Deutsche Flüchtlingspolitik: Verordnete Krise


Lange hatte die deutsche Bundesregierung eine EU-weit schärfere Asylpolitik gebremst – auch aufgrund menschenrechtlicher Bedenken der Grünen. Nun jedoch erfolgte eine als „Kompromiss“ verkaufte Kehrtwende. Damit rückt auch die Umsetzung eines ganzen Maßnahmenpakets näher, das die EU-Kommission noch vor den Wahlen zum Europaparlament im kommenden Jahr durchdrücken will.

Beim Thema Asylrecht gibt es für deutsche Politiker nur noch eine Richtung: hin zu mehr Verschärfungen. Den jüngsten diesbezüglichen Gesetzesentwurf hat die Bundesregierung Mitte Oktober vorgelegt. Unter anderem sollen Ausweisungen wegen des bloßen Verdachts, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein, ermöglicht werden. Bisher war eine Verurteilung nötig. Abgelehnte Asylsuchende sollen schneller in Abschiebehaft genommen werden können – zum Beispiel, wenn ihnen „Verletzung von Mitwirkungspflichten“ in ihrem Asylverfahren vorgeworfen wird.

Dabei wird es nicht bleiben. Da alle Parteien außer der Linkspartei der Meinung sind, Deutschland müsse härter gegen Flüchtlinge vorgehen, wird der Überbietungswettbewerb bei der Restriktion des Asylrechts anhalten. Unter anderem fordern sowohl die Liberalen (FDP) als auch die Christkonservativen (CDU), nur noch Sachleistungen zu gewähren, obwohl die Kommunen dies wegen des hohen Aufwands ablehnen. Sogenannte Bezahlkarten sollen verhindern, dass Geflüchtete Geld an ihre Familien im Herkunftsland schicken.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte außerdem, Asylsuchende zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten. Dabei leiden viele gerade daran, dass ihnen verboten ist, eine Arbeitsstelle anzutreten; und selbst wenn ihnen die Aufnahme einer Tätigkeit gestattet wird, ist der Eintritt in den regulären Arbeitsmarkt für Asylsuchende wegen mangelnder Spracherwerbs- und Nachqualifizierungsangebote schwierig – obwohl sie als Arbeitskräfte dringend gebraucht würden. Indes steht fest, dass schon bald die nächsten Vorschläge zur Asylrechtsverschärfung kommen werden. Vor allem die CDU dürfte die Bundesregierung bei dem Thema weiter vor sich hertreiben.

Immer wieder kursiert dabei zur Begründung die Zahl von über 300.000 „Ausreisepflichtigen“ oder „abgelehnten Asylbewerbern“, die ausreichend schikaniert werden müssten, damit ihnen die Lust vergeht, im Land zu bleiben. Behördenangaben zufolge galten Ende Juni nur noch 279.098 Menschen als ausreisepflichtig, weil das sogenannte „Chancen-Aufenthaltsrecht“ einigen Langzeitgeduldeten, die mindestens fünf Jahre in Deutschland gelebt hatten, erlaubte, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu beantragen.

Die meisten dieser als ausreisepflichtig geltenden Menschen dürfen jedoch aus gesetzlichen, beispielsweise humanitären Gründen gar nicht abgeschoben werden. Knapp ein Fünftel von ihnen hat keine Reisedokumente und kann deshalb nicht abgeschoben werden. Die in der Flüchtlingshilfe tätige NGO „Pro Asyl“ weist darauf hin, dass nur rund 27.000 Menschen tatsächlich selbst ihre Abschiebung zu verhindern versuchten.

Dank der EU-Krisenverordnung könnten die Staaten sich gegebenenfalls mehr Zeit mit der Registrierung der Geflüchteten lassen und diese auch für längere Zeit internieren.

In einer „Berliner Erklärung“ genannten Stellungnahme, die von der Forschungsgruppe „Transforming Solidarities“ initiiert worden ist, kritisierten NGOs und Wissenschaftler*innen die geplanten Verschärfungen. „Die Forderungen nach der massenhaften Internierung von Schutzsuchenden an den europäischen Außengrenzen, nach der Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Europa, einer Arbeitspflicht für Asylsuchende, der Einführung von Sachleistungen für Geflüchtete und nach verschärften Abschiebungen wiederholen nicht nur die migrationspolitischen Fehler der Vergangenheit“, heißt es darin. Sie seien „in erster Linie ein Angriff auf die Einwanderungsgesellschaften in Europa. Ein Angriff auf die Weise, in der wir längst zusammenleben und in der wir auch weiter zusammenleben wollen.“

Derzeit werden rund 70 Prozent aller Asylanträge in Deutschland anerkannt. In diesem Jahr wurden bis Ende September rund 233.000 Erstanträge gestellt. Das ist der höchste Wert seit 2016 – aber auch nicht viel mehr als die 200.000, die der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) 2018 als Obergrenze festsetzen wollte.

Klar ist, dass viele der Ankommenden bleiben werden – und Zugang zu bezahlbaren Wohnungen, zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt brauchen. „Das wären Lösungen, die den tatsächlichen Problemen gerecht werden, die den Menschen ein würdiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen und die den rechten Parolen langfristig den Wind aus den Segeln nehmen“, stellt „Pro Asyl“ fest. „Politiker*innen konzentrieren sich derweil aber lieber auf eine viel kleinere Gruppe der Geflüchteten, nämlich auf die Ausreisepflichtigen.“

Der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, kritisierte, dass im neuen Haushalt auch die Mittel für die Migrationsfachdienste gekürzt worden sind. „Das kann man niemandem erklären. Erst recht nicht den Leuten, die diese Arbeit machen und an ihrer Leistungsgrenze sind, weil die Zahlen durch die Decke gehen.“

Die Ampelkoalition hatte vor allem auf Drängen der Grünen versprochen, in der Migrationspolitik vieles anders zu machen als ihre Vorgänger. Stattdessen klingt sie nun wie zuvor der bayerische Politiker Seehofer, der als Bundesinnenminister stets eine restriktivere Asylpolitik gefordert hatte. Anlässlich des anstehenden Treffens des Europäischen Rates sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung im Bundestag über die irreguläre Migration, es sei wichtig, „dass wir die Kontrolle darüber behalten und sie nicht verlieren“. Deshalb habe Deutschland unter anderem ab Mitte Oktober wieder feste Kontrollen an den Grenzen zu Nachbarländern in Brandenburg, Sachsen, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern eingeführt. Die sollen indes vor allem Tatkraft simulieren. Denn an den Ankunftszahlen ändern solche Kontrollen nichts: Wer aufgegriffen wird und einen Asylantrag stellen will, muss zu dessen Prüfung ins Land gelassen werden.

Auch auf EU-Ebene gehen die Verhandlungen zur Abschottung weiter. Der EU-Rat einigte sich kürzlich auf die sogenannte Krisenverordnung. Sie legt fest, wann von regulären Aufnahmebedingungen abgewichen werden darf. Unter anderem könnten die Staaten sich im Fall einer „Krise“ mehr Zeit mit der Registrierung der Geflüchteten lassen und sie könnten die Menschen für längere Zeit internieren; auch Asylschnellverfahren direkt an den Grenzen würden leichter möglich sein.

Schon 2020 hatte die EU-Kommission diesbezüglich Vorschläge präsentiert. Zunächst waren nur „höhere Gewalt“ – also etwa Naturkatastrophen – und „Massenankünfte“ als auslösende Ereignisse vorgesehen. In diesem Jahr kam „Instrumentalisierung“ hinzu: Immer dann, wenn ein Nachbarstaat eine größere Zahl Flüchtlinge schickt oder schleust, um einem EU-Staat zu schaden, sollen die Rechte der Ankommenden beschränkt werden. Die Türkei, Marokko und Belarus hatten seit 2020 die Grenzen Richtung Griechenland, Spanien und Polen mal länger, mal nur kurz für Flüchtlinge geöffnet, um dadurch politischen Druck aufzubauen.

Deutschland hatte sich lange gegen die Pläne gesperrt – vor allem wegen menschenrechtlicher Bedenken der Grünen. Dann aber gaben Bundeskanzler Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) ihr Plazet. Faeser sprach von einem „hervorragenden Kompromiss“. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Britta Haßelmann, freute sich darüber, dass die „klare deutsche Haltung“ endlich „Bewegung in die Gespräche“ gebracht habe. Es war eine der vielen Kehrtwenden der Grünen in Sachen Asyl in letzter Zeit. Erst kurz zuvor hatte es geheißen, die Verordnung sei „nicht zustimmungsfähig“.

Die Krisenverordnung ist Teil des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), über das die Mitgliedstaaten mit dem Europaparlament verhandeln. Unter den insgesamt elf darin enthaltenen Gesetzen, die die Kommission unbedingt noch vor den nächsten EU-Parlamentswahlen im Juni 2024 verabschiedet sehen will, sind auch Bestimmungen, die eine Internierung aller ankommenden Flüchtlinge und Schnellverfahren an den Außengrenzen vorsehen.

Die geplante EU-Asylreform sieht vor, dass bei an der Außengrenze internierten Flüchtlingen, die offiziell als nicht eingereist gelten sollen, in den Lagern geprüft wird, ob sie für ein reguläres Asylverfahren in Frage kommen. Alle Personen, die aus sogenannten „sicheren Drittstaaten“ eingereist sind oder aus Ländern mit einer EU-weiten Anerkennungsquote unter 20 Prozent stammen, sollen nur ein Schnellverfahren mit stark eingeschränkten Rechtsmitteln durchlaufen. So soll es erleichtert werden, Ankommende in sogenannte „sichere Drittstaaten“ zurückzubringen (siehe woxx 1740: „EU-Asylpolitik: Schlimmer geht immer“).

Auch Horst Seehofer wollte einst Flüchtlinge an den Außengrenzen internieren. Die Verhandlungen darüber gelten als schwierig, weil es bisher nicht gelungen ist, sich auf eine dauerhafte Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU zu einigen. Die Staaten mit EU-Außengrenzen hatten eine solche Umverteilung als Teil der EU-Asylreform seit langem gefordert – mehrere osteuropäische EU-Länder lehnen sie hingegen strikt ab. Ein solches Umverteilungssystem würde die bisherige Dublin-Regelung ersetzen, der zufolge im Normalfall der EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in den ein Schutzsuchender zuerst einreist. Möglicherweise wird eine neue Regierung in Polen unter Donald Tusk hier eine andere Linie verfolgen als bislang die von der nationalkonservativen Partei PiS geführte Regierung.

Deutschlands Bundesinnenministerin Faeser hofft weiter auf eine Einigung. „Wir haben sehr gute Vereinbarungen getroffen zu einem gemeinsamen Asylsystem auf der europäischen Ebene und auch dem letzten Baustein, der Krisenverordnung. Das dauert jetzt bis zur Umsetzung, aber das ist die einzig mögliche Lösung“, sagte Faeser am Donnerstag voriger Woche am Rande des EU-Innenministertreffens in Luxemburg.

Christian Jakob ist Redakteur der Berliner „tageszeitung“ (taz). 2022 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus.

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