wenn Meisch die Öffnung damit rechtfertigt, die Kinder würden es nicht länger verkraften, ihre Freund*innen nicht zu sehen. In starkem Kontrast dazu steht das Vorhaben, einen nicht unwesentlichen Teil des Programms noch vor den Sommerferien durcharbeiten und mittels Prüfungen abfragen zu wollen. Wie Meisch anlässlich der Chamberdebatte am Freitag erklärte, soll es den Schüler*innen ermöglicht werden, dieses Schuljahr abzuschließen und das nächste im September ohne Defizite beginnen zu können. Hier zeigt sich, dass es doch weniger um die Psyche junger Menschen geht als vielmehr um Leistungsziele.

Wenn der reguläre Schulunterricht im Mai langsam wieder anläuft, wird dieser wenig Ähnlichkeit damit haben, wie Schule noch vor den Ausgangsbeschränkungen ablief. Die Klassen werden in zwei Kohorten unterteilt, die wöchentlich rotieren: Während die einen die Schulbank drücken, müssen die anderen jeweils zuhause wiederholen. Was die Homeschooling-Kohorte in der ersten Wochen tun soll, während ihre Klassenkamerad*innen in der Schule neuen Lernstoff erwerben, ist unklar. Neues zum Wiederholen gibt es während dieser Zeit nämlich noch nicht. Eine weitere Frage, die sich stellt: Wer unterstützt die Schüler*innen beim Üben zuhause, wenn ihre Lehrkräfte doch zeitgleich dabei sind, die jeweils andere Kohorte zu unterrichten?

Ob in diesen zwei Wochen viel Raum zum Lernen bleibt, ist ohnehin fraglich. Zur Einhaltung der Hygienemaßnahmen wird ein äußerst hoher logistischer Aufwand nötig sein. Daran gilt es sich erst einmal zu gewöhnen. Die Lehrkräfte werden unter anderem dafür sorgen müssen, dass die Schüler*innen beim Betreten des Schulgebäudes ihren Mundschutz tragen, sich die Hände waschen und den nötigen Abstand zueinander halten. Sowohl auf dem Pausenhof als in den Gängen sollen sich möglichst wenig Personen auf einmal aufhalten, was zusätzlicher Koordination bedarf. Die Kantinen bleiben zwar geschlossen, mit einem Mittagessen werden die Schüler*innen dennoch versorgt. Auch dies gilt es zu koordinieren. Ebenfalls zu klären ist: Wie werden „Travaux pratiques“ organisiert? Bekommen die Lehrkräfte Handschuhe zum Verteilen und Einsammeln von Arbeitsblättern? Wie werden die Bibliotheken die Buchausleihe und -rückgabe organisiert? Oder bleiben die Schulbibliotheken etwa gänzlich geschlossen? Was passiert, wenn Schüler*innen ihren Mundschutz vergessen oder sich nicht an die Abstandsregeln halten? Ist Paaren der Körperkontakt gestattet? Werden die Klassenzimmer, Toiletten und Türklinken in den Gebäuden mehrmals täglich desinfiziert? Und verfügen alle Schulen über ausreichend Handseife?

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Wer sich das im Secondaire bereits als Herkulesaufgabe vorstellt, der denke nun an Kitas und den Cycle 1. Hier kommt unter anderem noch hinzu, dass viele Kinder Hilfe brauchen beim An- und Ausziehen, beim Essen, oder etwa beim Toilettengang. Doch nicht nur deshalb ist es mehr als fraglich, ob die Abstandregeln eingehalten werden können. Kleine Kinder toben rum, fassen ihre Mitmenschen spontan an, wollen getröstet werden, nachdem sie hingefallen sind. Was wird es mit den Kleinen machen, wenn sie wochenlang für solches, völlig altersgerechtes Verhalten getadelt werden? Auch was das gemeinsame Spiel, einer der zentralen Aktivitäten im Cycle 1, betrifft stellt sich die Frage: Wird dieses gänzlich untersagt?

Immerhin besteht bei den Kleinsten weniger Druck, ein gewisses Lernpensum abzuarbeiten. Bleibt es bei den von Meisch angekündigten Prozeduren, werden ältere Schüler*innen jedenfalls nicht daran vorbeikommen, ausreichend Platz in ihrem Kopf zu schaffen, um sich aufs Lernen zu konzentrieren. Im Sinne der Schüler*innen ist der angekündigte Plan jedenfalls nicht. Es stellt sich die Frage, ob nicht wie etwa in Baden-Württemberg und Hessen, auch hierzulande das Sitzenbleiben für dieses Jahr abgeschafft werden sollte.

Trotz Petition ist die Kritik hierzulande im Vergleich zum Ausland noch relativ verhalten. In Deutschland wird mittlerweile unter den Hashtags #SchulstreiksDE und #SchulboycottDE gegen eine Öffnung der Schulen protestiert. Eine solche wird auch von wissenschaftlichen Institutionen unterschiedlich bewertet. Sowohl die deutsche Wissenschaftsakademie Leopoldina als auch das Robert-Koch-Institut haben eine phasenweise Öffnung empfohlen, wobei erstere riet, mit den untersten Klassen zu beginnen, und zweitere mit den obersten. Forscher*innen der außeruniversitären Wissenschaftsorganisation Helmholz-Gemeinschaft dagegen haben vor einer verfrühten Lockerung gewarnt. Die Forscher*innen plädieren sogar dafür, den Lockdown noch zusätzlich zu verschärfen, um so die Infektionen völlig zu stoppen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Modellrechnungen helfen zwar dabei, fundierte Entscheidungen zu treffen, welche Richtung letztendlich eingeschlagen wird, bestimmt jedoch die Politik. Was den Schulbetrieb angeht, so wird noch vieles zu klären sein, bevor es losgehen kann.


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