Eine Chamberdebatte zum Thema Adipositas fiel erwartungsgemäß enttäuschend aus. Niemand traute sich, die wirklich interessanten Fragen zu stellen.
Der Staat darf sich nicht in die Lebensgestaltung von Familien einmischen – es ist vor allem dieses Argument, das die ADR immer wieder heranzieht, wenn es um die Frage der gendergerechten Verteilung von Care-Arbeit geht. Bei der Ernährung, so zeigt eine rezente Debatte in der Abgeordnetenkammer, hat die rechtsextreme Partei weit weniger Probleme damit, Haushalte zu einer Verhaltensänderung anzuregen.
Thema besagter Debatte war Adipositas; die LSAP hatte diesbezüglich eine Interpellation auf die Tagesordnung setzen lassen. In seiner Intervention kam Fred Keup (ADR) recht schnell auf ungesundes Essen zu sprechen. „Ech mengen eng ganz grouss Roll spillt do d’Elterenhaus“, schilderte der Abgeordnete seinen Eindruck. „A mir musse kucken fir am Elterenhaus dat richtegt Beispill ze ginn, déi richteg Leitplanken ze hunn, wou mer de Kanner weisen (…) wéi ee ka gesond kachen, wéi ee kann och vläicht souguer selwer déi Produkter hierstellen“. Mit Bedauern habe er festgestellt, dass viele Menschen keinen Gemüsegarten hätten. Früher sei das noch anders gewesen, da hätten Kinder zuhause noch hautnah die Pflege eines Gemüsebeets miterleben können. Er räumte jedoch ein, dass die Frage, wie viel Zeit Eltern haben, um ihre Kinder in Sachen gesunde Ernährung aufzuklären, in direktem Zusammenhang mit familienpolitischen Bestimmungen steht – wenn wohl auch nur, um implizit das Hausfrauenmodell zu bewerben.
Auch wenn Keup für eine konservative Familiengestaltung plädierte, kein Verständnis von struktureller Benachteiligung hat und er die Verantwortung an falscher Stelle verortete: Seine Intervention verbildlicht, inwiefern das Gesundheitsverhalten eines Menschen von sozio-ökonomischen Faktoren geprägt ist.
In der Luxemburger Politik ist diese Erkenntnis noch kaum angekommen. Zwar wurde sie am Dienstag in gleich mehreren Reden hervorgehoben, wenn es jedoch darum ging, wie Menschen mit Adipositas konkret geholfen werden kann, lag der Fokus stets auf der Eigenverantwortung. Wenn die meisten Interventionen etwas verdeutlichten, dann, wie ratlos sowohl Chamber als auch Regierung sind, wenn es um eben erwähnte Krankheit geht.
Entlarvendes Vokabular
Das merkt man schon allein an der unpräzisen Wortwahl: Übergewicht und Adipositas werden immer wieder synonym verwendet, auf eine Präzision, wieso auf die umstrittene BMI-Skala zurückgegriffen wurde um Personen entweder der einen oder der anderen Kategorie zuzuordnen, wartete man vergebens.
Die Auswirkungen dieses Mangels an Klarheit lassen sich am Beispiel der European Health Studie illustrieren, die am Dienstag von fast allen Redner*innen hervorgehoben wurde. In den vergangenen zehn Jahren wurden im Rahmen dieser Studie zweimal luxemburgspezifische Daten bezüglich Hochgewichts erhoben. Im direkten Vergleich fällt ein Anstieg bei den Adipositas-Fällen auf: 2014 lag dieser bei 15,6 Prozent, fünf Jahre später bei 16,5 Prozent. Am Dienstag wurde diese Entwicklung immer wieder herangezogen, um auf den dringenden Handlungsbedarf hinzuweisen. Was jedoch keine*r der Redner*innen erwähnte: In puncto Übergewicht ist der Trend rückläufig, fiel der entsprechende Prozentsatz innerhalb besagter Zeitspanne doch von 32,4 auf 31,9.
Die Studie „Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen im Schulalter in Luxemburg“ (siehe diesen woxx Artikel hierzu) von 2022 deutet auf einen anderen Trend bei 11- bis 18-Jährigen hin. 2018 waren 14,8 Prozent der Kinder zwischen 11 und 18 Jahren übergewichtig, vier Jahre später 15,2 Prozent. Bei Adipositas ist ein Anstieg von 0,6 Prozentpunkten zu vermerken.
In der vor wenigen Monaten veröffentlichten Studie „Eng gesond Zukunft: un rapport sur la santé des enfants au Luxembourg“ (siehe dazu auch diesen woxx-Artikel) wird sich gar nicht erst darum bemüht, zwischen Übergewicht und Fettleibigkeit zu unterscheiden: Wenn konstatiert wird, dass ein Fünftel aller 11- und 12-Jährigen in Luxemburg übergewichtig sei, sei Adipositas mitgemeint, heißt es in der entsprechenden Statistik. Auf Nachfrage der woxx begründen die Forscher*innen diese Zusammenlegung damit, dass Übergewicht ein Risikofaktor für Adipositas sei. Wieso nicht auch Normalgewicht mit einbezogen wurde – immerhin ist dieses ein Risikofaktor für Übergewicht –, ging aus der Antwort nicht hervor.
Wieso steigen die Übergewichtsraten bei Teenagern, bei Erwachsenen jedoch nicht? Wieso sind Männer im Schnitt deutlich stärker von Übergewicht und Adipositas betroffen als Frauen? Wie sinnvoll auf diese Unterschiede reagieren? Am Dienstag warf kein*e einzige*r Redner*in auch nur eine dieser Fragen auf. Zu stark war scheinbar das Bedürfnis, den Komplexitätsgrad des Sachbestands weitestgehend zu reduzieren. Kein Wunder – anders ließen sich auch kaum pauschale Aussagen zum Thema machen.
Gleich zu Beginn bezeichnete Dan Biancalana (LSAP) den Umstand, dass immer mehr Kinder dick seien als „ungesunde Entwicklung“, der man unbedingt entgegensteuern müsse. „Ze grouss sinn déi negativ Konsequenzen, déi Fettleibegkeet mat sech bréngt, virun allem well d’Obesitéit keng Fatalitéit ass, weder fir deen Eenzelnen, deen dovu betraff ass, nach fir d’Gesellschaft als e Ganzt.“ Dann listete er die oben erwähnten Studien auf, die Zahlen sollten offenbar für sich sprechen. Davon abgesehen schien er sich sicher, dass schon allein der Begriff „Fettleibigkeit“ ausreichen würde, damit bei seinen Kolleg*innen die Alarmglocken läuteten.
Dick gleich ungesund?
Anlass zur Sorge sind gemeinhin Forschungserkenntnisse, laut derer Menschen mit Adipositas häufiger von Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedenen Krebsarten betroffen seien als Menschen ohne Adipositas. Einerseits – ein Detail, das in der unterkomplexen Debatte unerwähnt blieb – geht es in diesen Statistiken um Menschen mit einem BMI über 35, also um einen äußerst kleinen Teil der Bevölkerung. Andererseits: Dass manche Krankheiten häufiger bei fettleibigen Menschen diagnostiziert werden, bedeutet nicht, dass diese vom Dicksein verursacht wurden. Ein nicht unwichtiger Faktor ist die Gesundheitsvorsorge: Studien belegen, dass Ärzt*innen die Beschwerden dicker Menschen weniger ernst nehmen. Wo dünnen Menschen bereits Untersuchungen verschrieben werden, wird Dicken teilweise nur zum Abnehmen geraten. Daneben sind zahlreiche Medikamente nicht in einer für dicke Körper adäquaten Dosierung verfügbar. Wer wirklich um die Gesundheit dicker Menschen besorgt ist, sollte also auch Mängel im Gesundheitssektor kritisieren.
„D’Problematik vun der Obesitéit ass fir eis eng sozial Problematik“ verlautbarte Biancalana in seiner Anfangsrede und man muss der LSAP zugute halten, dass sie mit ihrer Motion zumindest versuchte, in eine entsprechende Richtung zu gehen. Darin wurde sich nämlich für eine erhöhte Besteuerung von Produkten ausgesprochen, die in puncto Zucker-, Salz- und Fettgehalt einen bestimmten Grenzwert überschreiten. In Ländern wie Frankreich, Belgien und Großbritannien gibt es solche Maßnahmen bereits. Sie gelten vor allem deshalb als vielversprechend, weil sie nicht von der Eigeninitiative der Konsument*innen abhängen. Damit unterscheiden sie sich deutlich von Maßnahmen wie dem Nutrisore, leicht verständlichen Nährstofftabellen oder der „ehrlichen Verpackung“ wie François Bausch (déi Gréng) sie am Dienstag nannte. Bei diesen müssen die Konsument*innen anhand der Angaben nicht nur selbst beurteilen, ob ihnen das Produkt gut tun wird oder nicht, sie müssen eine solche Beurteilung bei jedem einzelnen Produkt auf ein Neues vornehmen, ein Prozess, der viel Zeit und Energie in Anspruch nimmt, und, im Fall vom Nutriscore, Kenntnisse über die Berechnungsmethode voraussetzt.
Die eben erwähnte Besteuerung soll dazu beitragen, dass gesundheitsschädliche Stoffe gar nicht erst ihren Weg in die Produkte finden: Überschreitet ein Unternehmen die empfohlene Dosis, muss es draufzahlen. Vermeiden lässt sich das nur, indem der Zuckergehalt des Produkts reduziert wird. Zuletzt hatte die Patientevertriedung in einem öffentlichen Schreiben eine Zuckersteuer auf Softdrinks gefordert.
Obwohl am Dienstag alle Oppositionsparteien für eine solche Steuer stimmten, wurde die Motion aufgrund von 35 Nein-Stimmen der Mehrheit abgelehnt. Besser verlief es für die Motion von Jeff Boonen (CSV), die eine proaktive Sportpolitik fordert. Die Frage, wie sensibilisiert Sportvereine für den Umgang mit dicken Kindern sind, kam nicht auf. Ebenso wenig wurde sich dafür interessiert, wie sich gesellschaftliche Dickenfeindlichkeit auf die Bereitschaft Sport zu machen auswirkt und wie damit umzugehen ist. Immerhin beinhaltet die Motion der CSV auch den Aufruf, eine Ernährungspolitik zu fördern die die Produktion gesunder Lebensmittelprodukte ins Zentrum stellt. Was das konkret heißt, wird sich erst zeigen müssen.
Bezeichnenderweise ging aber selbst die Opposition wenig auf ergänzende Maßnahmen zu einer Zuckersteuer ein. Einzig der Hinweis von Marc Baum (déi Lénk), man müsse Bio-Essen zu günstigeren Preisen anbieten als industriell hergestelltes war eine der einzigen Ausnahmen.
Unbewusste Stigmatisierung
Die jeweiligen Redner*innen wurden nicht müde, sich gegen die Stigmatisierung dicker Menschen auszusprechen: Die Argumente, die aufgeworfenen Fragen und die ausgeklammerten Punkte hatten jedoch genau dies zur Folge. „Obesitéit ass keng Fatalitéit“, verlautbarte Biancalana. Was er damit wohl meinte war: Jede*r kann abnehmen – ein direkter Widerspruch zu seiner Behauptung, Fettleibigkeit sei für die LSAP eine soziale Problematik.
Immer wieder haben Studien darauf hingewiesen, dass Bewegungsarmut und ungesunde Ernährung große Risiken mit sich bringen – unabhängig vom Gewicht einer Person. Sportminister Georges Mischo (CSV) brachte diese Erkenntnis mit der Aussage „besser ze schwéier sinn a sech beweege wéi net ze schwéier sinn a sech net ze beweegen“ auf den Punkt. Ein Großteil der Debatte drehte sich denn auch um die Themen Sport und Ernährung. Was das allerdings mit dem Titel der Interpellation zu tun hatte, das erklärte niemand. Die implizite Unterstellung war jedenfalls: Wir wissen doch alle, dass es vor allem Dicke sind, die sich nicht bewegen und nur Junk-Food essen. Das Vorurteil „dick gleich faul“, das unter anderem Keup und Hartmann kritisierten, wurde durch die Reden also reproduziert.
Ein Paradigmenwechsel wurde am Dienstag nicht eingeläutet. Anders als der Titel der Debatte es nahelegte, ging es sehr viel mehr um die Bewerbung von Sport als um die Behandlung von Menschen, die bereits an Adipositas erkrankt sind. Es gab auch wenig Bemühungen, den Unterschied zwischen beiden Aspekten hervorzugeben. Während Bewegung und gesundes Essen generell zu einer verbesserten Lebensqualität beitragen können, dienen sie nämlich explizit nicht der Behandlung von Adipositas. Wie Hanen Samouda, Forscherin am Luxembourg Institute of Health 2022 im woxx-Interview erklärte, gibt es drei Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Adipositas: kognitive Verhaltenstherapie, Medikamente und Operationen. Im Interview hatte Samouda zudem Präventionsmaßnahmen, die auf Sport und eine Ernährungsumstellung zielen, als ineffizient bezeichnet. Wichtiger sei es etwa, die Werbung und das Angebot von Junk Food einzuschränken.
Dass sich am vergangenen Dienstag vehement für strukturelle Reformen ausgesprochen werden würde, um gesellschaftlichen Ungleichheiten etwas entgegenzusetzen, war nicht zu erwarten gewesen. Dass sich die Regierung nun aber auf die Schulter klopft, weil sie den Sport zusätzlich fördern will, ist enttäuschend.