Den vielen ein bisschen Wohlstand und Freiheit verschaffen, den wenigen mit Härte und Unterdrückung begegnen … Das Erfolgsrezept für „sanfte Diktaturen“ stößt in China an seine Grenzen.
Sowohl Entscheidungsträger*innen als auch Bürger*innen müssen auf allen Ebenen stärker für eine zivilisierte Entwicklung und Nutzung des Internets eintreten. Dazu gehören zum Beispiel die Schaffung einer gemeinsamen Plattform gegen Gerüchte und Fake News sowie Gesetze gegen falsche und respektlose historische Referenzen. Außerdem müssen die Möglichkeiten, schädliche Inhalte zu entfernen, verbessert werden. Das alles war Thema bei der „China Cyberspace Civilization“, wie die South China Morning Post (SCMP) am 19. November berichtete.
„Zivilisiertes“ Internet
In puncto Kontrolle über das, was sich im Netz verbreitet, ist China sicherlich viel weiter als andere Nationen. Wie hilfreich das sein kann, erfuhr die Athletin Wang Luyao, nachdem sie bei den Olympischen Spielen in Tokyo einen Medaillensieg verpatzt und ein Selfie mit einer Entschuldigung online gesetzt hatte. Die Luftgewehrschützin erntete Beschimpfungen, die dann aber von Weibo, dem chinesischen Twitter, rapide gelöscht wurden. Laut SCMP wurden deswegen auch 33 Konten für mehrere Monate gesperrt. Anders als im westlichen Internet, wo Beschimpfungen und Fake News oft lange online bleiben, zögert man in China nicht, Zensur auszuüben – und brüstet sich damit.
Zweifelsohne ist diese Seite des chinesischen „Modells“ ambivalent. Maßnahmen für ein „zivilisiertes“ Internet werden auch in den westlichen Demokratien diskutiert und zum Teil bereits umgesetzt, sogar unter dem Beifall großer Teile des fortschrittlichen politischen Spektrums. Doch das „Modell“ hat auch eine hässliche, von brutaler Repression und staatlicher Willkür geprägte Seite. Seit Kurzem liegt der Fokus der internationalen Berichterstattung auf der Situation der uigurischen Muslim*innen – obwohl die westlichen Staaten gerade im Umgang mit Unabhängigkeitsbewegungen und politischem Islam selber gerne den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen.
Die chinesischen Mittel zur Unterdrückung solcher Bewegungen sind allerdings viel brutaler und umfassender als jene, die beispielsweise Großbritannien, die USA, Spanien oder Frankreich einsetzen, zumindest innerhalb der eigenen Landesgrenzen. Sie werden schon seit Langem auch gegen andere ethnische Minoritäten wie die Tibeter*innen und die Mongol*innen angewendet sowie – hierüber wird ebenfalls regelmäßig berichtet – gegen Aktivist*innen für Menschenrechte. Die Entwicklungen in Hongkong, wo am vergangenen Wochenende die Parodie einer Wahl veranstaltet wurde, sind gewissermaßen eine überfällige Angleichung der Situation in der ehemaligen britischen Kolonie an die im Rest der Volksrepublik. Von dieser Politik, die sich mit dem Amtsantritt des Präsidenten Xi Jinping 2013 weiter verschärft hat, ist allerdings nur ein geringer Teil der chinesischen Bevölkerung betroffen. Was die westliche Berichterstattung kaum im Blick hat, sind die rapiden Veränderungen der letzten paar Jahre, was den Rest der Bevölkerung betrifft.
#MeToo trifft Sänger, verschont Politiker
Dem Schicksal der #MeToo-Bewegung in China zum Beispiel wurde wenig Aufmerksamkeit zuteil – zumindest bis die Tennisspielerin Peng Shuai (2014 als erste Chinesin Nummer 1 der Weltrangliste) sich Anfang November auf Weibo als Opfer outete und daraufhin von heute auf morgen verschwand. Dabei hatte der chinesische Staat bis dahin keineswegs alle Anliegen von mit sexuellem Gewaltmissbrauch konfrontierten Frauen abgeblockt. Im Falle des Sängers Kris Wu, der ebenfalls auf Weibo von der Influencerin Du Meizhu der Vergewaltigung beschuldigt wurde, kam es zu einer Verhaftung und Anklage. Außerdem wurde Wu vom Verband für Darstellende Kunst auf eine schwarze Liste gesetzt.
Der Unterschied: Peng Shuai beschuldigte den Ex-Vizepremier Zhang Gaoli, legte sich also mit der Politik an. Die Internet-Kontrollbehörden versuchten, das Ganze zu vertuschen, und gingen laut Guardian sogar so weit, das Schlüsselwort Tennis zu blocken – umsonst. Nachdem die internationale Women’s Tennis Association (WTA) ihre Besorgnis ausgedrückt hatte und forderte, Pengs Vorwürfen nachzugehen, wurde ein Videogespräch mit dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees Thomas Bach arrangiert. Doch das konnte weder Frauen- und Menschenrechtsgruppen noch die WTA überzeugen. Auch nach dem wenig glaubwürdigen Interview mit einer Zeitung aus Singapur am vergangenen Wochenende blieb die WTA bei ihrer Entscheidung, Turniere in China aus Sicherheitsgründen auszusetzen. Die Angelegenheit ist hochsensibel angesichts der Boykott-Forderungen für die Winterspiele im Januar in Peking, die im Kontext der Unterdrückung der Uigur*innen und der allgemeinen Stimmungsmache gegen China aufgekommen sind.
Der Fall Peng Shuai ist gewissermaßen die jetzt auch im Westen sichtbar gewordene Spitze des Eisbergs staatlicher Eingriffe zur umfassenden Kontrolle des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Das Spektrum der Betroffenen ist breit. Vor knapp über einem Jahr traf es den Alibaba-Konzern, als die Regierung den Börsengang des Subunternehmens Ant Group kurzfristig stoppte. Es folgte eine Untersuchung zur Monopolmacht des Konzerns und eine Rekordstrafe in Höhe von 2,8 Milliarden Dollar. Seither sind mehrere der mächtigsten Konzerne Chinas von staatlicher Seite auf intransparente Weise gemaßregelt oder bestraft worden. Auch hier pokert die Regierung hoch: Im Westen können vielleicht manche Linke diesem Vorgehen etwas abgewinnen, für die Finanzmärkte und Multis sind sie aber ein Alarmsignal: Wenn selbst Firmen in chinesischen Händen vor staatlicher Willkür nicht mehr sicher sind, wird dieser an sich attraktive Wirtschaftsstandort noch risikobehafteter.
Kontrolle über Geschichte und Geschlechtlichkeit
Innerhalb Chinas hatte bereits Monate vor dem Fall Peng Shuai das plötzliche Verschwinden von Zhao Wei für Betroffenheit gesorgt. Über die Gründe dafür wird immer noch spekuliert – die berühmte Schauspielerin hatte jedenfalls keine #Metoo-Vorwürfe oder regierungskritischen Aussagen artikuliert. Trotzdem ist laut SCMP im chinesischen Internet ihr Name aus allen Filmen und Videos getilgt worden. Vielleicht, weil sie 2017 in einen Finanzskandal verwickelt war? Oder weil sie 2001 ein Kleid mit einer japanischen Kriegsflagge getragen hatte? Oder vielleicht einfach, weil sie Millionärin war?
Doch es trifft nicht nur die Mächtigen und Reichen. Die SCMP berichtete über zwei Fälle von Akademikerinnen, die vergangene Woche versetzt bzw. entlassen wurden. Die eine hatte sich dafür ausgesprochen, den umstrittenen japanischen Yasukuni-Schrein weniger zu tabuisieren und sogar zu besichtigen. Die andere hatte in einem Journalismuskurs die offizielle Opferzahl des Nanking-Massakers hinterfragt. Beide Fälle hatten online einen Sturm nationalistischer Entrüstung hervorgerufen. Wie sensibel der Umgang mit der Vergangenheit ist, zeigen auch andere Fälle, in denen aufgrund des „Gesetzes zum Schutz der Held*innen und Märtyrer*innen“ Personen verfolgt und Internetinhalte gelöscht wurden.
Über solche „politischen“ Inhalte hinaus werden aber auch schon mal Wissenschaftsblogs, Videos von Influencer*innen oder Fangruppen von Popstars als gefährlich eingestuft und verschwinden. Insbesondere Letztere besitzen ein nicht geringes Potenzial, Menschen zu mobilisieren. Dies gilt auch für die ins Fadenkreuz der Zensur geratene Frauen- und LGBT-Bewegungen. Diesbezüglich galt die Volksrepublik bis vor ein paar Jahren als – im ostasiatischen Kontext – recht liberal. Das hat sich gründlich geändert. Die Regulierungsbehörde für Medien versucht neuerdings, wie die SCMP schreibt, gegen „verweichlichte“ Pop-Ikonen im Internet vorzugehen und stattdessen „korrekte Schönheitsstandards“ wiederherzustellen – also solche, die den traditionellen Gender-Stereotypen entsprechen. Dass hiergegen, wie auch gegen den Umgang mit Peng Shuai, immer noch Widerspruch geäußert wird, zeigt, dass die chinesische Zivilgesellschaft nicht so unterdrückt ist, wie es westliche Propaganda oft darstellt. Noch nicht, muss man sagen, denn seit vergangenem Sommer sind insbesondere die LGBT-Gruppen willkürlichen Internet-Sperrungen ausgesetzt und Anfang November stellte die für ihre vergangenen Kampagnen bekannte Gruppe „LGBT Rights Advocacy“ ihre Aktivitäten ein.
Xi bono?
Worin diese neue Welle von Kontrolle und Repression in China gründet, ist nicht ganz klar. Eine These ist, dass es um das von Xi Jinping angekündigte Streben nach „common prosperity“ (gemeinsamer Wohlstand) gehe. Zu einem solchen Umverteilungsprojekt passt, dass es Konzernen und Millionär*innen an den Kragen geht – auch wenn unklar bleibt, nach welchen Regeln diese zur Kasse gebeten werden und wie die Verteilung erfolgt. Dass dabei auch alle politische oder gesellschaftliche Kritik abgewürgt wird, erscheint allerdings wenig zielführend. Andersherum kann man in Xis Vorgehen auch eine Rückkehr zum Traditionalismus sehen, in dessen Namen die im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung eingedrungene westliche Modernität wieder zurückgedrängt wird. Dazu passt das Vorgehen gegen die wirtschaftliche Elite nicht wirklich, denn diese war naturgemäß eher konservativ eingestellt.
Deswegen erscheint eine dritte Interpretation, die ideologische Motive nur als Hilfskonstrukte betrachtet, nicht unplausibel. In Wirklichkeit könnte es einfach um die Festigung der Macht und das Streben nach Alleinherrschaft für Xi Jinping gehen. Einerseits können im Namen der „common prosperity“ nach den politischen auch die wirtschaftlichen Machtpole ausgeschaltet werden, die sich gegen Xi stellen könnten. Andererseits werden mögliche politische Gegenbewegungen von unten im Vorfeld bekämpft, indem jedes Aufbegehren als „unzivilisiert“ oder „gegen die chinesischen Werte gerichtet“ gebrandmarkt wird.
Eine erschreckende Vorstellung, bedenkt man, wie mächtig der Präsident ist und wie viel Schaden er anrichten kann. Doch das Streben nach Machtkonzentration und Monolithismus birgt auch Gefahren für Xi selber. Vier Jahrzehnte lang hat die Kommunistische Partei Chinas eine beachtliche politische Legitimität aufrechterhalten, indem sie es schaffte – über alle Restriktionen und Rücksichtslosigkeiten hinaus – verschiedene politische Strömungen zu integrieren und flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Diese Ein-Parteien-Herrschaft war von innen heraus viel stabiler als das, was man im Westen mit dem Wort „Diktatur“ verbindet. Für eine Ein-Mann-Herrschaft auf Basis von Clan-Loyalitäten und rigider Repression gilt das nicht.