Nicht bloß knapp an der Armutsgrenze vorbei, sondern ein Leben in der Mitte der Gesellschaft – das soll ein europäischer Mindestlohn ermöglichen. Deutlich überarbeitet hat das EU-Parlament daher einen entsprechenden Kommissionsentwurf. Nicolas Schmit als zuständiger Kommissar kann damit gut leben, doch schwedische und dänische Gewerkschaften bleiben bei ihrer Fundamentalkritik.
So viel wird derzeit über die „Spaltung der Gesellschaft“ diskutiert, man könnte meinen, diese drohe tatsächlich erst mit der Coronapandemie und sei nicht etwa für den Kapitalismus konstitutiv – auch wenn die Rede von der Klassengesellschaft aus der Mode gekommen ist. Eine Initiative, um die schärfsten Auswüchse der mit dieser Spaltung verbundenen sozialen Gegensätze ein wenig abzumildern, ist die von Nicolas Schmit (LSAP) als zuständiger EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte vorgeschlagene EU-Richtlinie für einen europäischen Mindestlohn.
Am vergangenen Donnerstag konnte Schmit hierzu einen Erfolg verbuchen: „Ich bin sehr erfreut, dass das Europaparlament dafür gestimmt hat, in Verhandlungen über einen EU-Mindestlohn einzutreten und der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten sich auf einen Text geeinigt hat“, twitterte Schmit und gab damit zugleich den weiteren Fahrplan der Initiative kund. Nun nämlich müssen die gesetzgebenden Institutionen der Europäischen Union – Parlament, Kommission und Rat – im sogenannten Trilog über die genaue Ausgestaltung der Richtlinie verhandeln. Diese gilt als zentraler Baustein der von der EU-Kommission propagierten „Europäischen Säule sozialer Rechte“.
Das Parlament allerdings wird mit einer überarbeiteten Fassung des von Nicolas Schmit im Oktober vergangenen Jahres vorgestellten Entwurfes der Richtlinie (siehe den Artikel „Bedingt verbindlich“ in woxx 1604) in die Verhandlungen gehen. „Grundsätzlich kann man sagen, dass mit dem Parlamentsvorschlag die soziale Komponente und Zielsetzung des Mindestlohns stärker betont wird“, sagt dazu Torsten Müller vom gewerkschaftsnahen „European Trade Union Institute“ (ETUI) in Brüssel gegenüber der woxx. Der Vorschlag sehe unter anderem präzisere „Kriterien vor, um die Angemessenheit von Mindestlöhnen beurteilen zu können“. Das jedoch kann letztlich nur auf Grundlage der realen Lebenshaltungskosten im jeweiligen Mitgliedsstaat geschehen. Das Parlament hat den ursprünglichen Entwurf daher um einen sogenannten Güterkorb („basket of goods and services“) ergänzt, den die Kaufkraft des Mindestlohns ermöglichen soll und der neben den unmittelbaren Bedürfnissen auch einen Katalog sportlicher, kultureller und sozialer Aktivitäten umfasst. Damit will man eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantieren.
Einen konkreten Betrag für einen Mindestlohn festlegen kann die EU-Richtlinie allerdings nicht. Das Subsidiaritätsprinzip sowie der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ machen es unmöglich, dass die Europäische Union unmittelbar in das Arbeitsentgelt betreffende Regelungen der Mitgliedsstaaten eingreifen kann. Stattdessen geht es um die Etablierung von klaren und überprüfbaren Kriterien, an denen sich die Lohnfestsetzung orientieren soll, damit ein auskömmliches Leben oberhalb der Armutsgrenze möglich wird. Dies ist bislang in der Mehrheit der EU-Staaten mit gesetzlichem Mindesteinkommen nicht der Fall. Der Entwurf der Kommission schlägt deshalb vor, dieses solle 60 Prozent des mittleren Einkommens (das genau in der Mitte aller in einer Gesellschaft erzielten Einkommensgrößen liegt und in der Regel niedriger ist als der Durchschnittslohn) und 50 Prozent des Durchschnittslohns nicht unterschreiten. Dadurch allein wäre jedoch ebenfalls nicht in allen Ländern ein Leben jenseits der Armut garantiert. Das Parlament will daher zudem die Armutsquote, also den prozentualen Anteil aller, die in einer Gesellschaft mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen müssen, sowie die Erwerbsarmut (in-work-poverty) in die Berechnungen einbeziehen.
Nicolas Schmit kann mit diesen Ergänzungen „gut leben“, wie er sagt. Es gebe „keine Veränderung im Parlamentsbericht, die ich nicht annehmen könnte“, versichert er gegenüber der woxx. Zugleich weiß er um die Grenzen dessen, was per gesetzlichem Mindestlohn geregelt werden kann. „Mit der Richtlinie kann man nicht alle Probleme gleichzeitig lösen“, sagt der EU-Kommissar, wenn man ihn auf die Tatsache anspricht, dass beispielsweise in Luxemburg im Schnitt über die Hälfte des EU-weit höchsten gesetzlichen Mindestlohns in die Mietkosten eingehen (siehe webexclusive-Artikel „Malochen für die Miete“). Dieses Problem sei nur lösbar durch „eine sehr aktive Wohnungsbaupolitik“: „Wenn die Verbesserung beim Mindestlohn wieder aufgefressen wird durch eine sehr starke Verteuerung der Mieten, dann hat sich am Ende der Lebensstandard womöglich sogar verschlechtert“, stellt Schmit klar.
„Die gesamte Richtlinie zielt darauf ab, die Lohnabstimmung politisch zu beeinflussen.“
Das zweite Ziel, das die EU-Kommission mit der geplanten EU-Richtlinie verfolgt, ist eine Stärkung der Tarifpolitik. Auch hier erkennt Experte Torsten Müller „zentrale Verbesserungen“ im überarbeiteten Entwurf des Parlaments. Gehe die ursprüngliche Version davon aus, dass ein Mitgliedsstaat der EU aktiv werden muss, falls weniger als 70 Prozent aller Arbeitsverträge an tariflich vereinbarte Löhne gebunden sind, so fordert die nun vom Parlament verabschiedete Fassung eine Tarifabdeckung in Höhe von mindestens 80 Prozent. „Das kann durchaus konkrete Auswirkungen haben“, versichert Müller, denn Portugal, Niederlande und Slowenien haben eine Tarifabdeckung, die zwischen diesen beiden Werten liegt. Auch sie müssten dann mit einem von der EU-Kommission vorgesehenen Aktionsplan für eine Stärkung ihrer Tarifsysteme sorgen. Ebenso werde festgehalten, dass „Tarifverhandlungen Sache der Gewerkschaften“ und nicht von sogenannten „Arbeitnehmerorganisationen“ sind, die auch von den Unternehmen selbst eingesetzte Interessenvertretungen der Beschäftigen sein können. Vorgesehen seien überdies konkrete Maßnahmen gegen ein sogenanntes „union busting“, das darauf abzielt, „die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit zu untergraben“.
Für einige nordische Gewerkschaften und EU-Abgeordnete ist all dies dennoch nicht zufriedenstellend. Sie haben die Abstimmung im Europaparlament in der vergangenen Woche überhaupt erst notwendig gemacht. Bereits am 11. November nämlich hatte sich der Beschäftigungsausschuss des Parlaments mit einer deutlichen Mehrheit für eine Eröffnung des Trilogs ausgesprochen und dabei seine erweiterte Version des Entwurfs der EU-Richtlinie präsentiert. Formal wäre das ausreichend gewesen, um in den Trilog einzutreten. Dann jedoch sammelten linke und sozialdemokratische EU-Abgeordnete aus Dänemark und Schweden genügend Unterschriften, um eine Abstimmung im Plenum zu erzwingen. Ihr Ziel, die Initiative für einen europäischen Mindestlohn zu verhindern, wurde jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil: Mit 443 Ja- gegenüber 192 Nein-Stimmen sprach sich eine große Mehrheit dafür aus, mit dem im Bericht beschriebenen Mandat in die Verhandlungen zu ziehen.
„Wirklich deprimierend“ sei es, dass Schweden diesen Kampf verloren habe, twitterte die EU-Abgeordnete der schwedischen Zentrumspartei Abir Al-Sahlani nach der Abstimmung und blieb kämpferisch: „Brüssel legt nicht die schwedischen Gehälter fest“. Parteiübergreifend hat man Angst, dass das nordische Modell der Lohnfindung durch den europäischen Mindestlohn in Gefahr gerät. Denn in Dänemark, Schweden und Finnland wird das Lohnniveau bislang allein über Tarifverträge festgelegt, die zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden ausgehandelt worden sind, der Staat hält sich heraus. Bis jetzt. „Die gesamte Richtlinie zielt darauf ab, die Lohnabstimmung politisch zu beeinflussen“, argwöhnt der schwedische Sozialdemokrat Johan Danielsson. Seitens der Linken ist es eine Schwächung der gewerkschaftlichen Verhandlungsposition, die mit der EU-Richtlinie gerade in den genannten Ländern mit enorm hoher Tarifabdeckung befürchtet wird, die in Schweden bei 90 Prozent, in Dänemark bei 82 Prozent, in Finnland bei 91 Prozent angesiedelt ist. Zum Vergleich: in Luxemburg liegt sie bei nur 59 Prozent.
„Die beste Lohnfindungspolitik ist Tarifpolitik; Mindestlöhne sind immer nur eine zweitbeste Lösung“, beteuert indessen Nicolas Schmit. Primäres Ziel der Richtlinie sei es daher, „die Tarifabdeckung entscheidend zu verbessern, die ja in vielen Ländern unter 50 Prozent liegt“. Freimütig gibt er jedoch zu, dass es ihm „in der Tat nicht gelungen“ sei, jene Kritiker*innen zu überzeugen, die die von ihm vorangetriebene Initiative von Anfang an mit großer Skepsis begleitet haben (siehe „Stresstest für Schmit“ in woxx 1563). Eigentlich, so Schmit, sei der Europäische Gerichtshof (EuGH) deren „große Angst“: „Sie berufen sich da auf einige Urteile im Sozialwesen und fürchten, dass der Gerichtshof sie eines Tages dazu zwingen könnte, einen statuarischen Mindestlohn einzuführen.“
Die Urteile des Gerichtshofs, die dabei meist genannt werden, wurden im Dezember 2007 gefällt. Im sogenannten Viking-Fall ging es um die Umflaggung eines Fährschiffes von Finnland auf Estland, im Fall Laval um die Löhne und Arbeitsbedingungen für lettische Arbeiter eines lettischen Unternehmens auf einer schwedischen Baustelle. Die betroffenen Gewerkschaften erkannten darin Lohndumping und gingen mit Aktionen dagegen vor. Der angerufene EuGH hat mit seinen komplex argumentierenden Urteilen laut dem deutschen Arbeitsrechtler Thomas Blanke von der Universität Oldenburg letztlich den „wirtschaftlichen Freiheiten“ der EU-Verträge, „namentlich der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit, Priorität gegenüber der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit, insbesondere dem Streikrecht, eingeräumt“. Auch andere Kritiker*innen erkannten in den Urteilen einen klaren Eingriff in die Tarifautonomie.
Laut Schmit habe man in dem Entwurf der EU-Richtlinie jedoch klar formuliert, „dass kein Staat gezwungen werden kann, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen“, wenn es einen solchen noch nicht gibt. Neben den nordischen Ländern ist das auch in Österreich, Italien und Zypern der Fall. Torsten Müller vom ETUI vermutet eher prinzipielle Erwägungen hinter der schwedischen und dänischen Haltung: „Man argumentiert, damit werde ein Präzedenzfall im Sinne einer staatlichen Einmischung in die Lohnfestsetzung dieser Länder geschaffen, und dem will man generell einen Riegel vorschieben.“
Auch der Rat der Europäischen Union hat mittlerweile eine überarbeitete Version des Kommissionsentwurfs vorgelegt. Der von der slowenischen Präsidentschaft präsentierte Vorschlag versucht allerdings eher, noch unverbindlicher zu werden, wo das Parlament auf Präzisierung drängt. Die Positionen klaffen also weit auseinander, weshalb Schmit sich ausrechnet, dass sich ein Kompromiss eher wieder an den Formulierungen der Kommission orientiert.
Frankreich, das zum Jahreswechsel die Ratspräsidentschaft übernimmt, hat sich vorgenommen, den Trilog zu einer Einigung zu führen, noch ehe es Mitte 2022 den Stab an die Tschechische Republik übergibt. Mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten müssen am Ende für einen zur Abstimmung stehenden Vorschlag stimmen und dabei mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren – eine sogenannte qualifizierte Mehrheit. Der EU-Kommissar hofft daher nicht nur bei der Kompromissfindung auf die neue deutsche Bundesregierung, denn die Stimmen, die sie mitbringt, haben „ja ein gewisses Gewicht“. Anders als die scheidende Regierung, die beim Thema europäischer Mindestlohn uneinig und daher zurückhaltend war, wird dieser von der Ampelkoalition nämlich zumindest laut Koalitionsvertrag unterstützt.