Xavier Bettels Rede zur Lage der Nation: Dreierkoalition, win, win, win!

Viel Klima, ein bisschen Krieg und keine Steuerreform. Über diese Themen hinaus ging es dem Premier aber auch um eine politische Positionierung.

Auf dem blau-rot-grünen Schiff: Kapitän und Besatzung. (© SIP; Julien Warnand)

„Es ist in Krisenzeiten wie diesen, wo es darauf ankommt. Wo es gilt, Verantwortung zu übernehmen, (…) wo wir zusammenhalten müssen.“ Seiner diesjährigen Rede zur Lage der Nation wollte Xavier Bettel von der ersten Minute an einen dramatischen Akzent verleihen. Doch über die Vergegenwärtigung der aktuellen Krisensituation hinaus ging es dem Regierungschef am Dienstag auch darum, ein Signal im Vorfeld der Chamberwahlen 2023 zu setzen: „Diese Regierung hat mehr als einmal unter Beweis gestellt, dass wir auch in stürmischen Zeiten das Ruder fest im Griff haben.“ Das Motto der Rede, „Verantwortung übernehmen“, steht nicht nur für Pflichtbewusstsein, sondern auch für „Regierungsverantwortung“. Die würde Bettel gerne auch künftig übernehmen. So betrachtet, war sein Auftritt in der Chamber weniger bilanzierend als vielmehr programmatisch, und umreißt des Premiers Vorstellungen, mit welcher politischen Ausrichtung und welchen Parteien man künftig „navigieren“ könnte.

Dass Bettel sich als Erstes dem Krieg in der Ukraine widmete, überraschte ebenso wenig wie das, was er dazu zu sagen hatte: Luxemburg muss das ukrainische Volk im Kampf für seine Freiheit unterstützen, die Nato ist unsere Garantie für Frieden und Sicherheit, die Erhöhung unserer Militärausgaben geht in Richtung des 2-Prozent-Ziels. Für diese Art sicherheitspolitischer Verantwortung warb der Premier, indem er auf die Nützlichkeit der Armee bei Naturkatastrophen verwies und davor warnte, sich von Wladimir Putins nuklearen Drohungen verunsichern zu lassen. Nicht zuletzt verglich er die Lage der Ukraine mit dem „von einem großen Nachbarn überfallenen“ Luxemburg im Zweiten Weltkrieg. Eine historisch zweifelhafte Parallele, die seine Aufforderung an die „Vergesslichen“, in die Geschichtsbücher zu schauen, umso peinlicher machte. Zwischen der „europäischen Wertegemeinschaft“ und der „Lieferung schwerer Waffen in ein Kriegsgebiet“ fand das Unterthema Flüchtlingspolitik Platz – in vergangenen Reden oft vergessen und hier nur auf Ukrainer*innen bezogen.

Hauptthema der Rede war die Klima- und Umweltpolitik. Nicht zum ersten Mal stellte Bettel das eigentlich von der grünen Partei und Juniorpartnerin besetzte Thema rhetorisch in den Mittelpunkt und tat so, als sei es ein Anliegen für die ganze Regierung. Zumindest ihm selber dürfte es ein Anliegen sein, das er mit innerer Überzeugung vortrug: „Trotz der aktuellen Krisen und Herausforderungen bleibt der Klimawandel die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Menschheit“, so der Premier bei der Überleitung zum zweiten Teil seiner Rede. Beim État de la nation 2019 hatte er die Klimapolitik implizit zur Chefsache gemacht – bisher ohne erkennbare Auswirkungen. Immerhin ist seine eigene Positionierung „grüner“ geworden: Den luxemburgischen Footprint bezeichnete er offen als „traurigen Rekord“ und unterstrich, eine nachhaltige Mobilitätsstrategie könne sich nicht auf das Auto als wichtigstes Verkehrsmittel verlassen.

Trotz aller – wahltaktisch nicht unklugen – Widersprüche in den Aussagen des Premiers blieb doch kein Zweifel an seiner Unterstützung für grüne Investitionen.

Das hinderte Bettel nicht daran, von den 4,6 Millionen Kilometern zu schwärmen, die dank Chargy-Ladestationen alleine im Juli von Elektroautos zurückgelegt wurden. Und nachträglich zu der bereits geschriebenen Rede einen Satz über Menschen hinzuzufügen, die keine Alternative zum Auto hätten. Doch trotz aller – wahltaktisch nicht unklugen – Widersprüche in den Aussagen des Premiers blieb kein Zweifel an seiner Unterstützung für Investitionen in die öffentlichen Verkehrsmittel und in die Klimapolitik im Allgemeinen: „Wir müssen die Klimakatastrophe stoppen. Es kostet, was es eben kostet.“

Wenig verwunderlich war, dass Bettel den in der letztjährigen Rede angekündigten Klimabiergerrot (KBR) als Erfolgsgeschichte darstellte – obwohl es dazu Vorbehalte gibt (woxx 1702). Es fiel auf, dass er die anderen Klimagremien, insbesondere die Klimaplattform unter Beteiligung der NGOs, nicht einmal erwähnte. Das erhärtet den seinerzeit geäußerten Verdacht, der KBR sei vom Premier als Gegengewicht zu diesen aus dem Hut gezaubert worden (woxx 1654). Ob sich der KBR instrumentalisieren lässt, muss sich zeigen – manche seiner Vorschläge decken sich mit radikalen Forderungen der Klimabewegung und könnten diesen zusätzliche Legitimität verleihen.

In einem Kommuniqué von Mittwoch zeigte sich der Mouvement écologique wenig begeistert von der Rede und warf Bettel vor, so zu tun, „als ob die Welt des Klimaschutzes durch den Bürgerrat neu entdeckt worden wäre“. Die NGO kritisierte aber vor allem, durch die Fokussierung auf die über 200 Einzelmaßnahmen des KBR würden andere Sichtweisen in den Hintergrund treten, insbesondere die „Frage unseres auf Konsum und Wachstum aufgebauten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells“. In der Tat, der Premier vermied es, das sensible Thema des demografischen und wirtschaftlichen Wachstums explizit zu erwähnen. Und sein Hinweis, es gebe auch ohne Ausweitung der Perimeter Bauland für 300.000 Einwohner*innen, dürfte beim Mouvement gemischte Gefühle hinterlassen haben.

Hilfen sind Investitionen, Wachstum ist Genesung. (www.gouvernement.lu)

Für einen Wachstumsstopp plädieren fast nur Stimmen im rechten Teil des parteipolitischen Spektrums. Bettel ist in dieser Frage kaum weniger zurückhaltend als Déi Lénk oder die grüne Partei selber – das Thema aufzugreifen wird als politische Waghalsigkeit angesehen. Alles in allem ist die symbolische Dramatisierung des Klimathemas wahrscheinlich das Bestmögliche, das der État de la nation leisten konnte. Dabei fehlte es ihm nicht am politischen Mut, eine Maßnahme wie die obligatorischen Solaranlagen auf Neubauten persönlich zu verteidigen. Es war auffallend, in welchem Maße sich Bettel grüne Argumentationen aneignete, zum Beispiel dass Energiepolitik auch Sozialpolitik sei und die Fotovoltaik-Förderung ein Win-win-win darstelle.

Das darf nicht vergessen machen, dass die Klima- und Energiepolitik auch nach zehn Jahren grüner Minister*innen hinter den Erwartungen zurückbleibt, wie der erste Bericht des „Observatoire de la politique climatique“ vor einer Woche zeigte (Klimapolitik: Viele Ideen, wenig Handeln). Ähnlich ist die Situation bei der Wohnungspolitik. Die Abkehr von der Marktgläubigkeit in Sachen Wohnungsbau und die Bejahung großer Bauprojekte in öffentlicher Hand stellt einen Paradigmenwechsel dar. Dass ein liberaler Premier dafür plädiert, mit neuen Steuern auf Immobilien die „Spekulation mit Eigentum auf Kosten der Allgemeinheit“ einzudämmen, ist schon bemerkenswert. Doch die als Regierung des frischen Windes angetretene Koalition hat inzwischen neun weitere zu den 25 Jahren wohnungspolitischer Versäumnisse hinzugefügt. Und auch die jetzt angekündigten Maßnahmen setzen vor allem ein Zeichen, Kritik gibt es dagegen an ihrer Wirksamkeit und ihren Nebenwirkungen.

Bettel gab sich auch kämpferisch, was den „Missbrauch“ von Steuervergünstigungen bei Immobilien-Investitionen angeht. Nach der Einführung einer Besteuerung der Spezialfonds 2020 soll jetzt die beschleunigte Abschreibung eingeschränkt werden. Auch hier dürfte die Wirkung vor allem symbolisch sein – für das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung und die politische Infragestellung der Profitlogik. Bettel lobte auch ausdrücklich das „luxemburgische Sozialmodell“ und den Index – das dürfte für Zähneknirschen bei den Wirtschaftslobbys sorgen. Und anders als die DP-Finanzministerin hielt sich der DP-Premier in der Frage der Begrenzung der Staatsverschuldung auf 30 Prozent alle Türen offen. Zwar unterstrich er die Wichtigkeit die Schulden nicht „unkontrolliert“ wachsen zu lassen, die für das Klima und die Krisenpakete aufgenommenen Schulden seien aber Investitionen in die Zukunft des Landes.

Die wenig überraschende Absage an eine Steuerreform war da nur noch ein Nebenthema. Bettel erklärte, eine solche Reform auf Pump sei unverantwortlich – dass alternativ zu einer Verteilung von Geld mit der Gießkanne eine Umverteilung möglich wäre, kam ihm nicht in den Sinn. Er versicherte aber, die Regierung wolle – später – das Steuersystem „moderner und gerechter gestalten“. Und erwähnte auch das korrekte Argument für die Absage: die derzeitigen Unsicherheiten. Ganz am Anfang hatte der Premier sogar einen wenig beachteten Hinweis auf eine mögliche „globalen Wirtschaftskrise, die die Finanzkrise des letzten Jahrzehnts in den Schatten stellen könnte“ eingebaut.

Bettels Aussagen zum Steuersystem mögen konfus und widersprüchlich gewesen sein, die seiner Kritiker*innen waren es nicht minder.

Bettels Aussagen zum Steuersystem mögen konfus und widersprüchlich gewesen sein, die seiner Kritiker*innen waren es nicht minder. Einerseits kam der Vorwurf, die Rede habe Armutsrisiken und Ungleichheiten ausgeblendet – was zum Teil der Fall war, vermutlich weil es nicht in eine erfolgreiche Regierungsbilanz gepasst hätte. Doch insbesondere die Gewerkschaften forderten keineswegs eine massive Umverteilung von oben nach unten, sondern … die Anpassung der Steuertabelle an die Inflation. Das würde sich gewiss auch auf einen Teil der niedrigen Einkommen auswirken, vor allem aber würden die mittleren und hohen Einkommen gewinnen.

„Das Ruder fest im Griff.“ Kapitän Xavier hält die Besatzung zusammen, auch wenn unklar ist, wohin die Reise geht. (Illu: Anna Prosekova; Pixabay)

Auch das etwas vernünftigere Modell der LSAP, die Anpassung der Steuertabelle mit einer Neugestaltung der Steuersätze zu kombinieren, ist vermutlich noch zu Mittelschicht-freundlich, um die notwendige Umverteilung zu gewährleisten. Der OGBL scheint dieses Modell zu befürworten, wirbt aber weiterhin mit dem Kampfbegriff des „Nettoindexklaus“. Damit macht er gemeinsam Front mit LCGB und CGFP, aber auch CSV und ADR. Die Umrisse dieses Populismus für die konservative Mittelschicht erkennt man im Kommuniqué der „Union luxembourgeoise des consommateurs“ vom 12. Oktober: Über 2,3 Milliarden würden für die „Dekarbonisierung“ ausgegeben, statt zumindest einen Teil davon als Hilfen für die „reellen Bedürfnisse“ der Haushalte auszuzahlen. Ganz klar, die Steuerdebatte wird ein spannendes Wahlkampfthema.

Wahlkampfbedingt versuchte der Premier auch, alle Minister*innen mindestens einmal in seiner Rede zu erwähnen – logisch, insofern sich diese Regierungskoalition all die Jahre kollegialer gegeben hat, als das „unter“ Jean-Claude Juncker der Fall war. Wie in vielen seiner Reden packte Bettel auch zu viel hinein, das er nicht vertiefen konnte: Nachhaltigkeitscheck und Radikalisierungsbekämpfung, Pressehilfe und Zugang zu Open Data, Teilnahme der Ausländer*innen an den Gemeindewahlen und Rückerstattung der Kosten für Psychotherapien. Weil er sich aber weniger als zwei Stunden Zeit nahm, musste er noch dazu manche Passagen der Rede herunterrasseln. Seine rhetorische Stärke, die Empathie, spielte er kaum aus – die Begegnung mit einer ukrainischen Großmutter blieb eine flüchtige Episode. Gelungen war hingegen die Charme-Offensive gegenüber den Bauern, die sich vor der Chamber versammelt hatten: Er sprach von der Wertschätzung lokal produzierter Lebensmittel und warb für eine „kompetitive und nachhaltige Landwirtschaft“.

Emotional wurde Bettel interessanterweise bei Themen wie Sozialausgaben, Klimaschutz und Schuldenmachen – vielleicht, weil er bei diesen Punkten auch parteiintern Kritik abwehren muss. Dass seine Aussagen in den Bereichen Umwelt und Soziales viel kritisiert wurden, sollte nicht verdecken, dass er ihnen besonders viel Zeit widmete. Das war für die Schärfung des DP-Profils nicht besonders hilfreich und schon fast eine Liebeserklärung an Grüne und LSAP. Liberale Themen wie Standortsicherung blieben marginal, konservative Themen wie innere Sicherheit blieben außen vor. Diese Rede zur Lage der Nation war ein Bekenntnis zur Dreierkoalition, wie sie vor neun Jahren gewählt wurde: als weltoffene, fortschrittliche Kraft zur Ablösung der moderat konservativen CSV. Der Lack von Blau-Rot-Grün ist zwar ab, doch angesichts der Alternativen können sich die drei Parteien gute Chancen bei den nächsten Wahlen ausrechnen und eine Fortsetzung der Koalition ins Auge fassen.


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