75 Jahre Atomwaffen (9): Übermacht statt Abrüstungsspirale

Im vorletzten Teil unserer Serie befassen wir uns mit aktuellen Szenarien für einen Atomwaffeneinsatz durch die USA.

Amerikanische B-61-Atombomben: Dieser Typ kann im Kriegsfall von den deutschen Tornados in Büchel abgeworfen werden. Eine Modernisierung ist vorgesehen, um die Einsetzbarkeit zu „verbessern“ (mehr Infos). (US DoD, SSGT Phil Schmitten/PD)

Der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima vor 75 Jahren war ein grauenhaftes Massaker (woxx 1592: 6.000 degrés et une ombre), doch für amerikanische Strateg*innen hat das Ereignis auch etwas Nostalgisches. Damals konnten die USA Japan mit Kernwaffen angreifen, ohne dass sie einen Gegenschlag befürchten mussten. Diese nukleare Übermacht blieb in den ersten paar Jahren des Kalten Kriegs gegenüber der Sowjetunion erhalten, doch danach etablierte sich das „Gleichgewicht des Schreckens“ (siehe Teil 2 bis 5 unserer Hiroshima-Serie). Das führte dazu, dass die Atomwaffen in den Augen vieler Expert*innen Waffen waren, über die man verfügen, die man aber niemals einsetzen wollte (nicht in aller Augen, siehe: Von Mine bis MIRV).

Allzu nostalgisch müssen die Strateg*innen aber nicht sein, denn die Übermacht der USA ist heute so groß wie seit 60 Jahren nicht mehr. Und die Bedingungen für den „ungestraften“ Einsatz einer Kernwaffe erscheinen strategisch und technologisch günstiger als je zuvor. Denn selbst in der Zeit vor 1955, bevor die Sowjetunion zu einem angemessenen nuklearen Gegenschlag fähig war, mussten die USA mögliche Folgen eines Atomwaffeneinsatzes fürchten: ein konventioneller Gegenangriff in Europa oder ein verheerender Imageverlust im ideologischen Wettbewerb mit dem Kommunismus. Das trug insbesondere während des Koreakriegs dazu bei, dass keine Kernwaffen eingesetzt wurden.

Ist Abrüstung unamerikanisch?

Seit dem Ende des Kalten Krieges aber ist ein konventioneller Angriff gegen die USA und ihre Verbündeten unwahrscheinlich angesichts der technologischen und materiellen Überlegenheit des Westens. Und seit dem Beginn des großen „Kriegs“ gegen den Terrorismus ist die Akzeptanz für den rücksichtslosen Gebrauch von Waffengewalt weltweit gestiegen. Vor allem jedoch scheinen die USA entschlossen, ihre nukleare Übermacht so auszubauen, dass sie keinen atomaren Gegenschlag mehr befürchten müssen.

Der erste Schritt in diese Richtung wurde in den 1990ern vollzogen, als eine allseitige massive nukleare Abrüstung im Bereich des Möglichen schien. Die USA hätten eine „minimale Abschreckung“ anstreben können, wie sie von den kleineren Atommächten praktiziert wird. Dabei handelt es sich um die Fähigkeit, als Antwort auf einen Atomschlag dem Gegner mit einem Zweitschlag so viel Schaden zuzufügen, dass dieser vor einem Angriff zurückschreckt. Doch die USA hielten an einer maximalen Abschreckung fest – als Folge des Lobbyismus der Hardliner*innen und des Konservatismus des strategischen Establishments, so die Interpretation des Standardwerks „The Evolution of Nuclear Strategy“.

Neue Aufgaben für die nuklearen Waffen

Hinzu kam der Präzedenzfall der irakischen Besetzung Kuwaits 1990: Saddam Hussein schien unter anderem auf die abschreckende Wirkung seiner Massenvernichtungswaffen (weapons of mass destruction, WMD) zu rechnen. Der Gegenangriff der USA und ihrer Alliierten fand trotzdem statt. Die chemischen Waffen – die einzigen WMD Husseins, die verfügbar waren – wurden von ihm nicht eingesetzt, möglicherweise aus Angst vor nuklearen Vergeltungsschlägen. Das zeige, so die Argumentation der Abrüstungsgegner*innen, dass man auch nach dem Wegfall der Sowjetunion noch Atomwaffen zur Abschreckung benötige. Die Suche nach neuen Aufgaben für Kernwaffen war damit nicht zu Ende: Für ihre Befürworter*innen sind sie auch dann einsetzbar, wenn Ziele mit anderen Mitteln nicht zerstört werden können, zum Beispiel Kommandobunker tief unter der Erde. Die jüngste Ausdehnung ihres „Aufgabenbereichs“ findet sich in der Überarbeitung der Nuklearstrategie unter Donald Trump 2018: Atomwaffen können nun auch als Antwort auf „strategische“ Cyberangriffe eingesetzt werden.

Für die alten und neuen Aufgaben leiteten die USA denn auch eine nukleare „Modernisierung“, also Aufrüstung ein. Parallel dazu ist das Misstrauen zwischen dem Westen und den Atommächten Russland und China seit 1999 gewachsen (Kosovokrieg, Nato-Osterweiterung, westliche Interventionen im Irak und in Libyen, russische Interventionen in Georgien und der Ukraine, Konflikte im südchinesischen Meer). Beide Entwicklungen heizen den Rüstungswettlauf an und haben zum Zusammenbruch der bestehenden Verträge zur Begrenzung der Mittelstreckenraketen, der Atomsprengköpfe und der „antiballistic missiles“-Systeme (ABM) geführt.

Kein Frieden durch Stärke

Insbesondere der Ausbau dieser Raketenabwehrsysteme erhöht den Druck auf die Gegner der USA: Wenn die USA einen Raketenangriff effizient abwehren können, dann können sie auch als erste einen Atomschlag ausführen, ohne einen Gegenschlag befürchten zu müssen (siehe: Zweitschlag und Ersteinsatz). Damit besäßen die USA auf nuklearer Ebene eine Fähigkeit, die sie auf konventioneller Ebene seit dem zweiten Weltkrieg gerne ausüben: bombardieren, ohne bombardiert zu werden. Ein Traum für amerikanische Patriot*innen, ein Alptraum für den Rest der Welt.

Werden künftig also US-Atombomben zum Einsatz kommen, zum Beispiel gegen das nächste Kalifat, oder gegen ein Regime, das eine Unabhängigkeitsbewegung unterdrückt? Technische Schwierigkeiten und strategische Unwägbarkeiten machen ein solches Szenario unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Diese Möglichkeit ermutigt die bestehenden und angehenden Atommächte, ihr Arsenal aufzustocken, um ihre Zweitschlagfähigkeit zu erhalten, und im Zweifelsfall ihre Raketen abzufeuern, bevor das nicht mehr möglich ist. Der Versuch der USA, „Frieden durch Stärke“ zu erhalten, macht einen Krieg, noch dazu einen atomaren, wahrscheinlicher. Was die Alternativen sind, darum wird es im letzten Teil der Serie gehen.

 


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