Wie steht es ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine um die Integration ukrainischer Flüchtlinge in Luxemburg? Je nachdem wen man fragt, sind die Antworten sehr unterschiedlich.
Als Außenminister Jean Asselborn (LSAP) am Dienstagmorgen vor die Presse trat, um unter anderem eine Bilanz der Situation ukrainischer Flüchtlinge zu ziehen, war das Bemerkenswerte das, was nicht gesagt wurde. Kein Wort nämlich verlor der Minister darüber, wie lange dieser Krieg, den der russische Präsident Vladimir Putin der Ukraine am 24. Februar 2022 erklärte, möglicherweise noch andauern könnte. Das war im vergangenen Juli noch anders. Damals hatte Asselborn sich im Rahmen einer Pressekonferenz zuversichtlich gezeigt, dass die Ukraine mit Putin verhandeln und einen Kompromiss finden könnte. Mit jedem Monat der seither vergangen ist, wurde die Vorstellung, dass der Krieg bald enden könnte unrealistischer. Selbst ein Politiker wie Asselborn scheint seinen anfänglichen Optimismus verloren zu haben.
Wer deswegen erwartete, dass der Minister spätestens jetzt neue Unterstützungsmaßnahmen für ukra- inische Kriegsflüchtlinge ankündigen würde, wurde am Dienstag enttäuscht. Bei der Pressekonferenz gab es stattdessen einen Rückblick und selbst dieser fiel recht oberflächlich aus, figurierte der Punkt „ukrainische Flüchtlinge“ nur als einer von zahlreichen auf dem „Ordre du jour“. Im Zentrum standen die Bilanz zu Asyl, Immigration und Aufnahme („accueil“). Asselborn überschüttete die Journalist*innen mit Zahlen – schlauer wurde daraus am Ende wahrscheinlich niemand. Dabei stellen sich bezüglich deren Wohnsituation, psychologischer Betreuung und langfristiger Integration viele dringende Fragen.
2022 haben 5.397 ukrainische Flüchtlinge einen temporären Schutzstatus bei der Immigrationsdirektion des Außenministeriums beantragt. In über 94 Prozent der Fälle wurde dieser gewährt. Dieser außerordentliche Schutzstatus, welcher auf eine am 4. März 2022 in Kraft getretene EU-Richtlinie zurückgeht, war zunächst auf eine Zeitspanne von einem Jahr beschränkt, wurde mittlerweile aber um sechs Monate erweitert. Bisher wurde der Status von 3.508 Ukrainer*innen bereits verlängert. 150 warten noch auf eine Antwort. Darüber hinaus haben laut Außenministerium bisher 12 Ukrainer*innen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Bearbeitet wurden diese Anträge allerdings noch nicht.
Beherbergung
Ganz neu aus dem Boden gestampft wurde vor einem Jahr die staatlich unterstützte Unterbringung von Flüchtlingen in Gastfamilien. Wie die woxx im März berichtete, war es anfangs nicht leicht, die entsprechenden Modalitäten festzulegen und umzusetzen. „We make it up as we go“, hatte Caritas-Direktor Marc Crochet damals eingeräumt.
Doch wie lautet die Bilanz rund ein Jahr nach der Einführung dieses Systems? Danach gefragt, antwortet das dafür zuständige Integrationsministerium (Mifa) lediglich, die private Beherbergung von Flüchtlingen sei in Luxemburg bereits vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine möglich gewesen, neu sei das Modell also keineswegs. Als die woxx nachhakt, ob es nicht trotzdem angebracht sei, das mittlerweile staatlich regulierte Modell zu evaluieren, präzisiert das Mifa nach Rücksprache mit dem Office national de l’accueil (Ona), dass eine Bilanz erst in den kommenden Monaten geplant sei.
Aufschlussreicher war die Antwort der Caritas: Die Verantwortlichen bewerten die Aufnahme von Flüchtlingen durch private Familien als „grundsätzlich gut“, auch wenn das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen „immer eine Herausforderung“ darstelle. Für die Zukunft wünsche sich die Caritas zwei Dinge: die finanzielle Unterstützung von Gastfamilien durch den Staat, und die Anerkennung von Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen.
Im März hatte Integrationsministerin Corinne Cahen (DP) der woxx gegenüber gegen eine finanzielle Unterstützung von Gastfamilien argumentiert (siehe „Krisenmanagment: Chaos der Zuständigkeiten“ in der woxx 1678). Man wolle dadurch vermeiden, dass die Flüchtlinge in deren Abhängigkeit gerieten. Diese Woche bekräftigte das Ona diese Position der woxx gegenüber erneut. Eine finanzielle Hilfe von Gastfamilien sei nicht geplant, so die knappe Antwort.
Psychologische Betreuung
Ein weiterer Knackpunkt im vergangenen Herbst war die adäquate psychologische Betreuung ukrainischer Flüchtlinge. Marc Crochet wies die woxx auf zwei zentrale Schwierigkeiten hin: Der Mangel an Ukrainisch oder Russisch sprechendem Personal sowie solchem, das auf Kriegstraumata spezialisiert sei. Hinzu komme ein allgemeiner Mangel an Psycholog*innen, Therapeut*innen und Psychiater*innen hierzulande. Die Caritas, so Crochet damals, habe darauf reagiert, indem sie „mittels eigener Gelder (ihre) psychologische Dienststelle ausbaue, um Traumatherapie anbieten zu können“.
Die Pressesprecherin des Ona verweist derweil darauf, dass ukrainische Flüchtlinge dank der Unterstützung der Gesundheitskasse auf das gleiche Angebot an Psychotherapien zurückgreifen könnten wie der Rest der Bevölkerung. Ergänzt werde dies durch das Gratisangebot unterschiedlicher Organisationen – womit wohl Rotes Kreuz und Caritas gemeint sind.
Letztere verfügen mittlerweile nicht nur über ein auf Kriegstraumata spezialisiertes Psycholog*innen-Team: Patient*innen können bei Bedarf auch auf Dolmetscher*innen zurückgreifen. Besteht dieses Angebot auch abseits der kostenfreien Anlaufstellen? Das Ona gibt diese Frage unbeantwortet an das Gesundheitsministerium ab.
Ist das für ukrainische Flüchtlinge zugängliche psychologische Angebot also ausreichend? „Natürlich nicht“, so die klare Antwort der Caritas darauf. Ihr spezialisiertes Angebot müsse sie nach wie vor durch Privatspenden finanzieren, auf staatliche Unterstützung warte sie bisher vergebens.
Langfristige Integration
Auch auf die Frage, wie man sich auf ein Szenario vorbereitet, in dem viele ukrainische Flüchtlinge nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren können oder wollen, wird sehr unterschiedlich reagiert. Während das Ona auf die Möglichkeit verweist, den Status des temporären Schutzes zu verlängern, erinnert das Mifa seinerseits daran, dass ukrainischen Flüchtlingen das gleiche Angebot an Integrationsmaßnahmen zur Verfügung stehe wie allen anderen nach Luxemburg geflüchteten auch.
Darüber, wo die zurzeit in Gastfamilien oder in Flüchtlingsunterkünften wohnenden Ukrainer*innen mittel- und langfristig unterkommen sollen, scheint man sich zurzeit noch nicht den Kopf zerbrechen zu wollen. Doch damit verbunden ist auch die Frage nach der Integration auf dem Arbeitsmarkt: Um nämlich überhaupt eine Chance auf eine Wohnung zu haben, muss man erst einmal einer Lohnarbeit nachgehen. Für diejenigen, die weder englisch, noch eine der drei Landessprachen beherrschen, stellt dies jedoch eine große Herausforderung dar. In dem Moment ist ein adäquates Angebot an Sprachkursen von zentraler Wichtigkeit.
„Egal ob man von Ukrainern, anderen Flüchtlingen oder Migranten spricht: Die Nachfrage an Sprachkursen ist zurzeit weitaus größer als das Angebot“, schätzt Asti-Mitarbeiter Marc Piron. „Wir werden ständig von Flüchtlingen kontaktiert, die händeringend nach Kursen suchen.“ Insgesamt habe der Eindruck bezüglich ukrainischer Flüchtlinge anfangs getäuscht, sagt Piron. „Anfangs wurde davon ausgegangen, dass die meisten von ihnen englisch sprechen und gut ausgebildet sind. Dem ist aber nicht so.“
Darauf hätten sowohl die NGO Lukaine als auch die Asti mit angepassten Angeboten reagiert, der Staat habe jedoch nach wie vor kein spezifisches Integrationsprogramm für Ukrainer*innen bereitgestellt. „Die langfristige Integration ukrainischer Flüchtlinge wird überhaupt nicht thematisiert. Warum bis zum Ablaufen des temporäre Schutzstatus warten, bevor integrierende Maßnahmen gefördert werden? Die Ministerien handeln diesbezüglich zurzeit noch sehr zurückhaltend.“ Einziger Wermutstropfen: Viele ukrainische Flüchtlinge sind bei in Luxemburg lebenden Familienmitgliedern oder Freund*innen untergekommen. Ein klarer Vorteil, was die Integration betreffe. „Der Kontakt zur Bevölkerung des Ankunftslands kann in dem Fall sehr viel schneller hergestellt werden“, betont Piron.
In der Direction générale de l’intégration des Bildungsministeriums hat man wenig Verständnis für die Kritik der Asti, besonders was die Sprachkurse angeht. „Wir richten uns mit unserem Angebot an Sprachkursen nach der Nachfrage und die ist sehr unterschiedlich je nach Person“, erklärt uns Chef de direction, Pierre Reding. Es komme darauf an, zu ermitteln, woran es den betroffenen Personen fehle, um auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt eine Chance zu haben. „Manche brauchen Französischkurse, andere nicht. Manche benötigen eine Anerkennung ihrer Diplome, andere wiederum Weiterbildungen.“ Für die Ermittlung der jeweiligen Bedürfnisse sei die Maison de l’orientation auf dem Aldringer in Luxemburg-Stadt zuständig. Zusätzlich, so Reding, sei geplant in der im Mai eröffneten Flüchtlingsunterkunft „T-Gebäude“ auf Kirchberg eine Jobberatungsstelle einzurichten. „Wir reagieren sehr flexibel auf die jeweiligen Situationen, an finanziellen Mitteln mangelt es jedenfalls nicht.“ Bei den ukrainischen Flüchtlingen sei das Französische am meisten gefragt, andere Sprachen sowie Weiterbildungen dagegen weniger. Eine Minorität wünsche sich zudem eine Einführung ins Luxemburgische.
Für Reding liegt die größte Herausforderung darin, die Sprachkurse dann anzubieten, wenn die Kinder der Teilnehmer*innen in der Schule sind – denn das ist es, was die ukrainischen Flüchtlinge stark von Schutzsuchenden aus anderen Ländern unterscheidet: Bei jenen handelt es sich öfter um Männer, die ohne Kinder nach Luxemburg gekommen sind und dementsprechend anders verfügbar sind.
Nach etwas weniger als einem Jahr, ist die Situation ukrainischer Flüchtlinge zwar etwas klarer, Luft nach oben bleibt jedoch weiterhin. Für die Presse ist es nach wie vor schwer, sich einen Überblick über die Situation ukrainischer Geflüchteter zu verschaffen. Es ist zu hoffen, dass die entsprechenden Zahlen und Informationen bald in zentralisierter Form zur Verfügung gestellt werden. Die Zeit, die bei Mifa, Ona und Außenministerium darauf verwendet wird, bei Presseanfragen auf die Zuständigkeit anderer Instanzen zu verweisen, könnte sicherlich sinnvoller genutzt werden.
Die wichtigsten Zahlen im Überblick
4.915 ukrainische Flüchtlinge verfügen über einen temporären Schutzstatus, davon 1.715 Minderjährige. 3.658 haben bisher beantragt, diesen ab dem 4. März 2023 zu verlängern, bei 150 davon wird der Antrag zurzeit noch bearbeitet.
12 Ukrainer*innen haben bisher Anträge auf internationalen Schutz gestellt, sämtliche davon werden zurzeit noch bearbeitet.
1.280 Ukrainer*innen leben zurzeit in Strukturen des Office national de l’accueil (Ona). 2.400 sind bei Privatpersonen untergekommen, davon 381 bei Gastfamilien.
740 der Ukrainer*innen mit temporärem Schutzstatus gehen hierzulande einer Arbeit nach. 1.264 besuchen das Luxemburger Schulsystem.
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