Saleem Haddad: Guapa

Saleem Haddad jagt die Leser*innen seines Romans „Guapa“ einen Tag lang durch eine namenlose arabische Stadt. Der Erzähler Rasa ist stets an ihrer Seite: Ein schwuler Mann, der gegen Regierungen protestiert und Liebesbotschaften auf die Rückseite eines Fotos schreibt.

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„The morning begins with shame.“ Das ist der erste Satz aus „Guapa“, dem Debütroman von Saleem Haddad. Die Scham, die der Erzähler Rasa am Morgen empfindet, lässt den Tag über nicht nach. An sich begleitet sie ihn schon sein ganzes Leben: Ein Leben, das vom Kampf um Anerkennung und von der Selbstfindung in einer Welt voller Feindseligkeit geprägt ist.

Rasa wohnt in einer namenlosen Stadt im Nahen Osten. Er arbeitet als Übersetzer, lebt nach dem Tod seines Vaters und dem Verschwinden seiner Mutter zusammen mit seiner Großmutter und einer Haushälterin in einer kleinen Wohnung. Im Verborgenen liebt und küsst er Taymour. Die Männer leben in der Öffentlichkeit nach den Regeln der vorherrschenden homofeindlichen Gesellschaftsordnung. Taymour ist mit einer Frau verlobt. Rasa hatte in der Vergangenheit heterosexuelle Beziehungen. Zwar wissen ein, zwei Freund*innen von ihrer dreijährigen Affäre, doch abgesehen davon ist sie ein wohlbehütetes Geheimnis hinter zugezogenen Gardinen.

Mit einem Blick von Rasas Großmutter durchs Schlüsselloch des Schlafzimnmers kippt die Situation: Sie ertappt die Liebhaber. Ähnlich wie der Blick durchs Schlüsselloch einen zentralen Aspekt der Ich-Erfahrung in Jean-Paul Sartres Scham-Theorie ausmacht, stellt er auch in „Guapa“ einen Moment der schamvollen Erkenntnis dar, im eigenen Dasein ertappt und unbemerkt beobachtet worden zu sein, ohne wirklich einen Einfluss darauf zu haben, was die anderen sehen und wie sie es verstehen.

Rasa und Taymour wissen bis zuletzt nicht, was genau die homofeindliche Großmutter gesehen hat. Allein die Gewissheit, dass sie gesehen wurden reicht aus, um Rasas Identitätskonflikte zu bekräftigen und seine Homosexualität in einem queerfeindlichen Umfeld real werden zu lassen. Rasa ist plötzlich der andere, der schwule Enkel, die Scham der Familie – ein anderer, den er nicht sehen kann oder nie sehen wollte. Der indiskrete Blick und die anschließende Hysterie stürzen Rasa in eine Krise, in der er auf sein Studium in den USA, auf sein aktivistisches Engagement, auf die Revolutionsbewegungen in seiner Heimatstadt und auf seine Kindheit zurückblickt. Es sind Lebensabschnitte, in denen er sich positionieren musste und unter der von der Gesellschaft aufgedrückten Maske zu ersticken drohte.

Haddad verknüpft die komplexe Liebesgeschichte und Rasas persönliches Schicksal mit spannenden Nebenhandlungen: Rasa sucht nach einem befreundeten Travestie-Künstler, begleitet eine Journalistin in abgelegene Stadtteile, er schreibt Liebesbotschaften auf die Rückseite des Fotos eines verschwundenen Sohnes – das Foto vertrauen ihm verzweifelte Eltern an, die die Journalistin interviewt – und duckt sich auf dem Weg zu einer Hochzeitsfeier, die sich als traumatisierendes Erlebnis entpuppt, vor den Check-Points der Regierung. Rasas Versteckspiel vor sich selbst und vor anderen, seine verzweifelte Suche nach Zugehörigkeit endet schließlich mit Geschrei und zerbrochenen Bilderrahmen.

Die Handlung erstreckt sich über einen Tag während des Arabsichen Frühlings. Haddad zeichnet das Bild einer von politischen Konflikten zertrümmerten Stadt, in der jede Hoffnung im Keim erstickt wird. Das Regime antwortet mit Schlägen, Verhören und Überwachung auf Querdenker*innen. Die Stadt steckt in einer politischen Krise und Rasa mitten in dem besagten Identitätskonflikt. Das Buch thematisiert eindrücklich die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und ihr Ineinandergreifen: Rasa ist schwul, Rasa ist Araber, Rasa ist ein Aktivist, Rasa ist ein potenzieller Terrorist, Rasa ist Enkel, Rasa ist ein Mann im heiratsfähigen Alter – er ist für jeden jemand anderes und sich selbst dabei immer im Weg. Der Erzähler hinterfragt Männlichkeitsbilder kritisch und nimmt die westliche, aber auch die arabische Sicht auf den Nahen Osten und seine Gesellschaft auseinander. Dieses Zusammenspiel von Identitätsfragen, emotionaler Zerrissenheit, Politik und Weltsicht ist mitreißend, notwendig und herausfordernd.

Der Autor Haddad, der in Kuwait-Stadt geboren wurde und unter anderem für Ärzte ohne Grenzen humanitäre Arbeit in Syrien und Jemen leistete, sprach beim Literarischen Colloquium des Empfindlichkeiten Festivals in Berlin 2016 über die Kritik an seinem Roman. Die Leser*innen aus dem Nahen Osten sollen sich weniger an dem queeren Handlungsstrang gestört haben als an der Gewichtung der dargestellten Konflikte: Warum die Probleme eines queeren Charakters in den Vordergrund schieben, wenn im Nahen Osten ein Krieg wütet? „Actually when we are looking at the violence in the Middle East […] – so much of it is being driven by a violent, toxic masculinity and this is why I feel a very strong solidarity with the idea of a global queer struggle that links our own struggles in our own society with these other forms of violent masculinities that take place“, lautete Haddads Antwort auf die Rückmeldungen.

Wer die besagte Kritik anbringt, hat Haddas Buch missverstanden oder ist unfähig die Reichweite seines Blickwinkels zu erkennen. Haddad spricht nicht losgelöst vom größeren Kontext über das Schicksal queerer Charaktere – er liefert eine scharfe und vielschichtige Gesellschaftskritik, die endlich auch mal marginalisierte Personengruppen einschließt, ohne sie erzählerisch zu sehr an den Pranger zu stellen, etwa im Sinne einer einfach gestrickten Coming-Out-Story. Haddad führt vor, wie tief Queerfeindlichkeit sitzen kann und inwiefern sie Ausdruck kaputter Gesellschaftsstrukturen ist.

Angesichts seiner inhaltlichen Härte, ist das Buch sprachlich eher zahm, teilweise sogar unbeschwert. Haddad schreibt authentische Dialoge und Szenen, ohne sich dabei in ausschweifenden Beschreibungen zu verlieren oder laut und vulgär zu werden. Er schafft eine tragisch-komische Atmosphäre, die einen gleichzeitig beunruhigt und zum Lachen bringt. Das Buch eröffnet eine Perspektive auf das Leben und die Welt, die in der westlichen Gegenwartsliteratur ihres Gleichen sucht. „Guapa“ ist ein Buch, das philosophischen Theorien über das Selbst Leben einhaucht und politische Konflikte anders als gewohnt erfahrbar macht.

Das Buch ist in der englischen Originalausgabe (Europa Editions: 2016) und unter anderem in deutscher Übersetzung von Andreas Diesel (Albino Verlag: 2019) erhältlich.


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