Wie die Klimakonferenz von Santiago nach Madrid verlegt wurde, hat Symbolwert. Wer die soziale Gerechtigkeit vernachlässigt, wird beim Klimaschutz scheitern.
Die Verfassung wird reformiert. Oder doch nicht. In Luxemburg lässt die Debatte um die „Réforme constitutionnelle“ an das Voranschreiten der Echternacher Springprozession denken. Stein des Anstoßes sind denn auch allenfalls die folkloristischen Paragrafen über die Dynastie von Operetten-Großherzog*innen, die sich das Land leistet. Glückliches Luxemburg!
Kein Gipfel wegen 30 Pesos
In Chile ticken die Uhren anders. Die Klimakonferenz, die eigentlich dort hätte stattfinden sollen, wurde Ende Oktober wegen einer Preiserhöhung der Metro-Tickets in Santiago um 30 Pesos (etwa 4 Eurocent) abgeblasen. Genauer gesagt, wegen der größten Proteste seit Jahrzehnten, die diese Preiserhöhung ausgelöst hatte. Bei den – immer noch andauernden – größtenteils friedlichen Demos sind über 20 Personen ums Leben gekommen, Tausende wurden verletzt und internationale NGOs berichten über schwere Menschenrechtsverletzungen. Eine der Hauptforderungen der Demonstrierenden: die Verfassung ändern.
Doch wieso gehen die Chilen*innen wegen ein paar Cent und einem Wisch Papier wochenlang auf die Straße? Die – für das lokale Einkommensniveau nicht so geringe – Preiserhöhung der Metro hat Symbolwert: In Santiago geht die geografische Distanz zwischen Zentrum und Peripherie einher mit der sozialen Distanz zwischen Arm und Reich, wie die Washington Post erläutert. Es geht aber eigentlich, wie ein Protestslogan lautete, nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Demokratie ohne Gerechtigkeit: „No son $30, son 30 años“. Hier kommt die Verfassung ins Spiel, eine der Altlasten der Pinochet-Diktatur. Zwar schien Chile nach und nach das autoritär-konservative Erbe des Regimes hinter sich zu lassen. Doch an der marktliberalen Ausrichtung des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems wollte und konnte man nichts ändern: Unternehmerische Freiheit und Besitzrecht werden durch die Verfassung weit höher gewertet als soziale Absicherung und Gerechtigkeit.
So reichte es auch nicht, dass Präsident Sebastián Piñera relativ schnell die Preiserhöhung rückgängig machte, umso weniger als er angesichts der Plünderungen am Rande der Proteste den Ausnahmezustand ausrief, von „Krieg“ sprach und die Armee einsetzte. Am 25. Oktober demonstrierten 1,2 Millionen Menschen in Santiago, unter anderem als Reaktion auf das brutale Vorgehen von Polizei und Armee – erst danach wurde der Ausnahmezustand aufgehoben. Weil die Proteste weitergingen, sagte Piñera die COP25 und den Asien-Pazifik-Wirtschaftsgipfel ab. Und wiederum zwei Wochen später rang sich die Regierung endlich dazu durch, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung in die Wege zu leiten.
Putsch statt Fortschritt
Vermutlich hätte die Klimakonferenz stattfinden können, denn im Dezember hatte sich die Lage beruhigt. Böse Zungen behaupten, Piñera habe es vermeiden wollen, unter den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Protestbewegung vorzugehen. Jedenfalls hat es Symbolwert, dass der wichtigste Termin auf der Umwelt-Agenda von 2019 nicht wie geplant stattfinden konnte, weil die soziale Agenda vom chilenischen Staat vernachlässigt worden war. Das führt uns vor Augen, dass die Menschheit als Ganzes bei der Lösung der Klimakrise scheitern könnte, weil sie die Gerechtigkeitskrise dabei ignoriert.
Chile ist zwar auf den ersten Blick ein Sonderfall, eigentlich ist das Land aber ein Laboratorium gewesen für eine bestimmte Herangehensweise an ökonomische, soziale und ökologische Fragen. Eine Herangehensweise, die seit dem Siegeszug des Neoliberalismus vor 30 Jahren das Denken und Handeln der meisten Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft prägt. Dass Chile hier eine Vorreiterrolle spielen konnte, hängt mit dem Militärputsch von Augusto Pinochet 1973 zusammen. Die von den nationalen konservativen Eliten und von den USA unterstützte blutige Unterdrückung aller fortschrittlichen politischen Kräfte machte den Weg frei für eine neue Wirtschaftspolitik. Der Diktator griff auf die Dienste der „Chicago Boys“ zurück, um die chilenische Wirtschaft neu zu organisieren. Der Name bezeichnet eine Gruppe von chilenischen Ökonom*innen, die in den USA studiert hatten und mit einem blinden Glauben an die neoliberalen und monetaristischen Theorien des Chicagoer Professors Milton Friedman zurückgekehrt waren.
Verstaatlichungen und Landreform wurden rückgängig gemacht und ein umfassendes Deregulierungs- und Privatisierungsprogramm eingeleitet. Obwohl sich sowohl Friedmann wie die Chicago Boys als „Liberale“ bezeichnen, hatten sie keine Schwierigkeiten, mit der brutalen Pinochet-Diktatur zusammenzuarbeiten – sie waren wohl der Meinung, man müsse die Bevölkerung, die nichts von Ökonomie versteht, vor ihrer eigenen „sozialistischen“ Unvernunft schützen. Privatisiert wurden unter anderem das Schul-, das Gesundheits- und das Rentensystem, drei Bereiche, die bis heute nach dem Marktprinzip funktionieren und maßgeblich zur Ungleichheit in Chile beitragen.
Neoliberalismus gegen Mensch und Natur
War der darauffolgende wirtschaftliche Aufschwung wirklich auf die neue Politik zurückzuführen oder darauf, dass die USA Pinochet unterstützten, während sie zuvor die Wirtschaftspolitik der Regierung Salvador Allendes sabotiert hatten? Jedenfalls führten die neoliberalen Reformen dazu, dass die Reichen noch viel reicher wurden und die restliche Bevölkerung wenig bis gar nicht vom Wachstum profitierte. Letzteres wurde von dem internationalen Mainstream der Wirtschaftsexpert*innen einfach ignoriert und so war es bis in die 2000er-Jahre hinein üblich, vom „Chilenischen Wunder“ zu schwärmen. Insbesondere das sich auf Kapitalisierung stützende Rentensystem galt als Alternative zum „abgewirtschafteten“ – auf Solidarität beruhenden – Umlageverfahren. Mit dem „Chilenischen Frühling“, wie die Proteste auch genannt werden (auf der Südhalbkugel sind die Jahreszeiten versetzt), dürfte das Schwärmen vom Modellland ein Ende haben.
Was in Chile nach 1973 umgesetzt wurde, ist das, was Unternehmerverbände wie die UEL immer noch fordern: die Wirtschaft nach den Prinzipien der Eigenverantwortung und der Markteffizienz zu organisieren. Zum Glück gibt es in den meisten Ländern dagegen mehr Widerstand als in Chile nach Pinochets Terrorkampagne. Im Andenland kann man begutachten, welche Folgen die Profitmaximierung für Natur und Mensch hat. So gibt es dort mehrere Zonas de sacrificio, Gebiete, die durch Kraftwerke und andere Industrieanlagen dauerhaft verseucht sind – und in denen die ärmeren Bevölkerungsschichten leben müssen. Riesige Landstriche – die von den Ureinwohner*innen beansprucht werden – sind in den Händen von großen chilenischen Familien oder internationalen Konzernen und werden rücksichtslos ausgebeutet. Das gewaltige naturzerstörerische Staudammprojekt HidroAysén in Patagonien scheiterte 2014 am Widerstand der lokalen Bevölkerung und der Umweltbewegungen – eine Premiere in einem Land, in dem die Interessen der Wirtschaft normalerweise vorgehen.
Die Unterdrückung der linken Opposition und die neoliberalen Reformen verschärften noch die in Lateinamerika allgegenwärtigen Unterschiede zwischen Elite und Volk. Zwar widmeten sich die demokratisch gewählten Regierungen ab 1990 der Armutsbekämpfung und der Abfederung der Folgen der Liberalisierung. Doch die Ungleichheit ist geblieben: Die Hälfte der Chilen*innen verdienen weniger als 500 Euro im Monat und das Land hat einen für Lateinamerika typischen Gini-Koeffizienten von 46,6. Und über die Einkommensverteilung hinaus sind die Menschen empört über die großen Unterschiede beim Zugang zu Bildung, Wohnungen, Gesundheitsversorgung.
Energiewende? Sozialer Wandel!
Es ist kein Zufall, dass eine der Forderungen der Proteste die „Dignidad“ war, die Würde. Das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte bei den Protesten wird auch erlebt als Erinnerung, dass das Volk in den Augen der regierenden Elite Objekt und nicht Subjekt des politischen Lebens ist. Bei großen Demos des „Chilenischen Frühlings“ arbeiteten viele Gruppen zusammen, besonders bekannt wurde die Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) der feministischen Gruppe Lastesis. Auch die Umwelt-NGOs betrachten sich als integraler Teil der Bewegung für eine gerechtere Gesellschaft, der in Santiago organisierte Gegengipfel zur COP25 wurde bewusst Sozialgipfel (Cumbre social por la acción climática) getauft. Alle diese Gruppen haben mehr oder weniger mit der institutionellen Politik gebrochen und es ist nicht sicher, ob dieser Riss durch die Initiative für eine neue Verfassung gekittet werden kann.
Chile liegt am anderen Ende der Welt, die europäischen Sozialstaaten sind weiterhin vorbildlich und die Chicago Boys mittlerweile in Rente? Nicht ganz. Die neoliberalen Expert*innen von damals besetzen immer noch einflussreiche Positionen in Konzernen und Think tanks. Ihre Lehre hat in den 1980er-Jahren unseren Kontinent erreicht und die europäische Einigung stark geprägt. Die Prinzipien, nach denen Euro und Zentralbank organisiert sind, sind vom Monetarismus abgeleitet, die „Wirtschaftsunion“ wäre treffender mit „Marktunion“ umschrieben. In EU-Verträgen und -Rechtssprechung zählen unternehmerische Freiheit und Konkurrenz mehr als soziale und Umweltrechte. Der angekündigte „Green Deal“ scheint ganz auf Ökokapitalismus zu setzen und nimmt bezeichnenderweise nicht Bezug auf Roosevelts „New Deal“ nach der Großen Depression in den 1930er-Jahren, der sich aus Infrastrukturprojekten und sozialen Reformen zusammensetzte. Eigentlich bräuchte das heutige Europa, wie Chile, eine neue, post-neoliberale Verfassung.
Auch die internationalen Klimaschutzverhandlungen sind vom Marktparadigma geprägt. Dass die COP25-Verhandlungen gescheitert sind, ist keine gute Nachricht. Doch noch schlimmer wäre es, wenn eine Einigung über die Anwendung von Artikel 6 zustande gekommen wäre, wie sie von vielen Wirtschafts- und Politikvertreter*innen gewünscht wurde. Bei diesem letzten immer noch strittigen Absatz des Pariser Abkommens geht es darum, dass Länder ihre Klimaschutzanstrengungen ins Ausland verlagern können, insbesondere über den Zukauf von CO2-Emissionsrechten. Was sektoriell und lokal eventuell sinnvoll ist, soll als allgemeiner, weltweiter Marktmechanismus eingeführt werden.
Was auch immer die kommenden Klimagipfel in Sachen CO2-Reduktionen beschließen, kann nicht losgelöst von dem sozialen Zustand des Planeten betrachtet werden. Die Umwälzungen, die mit Energiewende und nachhaltigen Politiken einhergehen, müssen sozial abgefedert werden. Geschieht das nicht, so wird die Politik lokal und global mit Protesten konfrontiert, die, wie in Chile, ihre Handlungsfähigkeit lähmen, während zugleich die Fridays-for-Future-Generation ein schnelles Handeln fordert. Wenn dann Gelbwesten und Grünwesten gemeinsam demonstrieren, kann das zu systemischen Veränderungen führen wie im Jahr 1968 … oder zu konservativ-populistischen Putschs wie 1973 in Chile.