EU-Migrationspolitik in Libyen: Zwischenfälle mit System

„Die Begehung von Verbrechen unterstützt und begünstigt“ habe die EU mit ihrer Unterstützung der libyschen Küstenwache und der dortigen Migrationsbehörde – das sagt eine von der UN in Auftrag gegebene Untersuchung. Fraglich jedoch, ob das in der EU und ihren Mitgliedsstaaten zu einem Kurswechsel führt.

Feuerten in internationalen Gewässern ihre Schusswaffen ab, um die zivilen Seenotretter von der „Ocean Viking“ von einem Rettungseinsatz abzubringen: Milizionäre der sogenannten libyschen Küstenwache auf ihrem Boot mit der Kennnummer 656; Patrouillenboote wie dieses werden von der EU finanziert. (Fotos: Jérémie Lusseau/SOS Méditerranée)

Als die „Ocean Viking“ am 25. März auf den Notruf eines in internationalen Gewässern vor Libyen in Seenot geratenen Bootes reagiert, wird das Rettungsschiff der Organisation „SOS Mediterranée“ auf dem Weg zu dem Notfall von einem Patrouillenboot der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen. Alle Versuche, das Boot mit der Kennnummer 656 per Funk von der Brücke der „Ocean Viking“ aus zu kontaktieren, bleiben unbeantwortet. Die Besatzung des Schnellbootes verhält sich zunehmend aggressiv, droht mit Schusswaffen und feuert schließlich in die Luft. Die Seenotretter entfernen sich daraufhin, um die eigene Besatzung zu schützen. In der Zwischenzeit sind bereits mehrere Menschen von Bord des in Seenot geratenen Schlauchbootes gefallen. Rund 80 Personen werden schlussendlich von der libyschen Küstenwache aufgenommen und nach Libyen zurückgebracht.

Gleich am nächsten Morgen gab es ein ein ähnlich unangenehmes Zusammentreffen, wie Julia Schaefermeyer von „SOS Mediterranée“ im Gespräch mit der woxx berichtet: „Es war noch dunkel; ein Patrouillenboot der libyschen Küstenwache hat sich mit hoher Geschwindigkeit der Ocean Viking genähert und dann das Licht ausgeschaltet, was auf See als eine Drohgebärde gilt. Bei Tageslicht hat sich dann herausgestellt, dass es ziemlich sicher dasselbe Patrouillenboot war, das wir am Tag zuvor schon angetroffen haben“, so Schaefermeyer: „Dieses Patrouillenboot hat die Ocean Viking, die dann in Richtung Norden gesegelt ist, noch zwei Stunden lang verfolgt.“

Diese Vorfälle sind nicht die ersten ihrer Art. Dennoch wird die sogenannte libysche Küstenwache, die sich aus verschiedenen, teils miteinander rivalisierenden Banden und Milizen rekrutiert, von der EU weiterhin massiv unterstützt. Seit Jahren stehen die Verantwortlichen Institutionen und die Mitgliedsstaaten deswegen in der Kritik, doch die Zusammenarbeit wird weiter ausgebaut. Im vergangenen Februar wurde auf einem Sondergipfel des Europäischen Rats in Brüssel einmal mehr eine härtere migrationspolitische Gangart beschlossen (siehe den Artikel „Gipfel der Drohgebärden“ in woxx 1723). Zu den Maßnahmen zählt die Stärkung der „Grenzmanagement-Kapazitäten“ von sogenannten Transitstaaten wie Libyen, die dabei unterstützt werden sollen, „irreguläre Migrationsströme zu verhindern“. Wenige Tage zuvor hatte man der sogenannten libyschen Küstenwache das erste von fünf EU-finanzierten nagelneuen Patrouillenbooten übergeben, zudem wurden ihr sechs frisch überholte Boote zur Verfügung gestellt.

Willkürliche Freiheitsberaubung

Ob es eines dieser EU-finanzierten Schiffe war, dass sich so aggressiv gegenüber der „Ocean Viking“ verhielt, vermag man laut Julia Schaefermeyer bei SOS Mediterranée nicht zu sagen. Dennoch hat man es bei der EU-Kommission seit Ende März schriftlich, dass die Unterstützung der libyschen Migrationsbehörde und der Küstenwache durch EU-Gelder „die Begehung von Verbrechen unterstützt und begünstigt hat“ – darunter auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mit diesen Worten fasste Chaloka Beyani, Mitglied einer von der UNO beauftragten unabhängigen Untersuchungskommission zur Lage der Flüchtlinge in Libyen, die Rolle der Europäischen Union zusammen.

Der Ende März vorgestellte Abschlussbericht der Ermittler erörtert auch andere Menschenrechtsverletzungen wie etwa die Repression gegen Oppositionelle und Dissidenten in dem nordafrikanischen Land. Er konzen-
trierte sich insbesondere auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt sowie auf Verstöße und Misshandlungen gegen Frauen. Mehr als 400 Interviews mit Betroffenen wurden hierfür geführt, außerdem Tausende Informationen ausgewertet.

Mindestens 20.000 Menschen sind bislang 
beim Versuch der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken oder gelten als vermisst. (Quelle: IOM)

Die Untersuchung bestätigt, worauf Menschenrechtsorganisationen seit Jahren hingewiesen haben: Die Behandlung von Flüchtlingen und Migrant*innen in Libyen ist katastrophal. Zu den Praktiken der Banden und Machtfraktionen, die sich die Situation von Transitflüchtlingen zu Nutzen machen, zählen demnach „Schmuggel, Menschenhandel, Versklavung, Zwangsarbeit, Inhaftierung und Erpressung von Migranten“. Dies brächte „Einzelpersonen, bewaffneten Gruppen und staatlichen Einrichtungen erhebliche Einnahmen“. Keinen Zweifel lässt die Untersuchung daran, wer diese Zustände unterstützt: „Mit dem Staat verbundene Institutionen in Libyen erhielten technische, logistische und finanzielle Unterstützung von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, unter anderem für das Abfangen und die Rückführung von Migranten nach Libyen.“ Diese Behandlung von Asylsuchenden entspreche der „willkürlichen Freiheitsberaubung“, mit dem Ziel, „ihre Einreise nach Europa zu verhindern“: „Dies ist eine Folge sowohl der europäischen Einwanderungspolitik als auch der mit der Migrationspolitik verbundenen wirtschaftlichen Interessen in Libyen durch anschließende Inhaftierung und Ausbeutung“ der Flüchtlinge. (Siehe dazu den Artikel „Bündnis mit den Banden“ in woxx 1685).

Windelweiche UN-Resolution

Die EU-Kommission will die Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen. Zwar nehme man diese „sehr ernst“, so Kommissionssprecher Peter Stano in Brüssel. So habe die EU-Mission vor Ort in Libyen mit den Ermittlern kooperiert. Auch stimme man sich regelmäßig mit den zuständigen UN-Organisationen ab: „Unser gemeinsames Ziel, ist es, die Situation der in Libyen gestrandeten Menschen zu verbessern.“ Doch was in dem Bericht in aller Deutlichkeit als ein durchorganisiertes System der Ausbeutung und Misshandlung geschildert wird, bezeichnete Stano lediglich als „Zwischenfälle“ und „Probleme, die Anlass zur Sorge geben“. Einen direkten Fluss von EU-Geldern an libysche Stellen, jenseits des Kaufs von Ausrüstung und Schiffen, wie ihn der Bericht nahelegt, stritt Stano ab. Auch in einem „interaktiven Dialog“ mit der Untersuchungskommission formulierte die EU in ihrer Stellungnahme Anfang April nicht näher präzisierte „Einwände“ gegen die Kritik an ihrer Kooperation mit Libyen, das „ein wichtiges Drittland auf der zentralen Mittelmeerroute“ sei, und folgert: „Jetzt kommt es darauf an, wie die Empfehlungen der Untersuchungskommission in die Tat umgesetzt werden.“

Die UN-Resolution, die Anfang April aus dem Bericht der Untersuchungskommission hervorging, ist in dieser Hinsicht wenig ermutigend. Von der Dringlichkeit der Lage, wie sie die Ermittler formulierten, ist nichts übrig geblieben. Lediglich allgemeine Floskeln, wie etwa, man wolle Libyen „bei der Umsetzung seiner internationalen Menschenrechtsverpflichtungen unterstützen“, schafften es in den Text.

Philippe Dam, der EU-Direktor der Menschenrechts-NGO „Human Right Watch“, wirft der Europäischen Union angesichts dessen „doppeltes Versagen“ vor. Zum einen habe man es versäumt, den üblicherweise von dem betroffenen Land selbst formulierten Entwurf – in diesem Fall also Libyen – auf eine Weise zu überarbeiten, die deutlich mache, dass „bei schweren Menschenrechtsverletzungen überall die selben Standards gelten“. Zum anderen erkenne die EU „die Schlussfolgerung der Untersuchungsmission nicht an, dass ihre wichtigsten Partner in Libyen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen“. Stattdessen habe man einer Resolution zugestimmt, „die jegliche relevante Folgeberichterstattung zum UN-Bericht zu Grabe trug“. Dam fordert die EU auf, nicht länger mit den kritisierten libyschen Strukturen zusammenzuarbeiten und stattdessen, wie in dem Bericht formuliert und vom UN-Menschenrechtskommissar unterstützt, auf die Einrichtung einer unabhängigen Stelle zur Überwachung von Menschenrechtsverletzungen in Libyen zu drängen.

Schlimmeres als den Tod

Eins ist klar: So lange die Situation in Libyen sich nicht verbessert, gibt es für die Flüchtlinge und Migrant*innen dort Schlimmeres als den möglichen Tod auf dem Mittelmeer: „Unsere Sorge ist nicht, im Wasser zu sterben, sondern in das Gefängnis zurückzukehren, wo wir von den Wärtern unterdrückt und gefoltert werden“, wird eine betroffene Person in dem Bericht zitiert.

269 Menschen sind laut der „Internationalen Organisation für Migration“ (IOM) in diesem Jahr bereits bei dem Versuch, über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa zu gelangen, ertrunken; 172 weitere gelten als vermisst. Bei dem Versuch, sich von Libyen aus auf den Weg zu machen, wurden bislang 4.241 Personen von den libyschen Patrouillenbooten abgefangen; knapp 25.000 waren es im gesamten letzten Jahr.

„Der europäische Rückzug aus der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer und auch die Unterstützung der libyschen Küstenwache wird weiterhin zu mehr Toten und mehr 
schweren Menschenrechtsverletzungen führen“, so Julia Schaefermeyer gegenüber der woxx. Den Eindruck, dass bei der EU-Kommission angesichts der Ereignisse rund um die „Ocean Viking“ und vor allem des UN-Berichts wirklich auf eine Lösung hingearbeitet wird, hat die Sprecherin von „SOS Mediterranée“ bislang nicht.

Immerhin: Jüngst hat sich mit Manfred Weber, dem Vorsitzenden der Fraktion der konservativen „Europäischen Volkspartei“ (EVP) im Europaparlament, sogar ein migrationspolitischer Hardliner für die Wiederaufnahme der Seenotrettung im Mittelmeer ausgesprochen: Bei aller Wertschätzung für zivilgesellschaftliches Engagement sei dies eine hoheitliche Aufgabe des Staates. „Wir müssen deshalb die Neuauflage einer EU-Mission im Mittelmeer prüfen“, so Weber Ende Januar gegenüber der deutschen Tageszeitung „Welt“: „Wir wollen Leben retten, aber wir dürfen das nicht privatisieren.“

Bei dieser Aussage würde ihm aus den Kreisen der zivilen Seenot-
retter*innen wohl niemand widersprechen. „Das wäre unsere große Hoffnung, dass ein staatlich geführtes Seenotrettungsprogramm, das im Einklang mit dem See- und Menschenrecht steht, im Mittelmeer eingeführt wird“, meint auch Julia Schaefermeyer: „Die Herausforderung besteht darin, den Konsens hierzu in der EU zu erzielen.“


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