Gewalt von Kindern in der Schule: Der Graben zwischen Theorie und Praxis

Aus pädagogischen Fachkreisen heißt es schon seit längerem, die Gewalt von Kindern an Schulen nehme zu. Der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser erkundigt sich in einer parlamentarischen Anfrage nach den Maßnahmen im Falle von Gewalttaten in der Schule. Die Antworten offenbaren, dass zwischen Theorie und Praxis Welten liegen.

Foto: Lucas Pezeta

Der Kinderpsychologe und Familientherapeut Gilbert Pregno wies bereits letztes Jahr im Zuge der öffentlichen Debatte um Gewalt von Kindern in Schulen und Betreuungsstrukturen darauf hin, dass sich die Situation von Kindern und Jugendlichen in den letzten 15 bis 20 Jahren kontinuierlich verschlechterte. Immer mehr Kinder seien unglücklich und verhaltensgestört – immer mehr Eltern kämen nicht mehr zurecht. Lehrkräfte und Erzieher*innen bestätigten die Beobachtungen. Eine von ihnen war Patricia Heck, die damals mit einem Leserbrief für Gesprächsstoff sorgte. Vor wenigen Tagen befragte der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser das Ministerium für innere Sicherheit und das Ministerium für Kinder, Bildung und Jugend zum Thema. Er verlangte Zahlen und Aufklärung über die Vorgehensweise im Falle von Gewalt in der Schule. Die Antworten der Ministerien machen auf dem Papier was her – es gibt konkrete Handlungsmöglichkeiten. Doch die sind nicht mehr als ein theoretisches Gerüst, das im Schulalltag zusammenkracht.

Einschlägige Statistiken fehlen

Es gibt keine konkreten Zahlen zu Gewalt von Kindern an luxemburgischen Schulen. Die Ministerien rechtfertigen das Fehlen der Daten mit der Vagheit des Begriffs. Unter „Gewalt“ fielen Verhaltensstörungen, Pathologien und Delinquenz. Zu differenzieren sei schwer. Das „Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires“ (CePAS) und der „Service psycho-social et d’accompagnement scolaires“ (SePAS) konzentrieren sich in ihren Statistiken auf die psychologischen Problematiken hinter den einzelnen Verhaltensauffälligkeiten und liefern keine Informationen zu den Symptomen der Kinder, so die Ministerien weiter.

Wozu es Zahlen gibt: Zu den abgehaltenen „conseils de disciplines“ an den Sekundarschulen und zu den Strafanzeigen, die wegen Gewalttaten an Schulen erstattet wurden. Die „conseils de disciplines“ sind rückläufig (2015/2016: 151; 2016/2017: 144). In 25 Prozent der Fälle kommt der Disziplinarrat wegen Gewalttaten von Schüler*innen zusammen. Dieser Wert bleibt, laut Mitteilung der Ministerien, seit Jahren konstant. Die Strafanzeigen, die im Zusammenhang mit Gewalttaten an Schulen erstattet wurden, nehmen hingegen leicht zu. 2018 waren es 88, im Vorjahr nur 73. Die Ministerien führen den Anstieg auf die Einführung der „Centres thérapeutiques“ sowie auf die Sensibilisierung der Lehrkräfte zurück. Wie das zusammenhängt, wird leider nicht näher erläutert. Die Ministerien wollen jedenfalls abwarten, wie sich die Situation entwickelt.

Sie bleiben ihrem Hang zur De-Dramatisierung der Situation an den Schulen treu. Das fällt spätestens dann auf, wenn sie auf den internationalen Vergleich verweisen: „Eine PISA-Studie aus dem Jahr 2015 über das Wohlbefinden der Schüler (15 Jahre alt) zeigt, dass in Luxemburg 3,5 Prozent der Schüler gesagt haben, Opfer von Gewalt durch andere Schüler geworden zu sein. Der OECD-Mittelwert lag hier bei 4,3 Prozent.“ Der Blick über die luxemburgischen Schulbänke hinaus lohnt sich insofern als dass man einen etwaigen Anhaltspunkt hat. Entwarnung gibt er aber nicht. Zum einen beschränkt sich die Studie auf eine bestimmte Altersgruppe, zum anderen ist davon auszugehen, dass nicht jedes Kind jede Gewaltform als solche erkennt und signalisiert. Die Dunkelziffer könnte demnach höher sein. Noch dazu sind die Ergebnisse für die aktuelle Situation irrelevant, liegen sie doch schon vier Jahre zurück und wird seither von einem Anstieg der Gewalt in der Schule gesprochen.

Die Theorie geht nicht auf

Glaubt man dem Schreiben der Ministerien, sind die meisten Schulen gut aufgestellt, um auf Kinder mit Verhaltensstörungen zu reagieren. Auf Kartheisers Frage, welche Möglichkeiten das Lehrpersonal hätte, um in einem akuten Fall von Gewalt zu agieren, geben sie ebenfalls Antworten. Viele Schulen hätten einen internen Interventionsplan erarbeitet, auf den sie in akuten Krisensituationen zurückgreifen; in Sekundarschulen stünden psycho-soziale und sozial-pädagogischen Dienste bereit. Im Fall einer Gewalttat „en flagrant“ könne jederzeit die Polizei kontaktiert werden, die vor Ort eingreife und gemäß des Code de procédure penale die nötigen Maßnahmen vornehme. Die Ministerien erwähnen darüber hinaus die personelle Aufstockung der entsprechenden schulinternen Infrastrukturen und die Einrichtung der Kompetenz- und Therapiezentren.

In der Praxis ist beides aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das SNE-CGFP (Syndicat national des enseignants) verwies erst kürzlich bei einer Pressekonferenz zu Schulinklusion auf den akuten Personalmangel im Bildungswesen (sowohl Sonderpädagog*innen als auch gewöhnliche Lehrer*innen fehlen) und auf die lange Bearbeitungszeit im Hinblick auf die Vergabe von Therapieplätzen für Kinder mit Verhaltensstörungen. Ähnliches berichtet das SEW-OGBL (Syndikat Erzéihung a Wëssenschaft), das vor wenigen Tagen eindringlich forderte, dass die Arbeitskräfte, die aufgrund der Einführung der Regionaldirektionen vom „Terrain“ abgezogen wurden, unverzüglich zurück an die Schulen müssten. Die Bildungsgewerkschaften zeichnen in puncto Aufstockung demnach ein anderes Bild.

Dass sich zwischen Theorie und Praxis ein weiter Graben erstreckt, wird auch an einem anderen Beispiel deutlich. Kartheiser fragte beispielsweise auch nach der Reihenfolge, in der die Lehrkräfte die Erziehungsberechtigten, soziale oder psychologische Instanzen sowie die Polizei kontaktieren müssen, wenn ein Kind regelmäßig heftige Gewaltausbrüche in der Schule hat. Das Prozedere variiert laut Aussagen der Ministerien von Fall zu Fall. Im „Optimalfall“ befänden sich die Kinder und Jugendlichen schon in Betreuung und die betroffenen Instanzen (Eltern, Schule, Therapeut*innen) würden eng zusammenarbeiten. In besagtem „Optimalfall“ gebe es zudem interne Absprachen, wie in einer Krisensituationen vorzugehen sei.

Aus Recherchearbeiten zum Thema, aber auch aus den Mitteilungen der Bildungsgewerkschaften, geht jedoch hervor, dass dieses Ideal selten bis nie gegeben ist. Die einen klagen über die unzureichende Einbindung der Eltern, die anderen über das Gegenteil. Allgemein fühlen sich die Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Bezug auf die Entscheidung über die pädagogische Betreuung ihrer Kinder unter Druck gesetzt. Lehrkräfte berichten hingegen davon, dass sich viele Eltern gegen pädagogische Maßnahmen wehren und jegliche Unterstützung ablehnten. Gleichzeitig seien die administrativen Vorgänge, um Kinder in schulexternen Einrichtungen unterzubringen, so aufwendig, dass viele ihrer Kolleg*innen von der Erarbeitung eines Dossiers absehen würden. Auch vonseiten der Gewerkschaft SNE-CGFP heißt es, hilfreiche Betreuungsmöglichkeiten scheiterten oft an der Elternbefugnis und an administrativen Hürden.

Der Frust bei den Lehrkräften steigt. Das manifestiert sich unter anderem in einer Umfrage der SEW-OGBL zum Wohlbefinden des Lehrpersonals. Dort gab die Mehrheit der Befragten an, den Beruf nicht noch ein Mal zu wählen. Drei Viertel würden ihn nicht weiterempfehlen. Dabei unterrichten 98 Prozent der Befragten eigentlich gerne. Die Kombination aus administrativem Aufwand, Personalmangel und dem Anstieg verhaltensauffälliger Kinder führe aber dazu, dass die Lehrer*innen sich ihrer eigentlichen Aufgabe nicht mehr widmen könnten: dem Unterrichten. Die Regionaldirektionen stünden oft nicht hinter dem Personal, würden dessen Arbeit sogar eher behindern, fasste SEW-OGBL-Präsident Patrick Arendt am vergangenen Montag weitere Umfrageergebnisse in einem Interview mit RTL zusammen.

Die Maßnahmen, die die Ministerien beschreiben, sind demnach weit davon entfernt, die Situation bedeutend zu entschärfen. Die scheint sich im Gegenteil gar zu verschlimmern. Das SEW-OGBL jedenfalls hat eine unmissverständliche Bitte: „Den SEW hofft, datt de Problem eescht geholl gëtt an datt den Dialog mam Minister nees besser funktionéiert.“


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