Diskussion um Ungarns EU-Ratsvorsitz: Orbán als Gesicht Europas

Die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn wird immer weiter abgebaut, so eine mit großer Mehrheit verabschiedete Resolution des Europaparlaments. Zugleich mehren sich Stimmen, wonach die im kommenden Jahr anstehende Ratspräsidentschaft des Landes verhindert werden muss.

Proteste gegen eine geplante Bildungsreform am 19. Mai in Budapest: Das Lehrpersonal soll unter anderem den Beamtenstatus verlieren. (Foto: EPA-EFE/Szilard Koszticsak)

Je mehr sich in den Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union autoritäre und antidemokratische Tendenzen verankern, desto häufiger kommt die Frage auf, inwiefern sich das auch in den EU-Institutionen niederschlägt. So ist die seit Januar laufende Ratspräsidentschaft Schwedens von der Sorge um den Einfluss der rechtsextremen „Schwedendemokraten“ begleitet (siehe „Das autoritäre Potenzial“ in woxx 1720). Die migrationsfeindliche Partei agiert seit Ende vergangenen Jahres als Mehrheitsbeschaffer für ein liberal-konservatives Regierungsbündnis. Zwar ist sie selbst nicht in die Koalition eingetreten, doch befindet sie sich in einer privilegierten Position, um sich Gehör zu verschaffen. Bereits auf einem Sondergipfel des Rats zum Thema Migration im Februar kündigte sich eine härtere Gangart gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden an (siehe „Gipfel der Drohgebärden“ in woxx 1723), die auf der gestern und am heutigen Freitag stattfindenden EU-Innenministerkonferenz in Luxemburg präzisiert werden soll.

Zum Monatswechsel übernimmt Spanien das Zepter, wo bei vorgezogenen Neuwahlen am 23. Juli ebenfalls ein Rechtsruck zu erwarten ist. Ministerpräsident Pedro Sánchez, der eine linke Koalition anführt, kündigte letzte Woche an, seine für den 13. Juli geplante Rede vor dem EU-Parlament zu verschieben. Darin wollte er eigentlich die Prioritäten der Präsidentschaft seines Landes präzisieren, wie es zu Beginn des Vorsitzes üblich ist. Nach den Wahlen wird dies nun womöglich ein rechter Ministerpräsident unter ganz anderen politischen Vorzeichen tun – soweit ihm die Regierungsbildung zuhause überhaupt Zeit lässt für sein europäisches Amt.

Konfliktpotenzial weit größeren Ausmaßes steht allerdings mit der für die zweite Hälfte des kommenden Jahres vorgesehenen Ratspräsidentschaft an. Dann nämlich wird nach Spanien und Belgien turnusmäßig Ungarn den Vorsitz übernehmen. Kritiker*innen befürchten, dass Präsident Viktor Orbán die Gelegenheit nutzen wird, um die EU, auf deren finanzielle Zuwendungen er angewiesen ist, in ihren maßgeblichen Funktionen zugleich zu unterminieren. „Wie kann ein EU-Mitgliedstaat […], der mehrfach gegen EU-Recht und Grundwerte verstoßen hat […], glaubwürdig den Vorsitz bei den Ratssitzungen führen, bei denen es um genau diese Themen geht?“, fragte jüngst etwa der EU-Rechtsexperte Alberto Alemanno auf Twitter.

Die meisten Abgeordneten im EU-Parlament sehen das ganz ähnlich. In einer am vergangenen Donnerstag mit großer Mehrheit verabschiedeten Resolution wird bezweifelt, dass Ungarn „diese Aufgabe im Jahr 2024 glaubwürdig wahrnehmen kann“. Der Text, in dem noch einmal sämtliche Ungarn vorgeworfenen Verstöße rekapituliert werden, geht in seinem Resümee von „bewussten und systematischen Bemühungen“ der dortigen Regierung aus, die Grundwerte der Europäischen Union zu untergraben. „So wie das Land mit der Rechtsstaatlichkeit umgeht, wo es solche Schwierigkeiten in der Justiz und bei der Unabhängigkeit der Presse gibt und auch angesichts all der Aussagen von Herrn Orbán gegen die EU kann ich mir nicht vorstellen, dass Ungarn während sechs Monaten das Gesicht Europas sein wird“, kommentierte gegenüber der woxx die luxemburgische EU-Abgeordnete Isabel Wiseler-Lima (CSV) die Resolution, an deren Entwurf sie für die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) mitgearbeitet hat.

Seit 2010 ist Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz in Ungarn ununterbrochen an der Macht. Nach Auffassung der Rechtswissenschaftlerin Kriszta Kovács fanden damals auch die letzten demokratischen Wahlen dort statt. Seitdem hat Orbán die rechtsstaatlichen Prinzipien und Institutionen konsequent ausgehöhlt.

Im September 2018 hatte das Europaparlament den Rat der EU aufgefordert, gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags festzustellen, ob Ungarn die in Artikel 2 verankerten Grundwerte der Union verletzt. Begründet wurde dies damals vor allem mit der gefährdeten Unabhängigkeit der Justiz, der Meinungsfreiheit, der Rechte von Minderheiten, sowie mit der Korruption und der Situation von Migrant*innen und Flüchtlingen im Land. Seit Dezember 2022 wird außerdem die Zahlung von EU-Mitteln von insgesamt schon über 28 Milliarden an Ungarn ausgesetzt; mit der Begründung, die EU-Gelder würden aufgrund der mangelnden Rechtsstaatlichkeit Ungarns möglicherweise missbräuchlich verwendet. Zum ersten Mal nutzt die EU damit einen Anfang 2021 geschaffenen „Rechtsstaatsmechanismus“, der es erlaubt, die für einen Mitgliedsstaat vorgesehenen Zuwendungen einzufrieren.

Wie für Wiseler-Lima ist es auch für Freund undenkbar, Orbáns Ratspräsidentschaft zuzulassen und damit einen „Feind der Demokratie“ an die Spitze der EU zu setzen.

Genutzt hat all dies dem Anschein nach nichts. „Die ungarische Regierung versucht zwar den Eindruck zu erwecken, dass sie reformiert“, so der grüne EU-Abgeordnete Daniel Freund, der Mitte Mai mit einer Delegation des Haushaltskontrollausschusses des Parlaments in Ungarn war. Jedoch habe es seit Dezember „Null Fortschritt“ gegeben. Damals hatte sich die dortige Regierung mit der EU-Kommission über Maßnahmen zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher Strukturen verständigt, darunter 27 sogenannte „Super-Meilensteine“, ohne die keine Zahlungen aus dem EU-Konjunkturpaket RRF möglich sind. „Keine einzige dieser 27 Reformvereinbarungen ist erfüllt worden“, so Freund gegenüber der woxx: „Wir hatten vor Ort den Eindruck, dass es in einer ganzen Reihe von Bereichen eher schlimmer wird.“

Das geht auch aus der am vergangenen Donnerstag verabschiedeten Erklärung hervor. Unter anderem wird kritisiert, das ungarische Parlament habe im April dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, das die Denunziation von gleichgeschlechtlichen Paaren möglich macht. Die Grundlage dafür lieferte eine EU-Direktive, die Whistleblowern besseren Schutz gewähren soll. Zwar hat Ungarns Präsidentin Katalin Novak zunächst ihr Veto eingelegt, falls das Gesetz jedoch wie geplant in Kraft tritt, legitimiere es „offene Diskriminierung“, so die Resolution; dies stelle „eine erhebliche Bedrohung für die Rechte von LGBTIQ+-Personen und die Meinungsfreiheit aller Menschen in Ungarn“ dar. Selbige sieht man auch durch bildungspolitische Reformen gefährdet, wo die Rechte des Lehrpersonals umfassend eingeschränkt werden sollen. Die grassierende Korruption im Land wird ebenfalls kritisiert.

Anfang Mai hat die ungarische Regierung zwar eine Justizreform beschlossen. Daniel Freund, wie Isabel Wiseler-Lima einer der Autor*innen der Resolution, will sich davon jedoch nicht beeindrucken lassen: „Wenn man mit Rechtsexperten spricht, die sich das unabhängig anschauen, entsteht eher der Eindruck, dass die ungarische Regierung die Kommission zu täuschen versucht.“ Auch eine funktionierende Antikorruptionsbehörde nütze nicht viel, wenn anschließend kein Staatsanwalt die ermittelnden Fälle vor Gericht bringe oder diese vor einem Richter landen, „der von Orbán genau dafür ernannt wurde, dass er niemals Familienmitglieder von Orbán verurteilen wird“.

So gibt es derzeit wenig Grund zur Hoffnung, dass Orbán dem Druck aus Brüssel bald nachgeben wird. Zwar wird die ungarische Regierung die vorigen Jahres beschlossenen Finanzsanktionen erst Anfang 2024 richtig spüren, wenn die bereits finanzierten Projekte auslaufen und keine neuen mehr ins Leben gerufen werden können; doch schiebt man die wirtschaftliche Misere des Landes auf die EU-Sanktionen gegenüber Russland.

Es scheint, als sei der Zeitpunkt, der Regierung Orbán Einhalt zu gebieten, verpasst worden – falls es ihn jemals gegeben hat. Für Kritiker*innen wie den ungarischen Politikwissenschaftler Bálint Magyar besteht der Hauptfehler der „westlichen Analyse“ ohnehin darin, Systeme wie das ungarische als „hybrid“ zu verstehen: als mit deutlich autokratischen Zügen ausgestattet, aber immer noch in den Kategorien liberaler Demokratien und ihrer Institutionen begreifbar. In Ungarn jedoch sei die öffentlich-allgemeine Macht, wie sie der Rechtsstaat per Definition vertritt, vollständig zugunsten privater Interessen enteignet worden, weil „die Regierung als Ganzes als koordinierte kriminelle Organisation agiert“, so Magyar Ende vergangenen Jahres in „Népszava“, der einzigen ungarischen Tageszeitung, die noch unabhängig von Fidesz ist. So gesehen, bewegen sich die EU-Institutionen und die Regierung Orbán in völlig unterschiedlichen Koordinatensystemen (siehe „Der Präsident als Pate“ in woxx 1638).

Wie für Wiseler-Lima ist es auch für Freund undenkbar, Orbáns Ratspräsidentschaft zuzulassen und damit einen „Feind der Demokratie“ an die Spitze der EU zu setzen. „Das ist zwar noch ein Jahr hin, aber die Vorbereitungen gehen eben jetzt los, und Ungarn wird in einem sehr kritischen Moment die Ratspräsidentschaft übernehmen“, so der EU-Abgeordnete angesichts der just vor dem Wechsel im Vorsitz stattfindenden Europawahlen im Juni 2024: „Direkt danach werden ja quasi die Weichen gestellt für die nächsten fünf Jahre Europapolitik – in dieser Situation Ungarn das Ruder zu überlassen, halte ich für eine schlechte Idee.“

Wie man es begründen könnte, Ungarn den Vorsitz zu verweigern, ist juristisch umstritten.

Zwar ist die Funktion nicht mit Exekutivbefugnissen verbunden; doch kann die jeweilige Regierung über die thematische Festlegung von Tagesordnungen und Sondersitzungen sowie die Organisation von Abstimmungen und Kompromissen sehr wohl politisch Einfluss nehmen.

Wie man es begründen könnte, Ungarn den Vorsitz zu verweigern, ist juristisch umstritten. Der EU-Rechtsexperte Alberto Alemanno hat in dem bereits zitierten Tweet mehrere Möglichkeiten durchgespielt, darunter eine Änderung der Reihenfolge der vorsitzenden Länder oder auch eine Verlängerung der Ratspräsidentschaft Belgiens und Spaniens um jeweils drei Monate. Ähnlich lautende Vorschläge wurden von einer Gruppe niederländischer Rechtsexpert*innen, dem sogenannten „Meijers-Committee“, gemacht. Unter anderem schlagen sie die Definition klarer Kriterien vor, die erfüllt sein müssen, um die Ratspräsidentschaft zu übernehmen, beispielsweise, dass kein Grundwerteverletzungsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen das betreffende Land läuft. In jedem Fall aber bräuchte es eine qualifizierte Mehrheit im Rat der Europäischen Union, um das Verfahren zu ändern, was 15 von 27 Ländern entspricht; Frankeich und Österreich haben bereits jetzt ihre Skepsis beziehungsweise Ablehnung ausgedrückt.

Zumindest in Ungarn selbst nimmt der Druck auf die Regierung derzeit zu. Auch am vergangenen Montag waren Schüler*innenorganisationen wieder gemeinsam mit Lehrerer*innen-gewerkschaften auf der Straße, um diese in ihrem Kampf gegen eine geplante Bildungsreform, für Lohnerhöhung sowie gegen von der Orbán-Regierung diktierte Lehrpläne zu unterstützen. Die Proteste dauern bereits seit Herbst vergangenen Jahres an. Die derzeitigen Großdemonstrationen in Polen könnten ebenfalls dazu beitragen, dass sich auch in Ungarn mehr bewegt, insbesondere, falls die erzkonservative PiS-Regierung in Polen am Ende die Macht und Orbán damit eine wichtige Verbündete verliert.


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