Lage der Nation: Ziele, Wege, Worte

Sie war lustlos vorgetragen, Xavier Bettels Rede, aber nicht inhaltslos. Ein Überblick über die wichtigsten Aussagen, von Klima bis Sicherheit … und über die Auslassungen.

Der„Klima-Biergerrot“: Meilenstein der partizipativen Demokratie oder Alibiveranstaltung? (Bildquelle: gouvernement.lu)

Die Zeit als kostbares Gut zu schätzen, das war eine der Lehren, die Xavier Bettel in seiner Rede zur Lage der Nation aus der Pandemie zog. Um der Rede zuzuhören, musste man sich in diesem Jahr immerhin zwei Stunden Zeit nehmen – und die wurde einem lang. Bettel wirkte lustlos, ratterte über weite Strecken seine Rede herunter und hatte keine wirklich originellen und prägnanten Formulierungen zu bieten. Auch für einen mittelmäßigen Redner wie ihn war es, was die Rhetorik angeht, ein schlechter Jahrgang. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist die Bilanz besser: In der Rede von vergangenem Dienstag gab es eine ganze Reihe von Ankündigungen, ein paar klare Bekenntnisse in wichtigen Fragen, … aber leider auch so manche blinde Flecken.

„Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit“, sagte der Premier, als er den ersten Themenschwerpunkt, den Klimawandel einführte. Unter Verweis auf die hiesigen Überschwemmungen der vergangenen fünf Jahre bekannte er sich zur Notwendigkeit, sofort zu handeln. Wie bereits vor zwei Jahren stellte Bettel die Klimapolitik an den Anfang seiner Rede – eine symbolische Geste (woxx 1549). Das ist nicht wenig bei einer solchen Gelegenheit, die in den meisten Jahren einen überwiegend symbolischen Charakter hat. Und wie 2019 ließ der Premier auf die warnenden Worte eine Unmenge von detaillierten Erläuterungen folgen, die zeigen sollten, wie viel Luxemburg bereits gegen den Klimawandel unternimmt. Die Aufzählung reichte von den Einspeisetarifen für Solarstrom über den Kauf von 34 Zügen bis hin zur CO2-Kompensation staatlicher Auslandsmissionen.

Ob es in diesem Jahr wirklich sinnvoll war, das erste Fünftel der Rede dem Klima zu widmen, sei dahingestellt. Immerhin hatten die grünen Minister*innen Carole Dieschbourg und Claude Turmes erst eine Woche zuvor die Zwischenbilanz ihrer „ambitiösen“ – und von Kritiker*innen als unzureichend kritisierten – Klimapolitik vorgestellt (woxx 1653). Gewiss, Bettels Rede brachte die Unterstützung der Koalitionsregierung für diese Politik zum Ausdruck, dass sie aber weiter gehen würde, war nicht zu erwarten. Die strukturellen Schwächen der auf technische Lösungen setzenden Klimapolitik geben deshalb, wie vor zwei Jahren und vor einer Woche, Anlass zu Kritik.

„Biergerrot“ gegen Klimaplattform

Immerhin stellte der Premier zusätzliche, über den jetzigen Klimaplan hinausgehende Maßnahmen in Aussicht. Und kündigte an, die Gesellschaft werde über einen „Klima-Biergerrot“ an der Ausarbeitung dieser Maßnahmen beteiligt. Bettel sprach von einem „innovativen demokratischen Projekt, das es in dieser Form in Luxemburg noch nicht gab“. Gemeint ist ein Gremium, das aus hundert Bürger*innen zusammengesetzt wird, „die die demografische Realität in Luxemburg repräsentieren und damit stellvertretend für die Bevölkerung stehen werden“. Sonder Zweifel kann diese Form der partizipativen Demokratie einen Beitrag zum Verständnis und zur Überwindung der gesellschaftlichen Knackpunkte liefern.

Pikant ist allerdings, dass der „Klima-Biergerrot“ in einer Art Konkurrenz zur bereits länger geplanten „Plateforme pour l‘action climat et la transition énergétique“ steht, in der Vertreter*innen aus Wirtschaft, Politik, NGOs und Gewerkschaften (im Verhältnis 6:7:5:2) über ähnliche Fragen beraten sollen. Und dass die Einberufung ebendieser Plattform vergangene Woche erst einmal am Widerstand der zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen scheiterte, die sich gegenüber der Wirtschaft unterrepräsentiert sahen. Das nährt die Sorge, der „Biergerrot“ könne als Instrument benutzt werden, um Regierungsvorschläge gegen Widerstände in der Plattform durchzusetzen.

Ende der Marktgläubigkeit

Die blau-rot-grüne Koalition wird oft als wirtschaftsfreundlich angesehen, unter anderem nach ihrer Reaktion auf die Nachwehen der Finanzkrise. 2014 hatte die erste Regierung Bettel ein „Zukunftspaket“ vorgelegt, das ein Ausbund dogmatischer neoliberaler Austeritätspolitik war. Damals hatte sich die hiesige Wirtschaft schnell erholt, viele Maßnahmen wurden rückgängig gemacht, aber der politische Schaden war beachtlich. Das soll diesmal, zwei Jahre vor den Wahlen, nicht nochmal passieren, und so versicherte der Premier: „Mit dieser Regierung wird es keine Austeritätspolitik und auch keine Steuererhöhungen geben.“ Er verwies dabei auf die „Sanierung“ der Staatsfinanzen nach 2013, die budgetäre Spielräume geschaffen habe. Das finanzpolitische Weder-noch wird sich möglicherweise schnell als unhaltbar erweisen, wenn die Folgen der Covid-Krise und die Kosten der Klimapolitik klarer erkennbar sind. Dennoch: Bettels Aussage erschwert einen künftigen reflexartigen Rückgriff auf blindwütige Sparpolitik und bringt implizit die alternative Antwort einer sozial ausgeglichenen Steuererhöhung ins Spiel.

Auch bei der Wohnungspolitik nahm der DP-Politiker eine Position ein, die für eine liberale – was oft wirtschaftsliberal heißt – Partei ungewöhnlich ist. Zum einen erteilte er der „Spekulation mit Bauland und Wohnungen“ eine Absage: „Ja, es gibt ein Recht auf Eigentum. (…) Aber wir nehmen diejenigen in die Pflicht, die es sich in diesen Zeiten leisten können, Grundstücke und Wohnungen leer stehen zu lassen.“ Die kommende Reform der Grundsteuer soll das Horten unattraktiv machen und so das Marktangebot an Wohnungen vergrößern. Die zweite Maßnahme betrifft die systematische Beteiligung der öffentlichen Hand bei der Erschließung von Bauland: 10 bis 20 Prozent davon müssen die Wohnungsunternehmen abgeben. „Die öffentliche Hand wird mittel- und langfristig zum größten Akteur im Bereich Wohnungsbau aufsteigen [mit dem Ziel], den Bürgern bezahlbaren Wohnraum anzubieten“, so Bettels Ankündigung. Wie verspätet und unzureichend auch immer diese Maßnahmen sein mögen, sie stehen für einen Paradigmenwechsel weg von der Marktgläubigkeit.

Den Sozialstaat in Frage zu stellen ist im Umverteilungsland Luxemburg seit Langem politisch unattraktiv; seit den massiven staatlichen Interventionen im Rahmen der Covid-Krise ist es ein No-Go. Zwei Jahre vor den Wahlen dürfte es der Koalition leichtgefallen sein, sich auf die vom Premier vorgestellten Maßnahmen zu einigen, zum Beispiel kostenloser Zugang zu den Maison relais und, sozial selektiv, kostenloses Essen in den Schulkantinen. Vor allem aber konnte Bettel mitteilen, dass die neu eingeführte Indexierung des Kindergeldes keine Mogelpackung ist, sondern die im Oktober erfallende Tranche einschließt.

Zu spät, zu wenig, aber immerhin: Für bezahlbaren Wohnraum soll nun die öffentliche Hand statt des Marktes sorgen.

Polen statt Cannabis

Die letzte bemerkenswerte Aussage Bettels kam am Schluss der Rede, und man sah dem DP-Politiker seine Aufregung an. Immerhin bezog er de facto Stellung gegen seine Parteikollegin Lydie Polfer, die als hauptstädtische Bürgermeisterin für eine Law-and-order-Politik im Bahnhofsviertel eintritt. Bettel zeigte sich hier als gewiefter Politiker, indem er zuerst versicherte: „Es darf keinen Ort in Luxemburg geben, an dem man sich nicht sicher spürt.“ Doch dann warnte er davor, „alles in einen Topf zu werfen“, und unterstrich, das Thema Sicherheit sei gerade im Bahnhofsviertel „vielschichtiger“. Die Regierung habe ein Paket geschnürt, das neben einer stärkeren Polizeipräsenz auch soziale Maßnahmen vorsehe.

Sicherheit war auch das einzige gesellschaftspolitische Thema, das Bettel herausarbeitete. Das ist insofern erstaunlich, als gerade die Gesellschaftspolitik der Zement war, der die Koalition in den Jahren nach 2013 zusammenkittete mit Reformen wie der Trennung von Kirche und Staat. Doch mittlerweile scheinen solche Symbolthemen des fortschrittlichen Lagers, zum Beispiel die Cannabis-Legalisierung, manchen in der Koalition Bauchschmerzen zu bereiten. Immerhin, so nebenbei streifte der Premier ebenfalls Themen wie Gleichstellung (Umgestaltung des Elternurlaubs), Inklusion (Sensibilisierungskampagne) und Integration (neuer gesetzlicher Rahmen). Indem er für eine harte Haltung gegenüber Polen plädierte, berührte er auch die Menschenrechte im Allgemeinen und implizit die LGBTIQA-Rechte. Das machte auch schon die Hälfte seiner europa- und außenpolitischen Aussagen aus; für Flüchtlingspolitik blieb keine Zeit.

Empathische Schilderungen, die Bettels Markenzeichen geworden sind, gab es kaum – nur die Begegnung mit einer Mutter, deren Kinder schon zwei Überschwemmungen miterlebt haben. Dafür baute der Premier jede Menge Sätze über Zusammenhalt, Politik mit den Menschen, Luxemburger Modell und neue Wege ein, die für manche nachdenklich, für andere kitschig wirken. Begeisterung für „eise Wee, eist Ziel“, wie die Rede überschrieben war, konnte Bettel jedenfalls nicht vermitteln. An seinen großen Worten stört aber auch, dass sie einhergingen mit einem Schweigen über eigentlich unumgängliche Fragen.

Schweigen zu Wachstum und Referendum

Zum Beispiel die Wachstumsfrage, die schon 2019 ausgeblendet worden war. Blanche Weber vom Mouvement écologique konnte ihre diesbezügliche Kritik von damals wiederholen: In seiner diesjährigen Rede freute sich Bettel, nachdem er das Thema Klima abgehakt hatte, über ein voraussichtliches Wachstum von sechs Prozent. Wie auch immer man zur fundamentalistischen Wachstumskritik des Mouvement steht, des Premiers Schweigen zur Wachstumsproblematik schadet der Glaubwürdigkeit seiner klimapolitischen Aussagen.

Dem heiklen Thema der jüngst beschlossenen drastischen Einschränkungen für Covid-Ungeimpfte ging der Premier nicht aus dem Weg. Doch was er sagte – über den Winter kommen, die Impfquote erhöhen, zur Normalität zurückkehren – blendete Grundfragen wie die Verhältnismäßigkeit und das Risiko einer gesellschaftlichen Polarisierung aus. Zuvor hatte Bettel allerdings – durchaus überzeugend – den bisherigen Umgang der Regierung mit der Pandemie als erfolgreich dargestellt. Zwei sensible Aspekte der Covid-Problematik sprach er hingegen überhaupt nicht an: den mangelhaften Schutz in den Alters- und Pflegeheimen sowie die anstehende Entscheidung für allgemeine Drittimpfungen, obwohl der Impfstoff im globalen Süden viel nötiger wäre.

„Wir wollen künftig noch stärker auf Bürgerbeteiligung setzen“, hatte Bettel gleich am Anfang seiner Rede gesagt. Das ließ erwarten, dass er auf die Frage des Verfassungsreferendums eingehen würde und womöglich auch auf die umstrittene Reform des kommunalen Wahlrechts. Doch nichts dergleichen folgte, die Aussage bezog sich wohl auf den demokratisch zweifelhaften „Biergerrot“. Weder kündigte der Premier an, im Sinne der Beteiligung der Bürger*innen doch noch ein Referendum abzuhalten, noch erklärte er, warum man die Verfassungsreform lieber auf parlamentarischem Wege abwickelt. Die Regierung scheint darauf zu hoffen, dass sich das Thema von selbst erledigt. Angesichts der Instrumentalisierung der Referendumsforderung durch die politische Rechte mag das wünschenswert sein, besonders wahrscheinlich ist es aber nicht.

Vielleicht nährt sich der Optimismus der Koalition aus den Ereignissen jenseits der Mosel. Dort ging die radikale Rechte – wie die radikale Linke – geschwächt aus der Bundestagswahl hervor. Dass Bettel dieses Thema nicht aufgriff, ist verständlich, ist die liberale Partei doch, anders als in Luxemburg, die Juniorpartnerin in der angestrebten deutschen Ampelkoalition. Die Christdemokrat*innen ihrerseits sind zu Boden gegangen – wie die CSV 2013. Doch während die CDU auf einen Neustart hoffen darf, steht die CSV, acht Jahre nach ihrer Abwahl, schlechter da als je zuvor. Das dürfte DP, LSAP und Grünen die Lust auf einen Koalitionswechsel vergällen – auch wenn sich derzeit, wie Bettels Rhetorik nahelegt, die Lust an der blau-rot-grünen Ampel in Grenzen hält.


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