Bürger*innenbeteiligung: Direkte Demokratie mit Hindernissen

In der letzten Legislaturperiode gab es mit dem „Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050“ und dem „Klima-Biergerrot“ gleich zwei Gremien, in denen Bürger*innen gemeinsam Vorschläge für eine nachhaltigere Politik machten. Nun wurden die wissenschaftlichen Evaluierungen vorgestellt – beide Gremien erhalten grundsätzlich gute Noten.

Glückliche Gesichter nach der Präsentation der Resultate des Klima-Bbiergerrots. Nicht im Bild: Die neun Mitglieder, die im Laufe des Prozesses ausgeschieden sind. (Foto: Ministère d‘État)

Luxemburg hat ein Demokratiedefizit. Alle fünf Jahre, knapp vor oder nach den Wahlen, wird diese Feststellung gemacht und mehr oder weniger alle Parteien geloben, über das Problem nachzudenken. Da Politiker*innen von ebenjener knappen Hälfte der Bevölkerung, die von den Parlamentswahlen ausgeschlossen ist, nichts zu befürchten hat, passiert meist recht wenig. Doch auch neben der Frage, wer überhaupt wählen kann, gibt es ja auch noch die Frage nach der Partizipation.

Das Parlament bietet hier die klassische Möglichkeit der Petition, die im Falle eines Erfolgs jedoch lediglich zu einer Anhörung im Parlament führt. Für die Initiator*innen bedeutet das in den meisten Fällen also lediglich, dass sie ihr Anliegen öffentlich vortragen dürfen und die Abgeordneten ihnen womöglich das ein oder andere Versprechen machen.

Mit der neuen Verfassung wurde ebenfalls die Möglichkeit einer Bürger*innen-Gesetzesinitiative („Begründeter Vorschlag zur Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens“, auf Französisch „Proposition motivée aux fins de légiférer“, PML) eingeführt. Da allerdings 125 Wähler*innen eine PML einreichen und 12.500 sie unterstützen müssen, liegt die Latte hier sehr hoch; bisher wurde noch keine einzige PML eingereicht.

Auch Referenden werden in Luxemburg eher selten genutzt. So wurde für die Verfassungsänderung zwar ein Referendum versprochen, dies jedoch nicht umgesetzt. Allerdings zeigten die Bürger*inneninitiativen, die ein solches forderten, dass das Interesse sich sehr in Grenzen hielt. Auch beim Referendum von 2015 lag die Wahlbeteiligung mit 86 Prozent etwas niedriger als bei Parlamentswahlen (2018: 89 Prozent, 2023 87 Prozent). Will denn niemand mitreden?

Richtiges Instrument

Zwei Beispiele aus der vergangenen Legislaturperiode zeigen, dass es auch anders geht: Der „Klima-Biergerrot“ (KBR) und das „Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050“ (BK2050) haben beide interessierten Bürger*innen die Möglichkeit geboten, konkrete Vorschläge an die Politik zu machen. Vor einigen Tagen wurden die wissenschaftlichen Evaluierungen zu beiden Projekten veröffentlicht (Links: KBR, BK2050). Diese wurden von Raphaël Kies und Lisa Verhasselt von der Universität Luxemburg verfasst, beim Bericht über den KBR mit Emilien Paulis (ebenfalls Uni.lu), bei der Evaluierung des BK2050 gemeinsam mit Léonie de Jonge (Universität Groningen).

(Foto: SIP/Emmanuel Claude)

Grundsätzlich werden beide Gremien positiv bewertet, doch vor allem beim BK2050 stellten die Forscher*innen einige Mängel fest. Das mag auch daran liegen, dass das Bürger*innenkomitee nachträglich in das Raumplanungscasting „Luxembourg in Transition“ eingefügt wurde, nachdem dieses schon begonnen hatte (siehe Kasten für den genauen zeitlichen Ablauf). Drei verschiedene Gremien sollten die Arbeiten der interdisziplinären Teams bewerten – was die Kritik einbrachte, dass die Zivilgesellschaft in diese Bewertung nicht gut genug eingebunden sei. Die Folge: Das BK2050 wurde geschaffen. „Kurz nachdem wir das Projekt im Juni 2020 gestartet hatten, sagte Minister Claude Turmes, dass die Bürger dabei sein müssten. Deswegen haben wir TNS-Ilres gebeten, den Bürgerrat zusammenzustellen“, sagte damals ein Sprecher des Landesplanungsministeriums der woxx (siehe woxx-Ausgabe 1671). In der Kommunikation mit der Presse suggerierte das Ministerium, das BK2050 könne bei „Luxembourg in Transition“ mitreden.

Das war allerdings nicht der Fall, wie auch die Forscher*innen anmerken: Die erste Mission („Das BK muss den verschiedenen Expert*innenteams von Luxembourg in Transition in der Phase der Szenarienentwicklung für einen Austausch zur Verfügung stehen“) sei von allen Beteiligten – Bürger*innen wie Organisator*innen – ignoriert worden. Während beim BK2050 nur zwei der drei Missionen erfüllt worden seien, habe der KBR seine erfüllt, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten.

Die Mängel des BK2050 liegen jedoch nicht unbedingt an den Teilnehmer*innen oder den Organisator*innen, sondern womöglich vielmehr an den überzogenen Erwartungen, die der damalige Minister Turmes schürte. Neben einer Beteiligung an „Luxembourg in Transition“ stellte er auch bei der Zusammensetzung des Gremiums Dinge in Aussicht, die letzten Endes nicht erfüllt wurden.

Falsche Versprechen

So bekundete Turmes beispielsweise, junge Menschen würden bei der Auswahl der Mitglieder des BK2050 überrepräsentiert, da landesplanerische Fragen sie ja länger beträfen. Doch das Gegenteil war der Fall: Menschen zwischen 16 und 24 Jahren stellten nur 3,5 Prozent der Mitglieder des Komitees, sie machen jedoch 10,5 Prozent der Bevölkerung Luxemburgs aus. Auch Menschen über 65 waren unterrepräsentiert, während die Altersgruppe von jungen Erwachsenen zwischen 25 und 34 überrepräsentiert war. Der Evaluierungsbericht zitiert das jüngste (19-jährige) Mitglied des BK2050 wie folgt: „Ich fragte mich, ob ich erwachsen genug [für die Aufgaben des BK] sei.“

Auch Ausländer*innen waren unterrepräsentiert, obwohl gerade Grenzgänger*innen die Folgen der landesplanerischen Entscheidungen Luxemburgs besonders stark spüren. Überrepräsentiert waren auch Akademiker*innen; kein einziges Mitglied arbeitete im landwirtschaftlichen oder industriellen Sektor. 21,4 Prozent der Mitglieder gaben an, Déi Gréng zu wählen, während CSV-Wähler*innen gegenüber der Gesamtbevölkerung stark unterrepräsentiert waren.

Die Zusammensetzung des KBR – der wesentlich mehr Mitglieder umfasste – litt unter ähnlichen Problemen. Menschen mit hohem Bildungsgrad waren hier ebenfalls überrepräsentiert. Die politischen Ansichten, gerade auch zum Klimawandel, waren weniger divers als die der Gesamtbevölkerung. Allerdings waren Gruppen, die in anderen politischen Prozessen eher weniger zu Wort kommen – junge Menschen, Frauen, Nicht-Luxemburger*innen – im KBR durchaus repräsentiert.

Der Prozess an sich wird sowohl beim KBR als auch beim BK2050 von den meisten Teilnehmer*innen sowie von der Evaluierung positiv bewertet. Gerade beim KBR ist das eigentlich nicht selbstverständlich, denn mitten im Prozess gab es Leaks an die Presse, neun Personen schieden aus. Die Mission des KBR wurde um zwei Monate verlängert, dennoch hätten sich viele Mitglieder mehr Zeit gewünscht. Die Mitglieder beider Gremien wurden durch Expert*innen gebrieft. Hier ist das Verdikt: Allzu technische Sprache war für viele ein Hindernis, außerdem waren manche Mitglieder der Meinung, die Expert*innen seien zu staatsnahe. Die Moderator*innen wurden jeweils als gut und professionell angesehen. Unzufriedene gab es dennoch, beim BK2050 äußerte sich eine Person eher wütend: „Wir brauchen keine Transition, sondern eine Revolution. Wir brauchen radikalen Wandel. [Der Moderator] hat das ruiniert.“ Bemerkenswert ist, dass jene Menschen, die den KBR begleiteten, ab einem gewissen Zeitpunkt „pro bono“, also umsonst arbeiteten.

Es zählt, was am Ende herauskommt

Die Endresultate beider Gremien sind relativ ähnlich, es handelt sich immer um Forderungen oder Vorschläge an die Politik, um Klimapolitik und Landesplanung nachhaltiger zu gestalten. Teilweise handelt es sich um altbekannte Maßnahmen, aber auch neue Ideen wurden vorgeschlagen oder in „verschärfter“ Form vorgebracht, so wollte der KBR zum Beispiel eine vielfach höhere CO2-Steuer einführen. Worin sich die beiden Prozesse jedoch unterscheiden, ist die Art und Weise, wie mit den Resultaten umgegangen wurde.

Der BK2050 hat sich sehr wenig mit dem eigentlichen „Luxembourg in Transition“-Prozess beschäftigt, obwohl dies eigentlich seine Aufgabe war. Allerdings wurde den Mitgliedern auch mehrmals von Minister Turmes versprochen, ihre Vorschläge könnten in das neue „Programme directeur d‘aménagement du territoire“ (PDAT) einfließen. Das geschah jedoch nicht, eine formelle Antwort der Regierung an das Komitee blieb aus. Möglicherweise ein Grund, weswegen die Mitglieder des BK2050 nach ihrer Erfahrung weniger Vertrauen in die Politik hatten als davor. Die Evaluierung nennt die Intransparenz darüber, was mit den Resultaten des BK2050 passieren würde, „ein erhebliches Defizit des Prozesses“.

Die Mitglieder des KBR hatten eine gegenteilige Erfahrung: Sie hatten nach dem Prozess das Gefühl, kompetenter zu sein und besser mit komplexen politischen Problemen umgehen zu können. Außerdem ist ihr Interesse an demokratischen Prozessen gestiegen. Im neuen „Plan national intégré en matière d‘énergie et de climat“ (Pnec) finden sich fünf Maßnahmen, die komplett neu seien und ohne den KBR vermutlich nicht enthalten wären, so die Evaluierung. Insgesamt gingen im Pnec 57 von insgesamt 197 Maßnahmen auf Empfehlungen des KBR zurück.

Diese unterschiedlichen Eindrücke der Mitglieder erklären auch, die Empfehlungen der Forscher*innen an die Politik, wenn sie weiterhin Bürger*innengremien einsetzen wollen: Neben einer diversen Teilnehmer*innenbasis sei es auch wichtig, die Ziele klar zu formulieren und transparent zu kommunizieren, was mit den Resultaten des Prozesses passiert.

Zeitlicher Ablauf von „Luxembourg in Transition“ und Klima-Biergerrot

31. Juli 2020: Die woxx veröffentlicht als erstes Medium in Luxemburg Details zur landesplanerischen Konsultation „Luxembourg in Transition“. Das Landesplanungsministerium hatte das Projekt zwar öffentlich ausgeschrieben, jedoch keine Informationen an die Presse weitergegeben. Interdisziplinäre Teams sollten sich bewerben, um in einem mehrstufigen Prozess teilnehmen zu dürfen. Drei Komitees waren vorgesehen, um die Arbeit der Teams zu bewerten: ein wissenschaftliches, vor allem aus internationalen Expert*innen bestehendes Komitee, ein interministerielles Komitee und ein Beirat mit Mitgliedern aus verschiedenen, vor allem wirtschaftlichen Interessenvertretungen. Ein Bürger*innengremium war nicht vorgesehen.

26. Oktober 2020: Landesplanungsminister Claude Turmes (Déi Gréng) präsentiert „Luxembourg in Transition“ der Öffentlichkeit. 30 Teams hatten sich im Rahmen der internationalen Ausschreibung beworben. Zu diesem Zeitpunkt wird erstmals die Idee eines Bürger*innenkomitees vorgestellt. Es soll aus 30 zufällig ausgewählten Personen, die repräsentativ für die Bevölkerung Luxemburgs und der Großregion sind, bestehen. Versprochen wird, das Komitee bringe „seine eigene Vision der Gesellschaft in den Prozess mit ein“.

4. Dezember 2020: Die 14-tägige Bewerbungsfrist für das Biergerkommitee beginnt. Gesucht werden 25 Einwohner*innen und fünf Grenz- gänger*innen, die „die Arbeiten der Konsultation von Januar bis Dezember 2021 begleiten“. Die Auswahl trifft das Umfrageinstitut TNS Illres (heute: Illres).

18. Januar 2021: Das „Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050“ (BK2050) nimmt seine Arbeit offiziell auf. Seine Arbeit wird von der Kommunikationsagentur Stoldt Associés sowie den Forscher*innen Léonie de Jonge (Uni Groningen) und Raphaël Kies (Uni Luxemburg) begleitet. Ein Jahr sollen die Arbeiten des Komitees dauern.

22. Januar 2021: Die sechs interdisziplinären Teams, die in der zweiten Phase der Konsultation „Luxembourg in Transition“ teilnehmen, werden ausgewählt. Obwohl immer wieder das Gegenteil suggeriert wurde, hat das Bürger*innenkomitee bei dieser Entscheidung kein Wort mitgeredet.

28. Juni 2021: Die vier Teams, die an der letzten Phase teilnehmen dürfen, werden präsentiert. In der zugehörigen Pressemitteilung wird zwar hervorgehoben, dass das BK2050 existiert, seine Rolle bei „Luxembourg in Transition“ wird jedoch nicht mehr erwähnt.

Oktober 2021: Premierminister Xavier Bettel (DP) kündigt in seiner Rede zur Lage der Nation an, einen Klima-Bürger*innenrat (KBR) einsetzen zu wollen.

24. Dezember 2021: Das Projekt „Luxembourg in Transition“ sollte laut Zeitplan nun abgeschlossen sein. Es gibt jedoch keinerlei öffentliche Mitteilung. 5. Januar 2022: Xavier Bettel stellt gemeinsam mit Umweltministerin Carole Dieschbourg und Landesplanungsminister Claude Turmes (beide Déi Gréng) den Klima-Biergerrot vor. Bettel zitiert den „Erfolg“ des BK2050 als Blaupause für den KBR.

20. Januar 2022: Das BK2050 stellt seine Resultate vor. Es handelt sich keinesfalls um Bewertungen der landesplanerischen Teams, sondern um ein Dokument mit neun Thesen und 44 Empfehlungen an die Politik. Eine davon: Der KBR soll verstetigt werden.

8. Februar 2022: Der Historiker Denis Scuto berichtet in der Sendung „Fräie Mikro“ von der Präsentation der Resultate, denen er als Mitglied einer der drei Expert*innengremien beigewohnt hat. Diese sind noch nicht öffentlich.

19. Mai 2022: Die Resultate von „Luxembourg in Transition“ werden offiziell vorgestellt.

Juni 2022: Die Arbeiten des KBR sollten eigentlich abgeschlossen sein. Die Mitglieder beschließen, noch zwei weitere Monate zu arbeiten.

15. September 2022: Mitglieder des KBR stellen ihre Resultate vor.

17. April 2023: Der aktualisierte nationale Energie- und Klimaplan wird vorgestellt. Darin finden sich auch Punkte, die der KBR vorgeschlagen hat. Viele Vorschläge wurden jedoch ignoriert.

21. Juni 2023: Die neue Version des Programme directeur d’aménagement du territoire (PDAT) wird vom Regierungsrat angenommen. Ein einziges Mal wird das BK2050 darin erwähnt.


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