Russland: Der Feind steht queer

Die russische Regierung hat die LGBTIQA+-Bewegung als „extremistisch“ eingestuft und verboten. Für nicht-heterosexuelle Personen und ihre Unterstützer*innen hat das katastrophale Folgen. Die Suche nach innergesellschaftlichen Feinden soll die Bevölkerung auch auf die Wahlen im kommenden Jahr einschwören.

Protest gegen die Ermordung der LGBTIQA+-Aktivistin Jelena Grigorjewa im Juli 2019 in Sankt Petersburg: Solche öffentlichen Kundgebungen können nun noch leichter kriminalisiert werden, seit die „internationale LGBT-Bewegung“ vom russischen Obersten Gerichtshof als „extremistisch“ eingestuft und verboten worden ist. Foto: (EPA-EFE/ANATOLY MALTSEV)

Glaubt man den jüngsten Meinungsbildern aus der Russischen Föderation, dann fängt die dortige Gesellschaft an, kriegsmüde zu werden. Zum ersten Mal seit Beginn entsprechender Umfragen ist demnach der Anteil derer, die einem Truppenabzug aus der Ukraine und Friedensgesprächen zustimmen würden, ohne dass die proklamierten Kriegsziele erreicht wurden, größer (40 Prozent) als der Anteil jener, die damit nicht einverstanden wären (33 Prozent). Um ganze 14 Prozent sei die Zahl derer, die sich gegen einen Rückzug ohne das Erreichen der militärischen Ziele aussprechen, seit Februar 2023 gesunken, so das russische oppositionelle Meinungsforschungsinstitut „Chronicles“ auf der Grundlage einer Telefonumfrage, die Mitte Oktober unter 1.600 Personen durchgeführt worden ist.

Das kann Präsident Wladimir Putin nicht gefallen – auch wenn Kommentator*innen immer wieder betonen, dass sich der größte Teil der russischen Gesellschaft angesichts des Krieges weiterhin passiv und desinteressiert verhalte. Denn die Spannungen in der Gesellschaft nehmen offenbar trotzdem zu. Wie der US-amerikanische Think Tank „Institute for the Study of War“ (ISW) unter Berufung auf den ukrainischen militärischen Nachrichtendienst GUR berichtet, soll es insbesondere im Westen Russlands zunehmend ethnische und soziale Konflikte und Proteste geben.

Sicher ist: Ökonomisch sieht es für einen Großteil der Bevölkerung keinesfalls rosig aus. Zwar werden aufgrund der rüstungsbedingten Vollbeschäftigung hohe Löhne bezahlt, doch sehen sich diese angesichts der Inflation und hoher Preise für Konsumgüter wieder relativiert. Und auch wenn ein einfacher Soldat fast das Dreifache des Durchschnittslohns verdient, gibt es häufig Beschwerden wegen zu spät oder gar nicht ausgezahlten Solds. Das britische Verteidigungsministerium veröffentlichte überdies in der vergangenen Woche einen Tweet, wonach russische Behörden die Frauen von Frontsoldaten bezahlen oder einschüchtern, damit diese nicht, wie im November geschehen, gegen den „unbefristeten Militärdienst“ ihrer Männer demonstrieren.

„Der Kreml hat es immer wieder versäumt, die russische Gesellschaft auf den Krieg einzustimmen, um die russischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen, und die schwankenden Umfragewerte und die verschärften sozialen Spannungen deuten darauf hin, dass sich dieses Versagen im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahlen 2024 spürbar auf die russische Gesellschaft auswirkt“, resümierte das ISW daher in seinem Bericht vom 30. November.

Geschichte eines Feindbilds

Für wie repräsentativ man solche Momentaufnahmen und Einschätzungen auch halten mag: Unübersehbar ist, dass die Repression in der Russischen Föderation seit Beginn der Invasion der Ukraine noch einmal deutlich zugenommen hat. Das Regime um Präsident Putin will sich offenbar nicht mehr allein auf eine Gesellschaft verlassen, die im Gegenzug für ein Mindestmaß an Versorgung den Staat in all seiner Willkür gewähren lässt, wie der russische Soziologe Lew Gudkow und andere diese Form der „Demobilisierung“ beschreiben. Es wird vermehrt an innergesellschaftlichen Feindbildern gearbeitet, um die Bevölkerung gegen diese in Stellung zu bringen und zu einen.

Im Mittelpunkt solcher Feindbildproduktionen steht die russische LGBTIQA+-Bewegung, die das Regime schon seit Jahren als genuinen Ausdruck des „dekadenten, liberalen Westens“ und als dessen Vehikel, um die russische Gesellschaft von innen heraus zu unterwandern und zu zersetzen, präsentiert. Am Donnerstag vergangener Woche nun hat der Oberste Gerichtshof in Russland eine nicht näher definierte „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ qualifiziert und verboten. Diese würde „sozialen und religiösen Unfrieden stiften“.

Der Schritt stellt abermals eine drastische Steigerung der Kriminalisierung von LGBTIQA+-Personen und den entsprechenden Initiativen dar, die 2013 mit dem Verbot „homosexueller Propaganda“ juristisch ihren Anfang genommen hat. Auch dieses war im vergangenen Dezember noch einmal verschärft worden. Es verbietet vermeintliche „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen und Pädophilie“ nun nicht mehr nur unter Minderjährigen, sondern unter Menschen aller Altersgruppen. Im Juli hatte Präsident Putin zudem ein Gesetz unterzeichnet, das sowohl die Änderung von Geschlechtskennzeichnungen in Pässen als auch geschlechtsangleichende Operationen untersagt. Menschen, die die Geschlechtsmarkierung in ihren Pässen bereits geändert haben, dürfen keine Kinder adoptieren.

Unmittelbare Folgen

Das nun ausgesprochene Verbot wird offiziell zwar erst am 10. Januar kommenden Jahres in Kraft treten, doch die Auswirkungen des Richterspruchs wurden unmittelbar klar. Bereits in der auf das Urteil folgenden Nacht führte die russische Polizei Razzien in mehreren Moskauer Nachtclubs durch, in denen Veranstaltungen für LGBTIQA+-Personen stattfanden. Der schwule Nachtclub „Central Station“ in Sankt Petersburg gab bekannt, schließen zu müssen, da der Vermieter des Clubs sich aufgrund des Gesetzes weigere, den Mietvertrag beizubehalten. Die Dating-App „Pure“ ermöglicht es russischen Nutzer*innen nicht länger, ihre sexuelle Orientierung anzugeben. Und das Menschenrechtsprojekt Delo, das LGBTIQA+-Personen in Russland rechtlichen Beistand leistete, gab bekannt, sich „aufgrund äußerer Umstände“ aufzulösen.

Der Menschenrechtsanwalt Max Olenichew weist darauf hin, dass eine Struktur als öffentliche Vereinigung „tatsächlich existieren muss“, damit sie gemäß dem Gesetz zur „Bekämpfung extremistischer Aktivitäten“ als „extremistisch“ eingestuft werden kann. Das ist laut Olenichew aber rechtlich nur dann der Fall, wenn eine Gründungsversammlung abgehalten, eine Charta verabschiedet und ein Führungsgremium gewählt worden ist. All dies trifft auf die kriminalisierte LGBTIQA+-Bewegung nicht zu.

Wie genau das Gericht dem zum Trotz zu seiner Entscheidung gekommen ist, behält es für sich, denn eine detaillierte Begründung des Urteils wurde bislang nicht veröffentlicht. Die Folgen des Richterspruchs werden jedenfalls drastisch sein. De facto muss jede LGBTIQA+-Person, die ihre sexuelle Identität nicht verheimlicht, mit Strafverfolgung wegen „extremistischer“ Aktivitäten rechnen. Dasselbe gilt für nicht näher definierte Formen der „Unterstützung“. Es drohen langjährige Haftstrafen und ein Eintrag in eine Liste vermeintlicher „Terroristen und Extremisten“. Wer sich darauf wiederfindet, dessen Bankkonten werden eingefroren.

„Die Einstufung von ‚LGBT‘ als extremistische Bewegung ist der Beginn von Putins Wahlkampf, so Iwan Schdanow gegenüber der oppositionellen russischen Nachrichtenplattform „Meduza“. Für den Direktor der Anti-Korruptions-Stiftung von Alexei Nawalny ist das neue Gesetz „ein Schritt zur vollständigen Iranisierung“ und Isolierung Russlands. Das Resultat werde „eine völlige Ablenkung von den wirklichen Problemen sein, die Schaffung von mythischen Feinden, die Diskriminierung der Bevölkerung aus verschiedenen Gründen, das ist nur der Anfang“.

Unter den Stimmen, die „Meduza“ zu dem neuen Gesetz gesammelt hat, finden sich auch jene von unmittelbar Betroffenen. „Im Moment ist es besser, seine Energie darauf zu richten, zu verhindern, dass Putin wiedergewählt wird“, meint etwa Irina aus Jekaterinburg, „dann können wir für die Rechte kämpfen, die wir wollen. Das Putin-Regime verfolgt alle Arten von ‚Anderssein‘.“

Eine Forschungsgruppe am University College in Dublin, die Hassverbrechen gegen LGBTIQA+-Personen in der Russischen Föderation untersucht, kam zu dem Ergebnis, dass homophobe Gewalt seit der Verabschiedung des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahre 2013 drastisch zugenommen hat. Für den Zeitraum von 2010 bis 2020 habe man „1.056 Hassverbrechen gegen 853 Personen feststellen können, von denen 365 tödlich endeten“, so Sergei Katsuba, der an dem Projekt beteiligt ist, in einem Beitrag für das Periodikum „Russland-Analysen“. Seit Verabschiedung des genannten Gesetzes sei die Anzahl der einschlägigen Verbrechen um das Dreifache gestiegen. Man erfasse jedoch nur die Spitze des Eisbergs, denn man habe nur jene Verbrechen berücksichtigt, die vor Gericht gelandet sind. Laut dem „Russian LGBT Network“ spiegeln diese Fälle lediglich zwischen zwei und sieben Prozent der Hassverbrechen wider. Angesichts des neuen Gesetzes dürften es sich Betroffene von homophober Gewalt künftig noch genauer überlegen, ob sie dies zur Anzeige bringen.

Ähnlich vage wie nun das Gesetz gegen die „internationale LGBT-Bewegung“ ist auch bereits das Gesetz über „ausländische Agenten“ aus dem Jahr 2012 formuliert. In beiden Fällen ist die Einflussnahme von außen ein zentraler Aspekt; und auch auf die Liste „ausländischer Agenten“ wurden laut der Politologin Radzhana Buyantueva von der Université libre de Bruxelles mit am häufigsten die Verteidiger*innen von LGBTIQA+-Rechten gesetzt.

Auch Antisemitismus nimmt zu

Eine weitere besorgniserregende Entwicklung stellt die Zunahme an Antisemitismus in Russland dar. Dies nicht erst seit Beginn des Gaza-Kriegs und der Hetzjagd eines antisemitischen Mobs auf vermeintliche Juden und Israelis nach der Landung einer aus Israel kommenden Maschine, wie auf dem Flughafen Machatschkala Ende Oktober in der russischen Teilrepublik Dagestan geschehen. Bereits seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine mehren sich entsprechende Berichte.

Bis dahin hatte Wladimir Putin einigen Wert darauf gelegt, gegen offene Manifestationen von Antisemitismus vorzugehen. Das hatte allerdings auch damit zu tun, dass der Judenhass nicht zuletzt von russischen Nationalisten stammte und damit aus einer politischen Ecke, die Putin bei zunehmender Radikalisierung selbst gefährlich zu werden drohte. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine wird Antisemitismus jedoch wieder offen artikuliert, auch in renommierten Medien. So erschien im September vergangenen Jahres ein Artikel in der Tageszeitung „Moskovskij Komsomolets“, in welchem der Schriftsteller Dmitry Popov bekannte russische Juden auflistete, die ihm zufolge nicht patriotisch genug sind und die er daher als „ausländische Agenten“ bezeichnete – in Anlehnung an das oben genannte Gesetz.

Der Anstieg des Antisemitismus trägt dazu bei, dass seit Beginn der Invasion Tausende russischer Jüdinnen und Juden das Land verlassen haben. Mehr als 20.000 Menschen, rund 15 Prozent der geschätzten jüdischen Bevölkerung Russlands, sind allein 2022 nach Israel ausgewandert. Auch Pinchas Goldschmidt, der fast dreißig Jahre lang als Oberrabbiner von Moskau tätig war, flüchtete im März 2022, nachdem er sich geweigert hatte, der Aufforderung nachzukommen, den Einmarsch Russlands in der Ukraine öffentlich zu unterstützen. Seitdem hat er die russischen Jüdinnen und Juden dazu aufgerufen, das Land zu verlassen.

„Es sind nicht nur die öffentlichen Äußerungen, sondern auch das Gefühl, dass der Antisemitismus auf einer vulgären, alltäglichen Ebene zurück ist“, sagt die russische Wissenschaftlerin Ksenia Krimer zum aktuellen gesellschaftlichen Klima. Und auch Denis Wolkow vom unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitut „Lewada-Zentrum“ warnte in der britischen Tageszeitung „Guardian“ vor einem „schlummernden Antisemitismus“, der aktiviert werden könne, „wenn Menschen extrem aufgebracht sind“.

Autoritäre Zurichtung

Es scheint, als ob die „demobilisierte Gesellschaft“ Russlands, die die staatliche Politik passiv über sich ergehen lässt, vermehrt durch eine „negative Mobilisierung“ ergänzt oder sogar abgelöst werden soll, indem man die Gesellschaft auf Feindbilder einschwört. Diese Feinde werden nach Außen im Westen und der vermeintlich vom Westen gesteuerten Ukraine ausgemacht, andererseits im Inneren der russischen Gesellschaft selbst, wo sie, wie die „internationale“ LGBTIQA+-Bewegung oder als „ausländische Agenten“ denunzierte Jüdinnen und Juden, den zerstörerischen Einfluss des Westens im eigenen Land repräsentieren sollen, den es gemeinsam zu bekämpfen gilt.

In einem diesen Sommer auf Deutsch in der Zeitschrift „Osteuropa“ erschienen Artikel bezeichnet der russische Soziologie Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum die allmähliche Schaffung einer verbindlichen „patriotischen Ideologie“ als einen zentralen Aspekt der autoritären Zurichtung der russischen Gesellschaft. Dazu zähle im Kern „eine Zurückweisung des Primats der Menschenrechte“, wie sie derzeit insbesondere im massiven Vorgehen gegen LGBTIQA+-Personen, aber auch im zunehmenden Antisemitismus zu beobachten ist. „Feindbilder können sich ändern, aber sie erfüllen immer dieselbe entscheidende Funktion“, so Gudkow: „Sie helfen dem Regime, Leute um sich zu scharen, Frustration und Ängsten ein Objekt zu bieten und eine drastisch vereinfachte Realität zu konstruieren […] An die Stelle privater Interessen und Sichtweisen tritt eine allgemeine, kollektive Bedrohung, die dazu nötigt, sich hinter die Regierung zu stellen und dem Staatsoberhaupt die Eigenschaften eines ‚Führers‘ zuzuerkennen.“

Auch die Politikwissenschaftlerin Olesya Zakharova schreibt in einer aktuellen Analyse, dass die „Schaffung einer unerschütterlichen Loyalität in der Bevölkerung, die nicht auf einem rationalen Austausch zwischen dem Staat und seinen Bürgern beruht, sondern auf einer irrationalen Loyalität gegenüber dem Führer“ im Zentrum der ideologischen Formierung der russischen Gesellschaft steht. Ziel sei die Schaffung „einer militärischen Gesellschaft, für die der Krieg kein Mittel, kein Ziel, sondern eine Lebensform ist“.


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