In Fukushima strahlen die Reaktorkerne immer noch. In Luxemburg klafft ein Widerspruch zwischen Anti-Atom-Rhetorik und der Förderung der französischen Nuklearindustrie. Zeit für den nächsten Knall?
Am 11. März 2011 löste ein Erdbeben der Stärke 9, gefolgt von einer 15 Meter hohen Welle, einen der größten Unfälle in der Geschichte der Atomenergie aus. Ein Jahr später sind die Reaktorkerne in Fukushima noch immer nicht stabil, und die Experten untersuchen noch immer, was alles schiefgegangen ist. Weniger Beachtung wird der Tatsache geschenkt, dass es noch schlimmer hätte kommen können: Wäre es nicht gelungen, die Stromversorgung der Pumpen in Fukushima wiederherzustellen, oder wären die Folgen des Erdbebens in anderen Reaktoren gravierender gewesen, so hätte man Tokyo evakuieren müssen – ein Szenario, auf das sich die Regierung insgeheim eingestellt hatte.
„Das Ende von Luxemburg? als Folge eines Unfalls in Cattenom, wie es Greenpeace in einer symbolischen Aktion am Montag prognostizierte, ist durchaus vorstellbar. Die NGO hatte einen Mini-Friedhof für Atomopfer bei den „Dräi Eechelen? installiert. Die Botschaft lautete, ein „Fukushima nahe Luxemburg? würde diese über 300 Jahre alte Touristenattraktion unzugänglich für Besichtigungen machen – für viel länger als 300 Jahre. Greepace fordert, die Regierung solle sich für einen europäischen Atomausstieg einsetzen.
In Japan hat das Bewusstsein, dass man knapp an einer Katastrophe vorbeigekommen ist, die weite Teile des Landes unbewohnbar gemacht hätte, zu einem Umdenken geführt. Was vorher unmöglich schien – ein rascher Atomausstieg – wurde nun einfach durchgeführt. Im Mai geht das letzte japanische AKW vom Netz, und wahrscheinlich wird keiner der 54 Reaktoren des Inselstaates je wieder hochgefahren. Kurzfristig war dies nur durch den Rückgriff auf fossile Energiequellen für die Stromproduktion möglich, wie Anhänger der „Klimaschutz durch Atomkraft“-These triumphierend hervorheben. Mittelfristig wird das Hochtechnologieland Japan hoffentlich aus der Not eine Tugend machen und mit Sparmaßnahmen und einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien demonstrieren, dass ein Atomausstieg sich nicht unbedingt, wie in Deutschland, über Jahrzehnte hinziehen muss. Zwar wird der Strompreis infolge davon steigen, doch angesichts der Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe für Fukushima dürfte die japanische Bevölkerung das in Kauf nehmen.
Aus – vermeintlich – sicherer Entfernung betrachtet, scheint das anders auszusehen. In Luxemburg haben die Stromverbraucher – EU-Liberalisierung sei Dank – grundsätzlich die Wahlfreiheit zwischen günstigem Atom- und Kohlestrom und teurerem grünen Strom – und nutzen sie wenig. „In der Zeit nach Fukushima sind etwa fünfmal mehr Kunden zu uns gewechselt als vorher“, weiß Max Jentgen vom reinen Ökostromanbieter Eida zu berichten. Die Bereitschaft, umzusteigen, sei aber wieder schwächer geworden. Positiv findet Jentgen, dass viele Haushalte sich beim Erstanschluss für Eida entscheiden und dass viele gewerbliche Verbraucher ein Angebot für grünen Strom einholen. „Leider gibt da aber wohl oft der Preis den Ausschlag“, bedauert der Eida-Mitarbeiter.
Wer will grünen Strom?
Erny Huberty vom größten nationalen Anbieter Enovos stellt ebenfalls ein gestiegenes Interesse bei Firmen und Gemeinden am „Nova Naturstroum“, dem Vorzeigeprodukt seines Unternnehmens, fest. Allerdings: „Nach Fukushima wurde viel über grünen Strom geredet, und wir haben für Nova Naturstroum geworben. Doch die Bereitschaft, von unserem Standardstrom auf Nova umzusteigen, war nicht sonderlich groß.“ Aus diesem Grund habe man sich entschlossen, einfach allen Haushaltskunden grünen Strom zu liefern. Am 1. Oktober hatte Enovos auf dem Bahnhofplatz einen Rasenteppich ausgerollt und auf spektakuläre Art Luxemburg zur „Zone verte“ erklärt. Allerdings verdient das neue Enovos-Standardprodukt „Naturstroum“ nur das Prädikat „hellgrün“: Anders als „Nova Naturstroum“ wird die Ökologisierung durch den Kauf von Zertifikaten erreicht (woxx 1128), und der Strom stammt nicht aus überwiegend neuen Anlagen. Der Standardstrom für die gewerblichen Kunden enthält außerdem Strom aus fossilen Quellen, aber keinen Atomstrom. Unterm Strich ist der „Ausstieg“ des größten Luxemburger Stomanbieters unzweifelhaft eine Absage an die Atomenergie.
„Das AKW Cattenom bleibt ein Risiko. Endgültige Sicherheit wird es erst mit seiner dauerhaften Abschaltung geben. Das ist der Auftrag für die Zukunft.“ In ihrer gemeinsamen Presseerklärung zu den Ergebnissen des Stresstests halten die zuständigen Ministerien aus Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Luxemburg mit Kritik nicht hinter dem Berg. Noch weiter geht der von ihnen beauftragte Experte Dieter Majer: Angesichts der gravierenden Sicherheitsdefizite empfiehlt er, Cattenom kurzfristig stillzulegen. Dann könne man die Anlage entweder umfassend nachrüsten oder, sollte das zu kostspielig sein, endgültig vom Netz nehmen. Jean-Claude Juncker persönlich hatte vergangenes Jahr in seiner Rede zur Lage der Nation eine Abschaltung gefordert, falls man ihm nicht beweisen könne, dass Cattenom gegen einen Flugzeugabsturz gewappnet sei. Der Stresstest hat diese Eventualität nicht untersucht, und es ist ein offenes Geheimnis, dass die französischen AKW nicht gegen sie gewappnet sind – doch was der Premier sagte, wird sich wohl als reine Demagogie entpuppen.
Gelbe Regierung
In Wirklichkeit liefert der Stresstest Argumente, mit denen sich Minister und Oppositionspolitiker profilieren können, doch der französische Staatsapparat denkt nicht im Traum daran, die Kraftwerke aufzugeben. Nützlich ist der internationale Druck trotzdem, denn er stärkt die Position der Atomgegner jenseits der Grenze. Immerhin dürfte eine künftige rot-grüne Regierung in Paris die Erneuerung des AKW-Parks auf Eis legen – ein erster Schritt in Richtung Ausstieg. Ob man der französischen Atomlobby Konzessionen bei den anstehenden Genehmigungen für Laufzeitverlängerungen wird abringen können, ist allerdings unklar. Denn allen Klagen der Atomgegner über den künstlich verbilligten Atomstrom zum Trotz: Die in diesen ? längst abgeschriebenen ? Kraftwerken erzeugte Energie ist kostengünstig, zumindest, was die direkten Kosten angeht. Solange sich genügend Abnehmer für gelben Strom finden, bleibt ein Atomausstieg wirtschaftlich höchst unattraktiv und ist der Neubau von AKW nicht endgültig vom Tisch.
Genau an diesem Punkt lügt sich die luxemburgische Regierung in die eigene Tasche. In der Frage der umstrittenen Direktanbindung der Elektrostahlwerke an das französiche Stromnetz erklärte der neugebackene Wirtschaftsminister Etienne Schneider, er sei zwar gegen Atomenergie, doch könne Arcelor-Mittal aufgrund der Liberalisierung sowieso seinen Stromerzeuger frei wählen. Allerdings: die umstrittene Leitung würde den Kilowattpreis senken und damit Arbeitsplätze in Luxemburg sichern. Wie sein Amtsvorgänger Jeannot Krecké spricht sich Schneider für die Leitung aus, doch hatte jener – geschickt aber unredlich – sie immer als Maßnahme zur Versorgungssicherheit schöngeredet. Als Energieminister vertritt Schneider die Regierungsposition in dieser Frage und sendet ein deutliches Signal an Frankreich: Was auch immer der Gesundheitsminister und der Premier Kritisches zu Cattenom vorbringen mögen – solange französische AKW günstigen Strom liefern können, tut unsere Regierung alles, damit luxemburgische Industriebetriebe von diesem profitieren können. Das ist eine kaum verhüllte Aufforderung an Arcelor, Atomstrom zu kaufen, und an Frankreich, die Anlagen nicht abzuschalten, sondern mittelfristig sogar neue zu bauen.
Schweigen und Blöken
Doch nicht nur die Regierung hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, auch die LSAP als historische Anti-Atom-Partei ist dabei, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Wenn der zuständige Minister de facto die Atomenergie fördert, was sind dann die kritischen Aussagen des sozialistischen Gesundheitsministers Mars Di Bartolomeo zu den Stresstests wert? Und wie ernst meinte es die Partei, als sie kurz nach Fukushima – nach eigenem Bekunden – „Worten Taten folgen ließ“ und sich an der Gründung eines Luxemburger Aktionskomitees gegen Atomkraft beteiligte?
Besagtes Komitee, in dem mittlerweile fast alle Parteien und Gewerkschaften Mitglied sind, hat sich eigentlich einem sofortigen und endgültigen Stopp aller in der Großregion gelegenen AKW verschrieben. Ein Ziel, das wohl kaum mit der faktischen Förderung der Atomenergie durch die Regierung in Einklang zu bringen ist. Eigentlich müsste sich das Aktionskomitee von der Regierungsposition in dieser Frage distanzieren und die verantwortlich zeichnenden Parteien LSAP und CSV rausschmeißen. Tatsächlich aber führt dieses Komitee ein Schattendasein und ist seit der großen Anti-Atom-Demo im April 2011 kaum in Erscheinung getreten. Eine Präsidentin oder einen Pressesprecher, die man hierzu befragen könnte, gibt es auch nicht.
Aus gut informierten Kreisen heißt es, bei dem anstehenden, schon vor Monaten geplanten Gespräch des Komitees mit der Regierung werde die umstrittene Leitung eines der Themen sein. Einen Ausschluss von Komiteemitgliedern scheint man allerdings nicht ins Auge gefasst zu haben. Doch Stillschweigen in dieser symbolischen Frage würde jenen Recht geben, die von Anfang an in dem Komitee nur eine Alibiveranstaltung sahen, mit der Volkszorn auf das böse Nachbarland gelenkt und der nationale politische Mikrokosmos grüngewaschen werden sollte. In letzter Konsequenz erscheint eine Auflösung oder ein Austritt der wirklichen Atomgegner gegenüber dem drohenden Verlust der Glaubwürdigketi als das kleinere Übel.
Doch auch virulente Akteure der Anti-Atom-Bewegung haben ein Problem: Das Argument von Etienne Schneider, der Staat könne nicht verhindern, dass Arcelor Atomstrom kauft, ist nämlich leider zutreffend. Diese Möglichkeit ist der EU-Liberalisierung der Energiemärkte zu verdanken, die seinerzeit von großen Teilen der ökologischen Bewegung begrüßt worden war. Man hoffte, durch sie das Monopol der fossilen staatlichen oder staatsnahen Konzerne aufzubrechen und mittels Verbraucher-Macht den Energiemix rasch zu verändern. Trotz des Achtungserfolgs von Initiativen wie Eida ist diese Strategie gescheitert. Man mag die Entscheidung von Arcelor-Mittal für Atomstrom missbilligen, dass sie marktkonform ist, ist nicht zu bestreiten.
Welche Schlüsse werden daraus gezogen? Vor anderthalb Wochen plädierte im soziokulturellen Radio der Europaabgeordnete Claude Turmes für mehr Markttransparenz und eine Verbesserung der Reglementierung, und Martina Holbach von Greenpeace forderte, Enovos solle das Stromsparen fördern, also eigentlich den Ast absägen, auf dem der Energielieferant selbst sitzt. Akteure wie die Grünen und Greenpeace sind sichtlich nicht bereit, der Marktideologie abzuschwören und Überlegungen anzustellen, wie man die Kontrolle über die Energiewirtschaft in die öffentlichen Hände zurückführen könnte. Ein Blick nach Japan könnte erhellend wirken: Dort diskutiert man seit Fukushima nämlich nicht nur über einen Atomausstieg, sondern auch über eine staatliche Kontrolle der Energiewirtschaft.