Als Kompromiss werden die Vorschläge der EU-Kommission für eine gemeinsame Migrationspolitik verkauft. Sie offenbaren jedoch vor allem, dass man an ein einheitliches und EU-weit durchgesetztes Recht auf Asyl nicht mehr glaubt.
Sie hatte es schon vor zwei Wochen prophezeit. In einem Kommentar hatte Catherine Woollard geschrieben, dass von dem geplanten Migrationspakt der EU-Kommission nicht viel zu erwarten sei. Am Mittwoch erhielt die Direktorin des Europäischen Rats für Flüchtlinge und Exilierte (ECRE) die Bestätigung: Interessant sei an den neuen Vorschlägen allenfalls, „dass als neue Herangehensweise präsentiert wird, was im Wesentlichen die Linie der vergangenen Jahre fortsetzt, nämlich die Ankunft von Flüchtlingen in Europa zu verhindern, anstatt Europas Asylsystem zu verbessern“, so Woollard gegenüber der woxx.
Wenige Stunden zuvor hatten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihr Stellvertreter Margaritis Schinas gemeinsam mit der zuständigen EU-Kommissarin Ylva Johansson die Gesetzentwürfe für ein künftiges Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) in Brüssel vorgestellt. Auf der Pressekonferenz bemühte Schinas das von ihm ersonnene Bild der EU-Migrationspolitik als Haus mit drei Stockwerken zum wiederholten Mal: „Der erste Stock verfügt über einen großen Außenbereich, eingerahmt durch Abkommen mit verschiedenen Herkunfts- und Transitländern, um die Menschen für ein besseres Leben in ihren Ländern zu halten.“ Der zweite Stock bestehe aus einem robusten Grenzschutzsystem. Nur wer es bis in den dritten Stock schafft, kommt demnach in den Genuss europäischer Solidarität.
Es wirkt wenig einladend, dieses Haus, und tatsächlich betonen die Vertreter*innen der Kommission, dass EU-Asylpolitik auch künftig vor allem auf Abschreckung basiert. Der Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex, die vertiefte Kooperation mit Drittstaaten wie Libyen und der Türkei, um Fluchtbewegungen nach Europa schon im Ansatz zu verhindern – all die bekannten Maßnahmen finden sich in den aktuellen Vorschlägen wieder.
Doch auch ein, zwei neue Aspekte gibt es dort. So etwa ein „pre-entry screening“. Alle, die laut behördlicher Sprachregelung „irregulär“ in die Europäische Union einreisen oder dies versuchen, sollen Fingerabdrücke abgeben und sich einem Gesundheits- und Sicherheitscheck stellen müssen. Maximal fünf Tage hat man Zeit für diese Prozedur. Unklar ist jedoch, inwiefern all dies beeinflusst, was im weiteren mit den Asylsuchenden geschieht. Das Screening erlaube es, schneller den Status einer Person festzustellen und festzulegen, „welches Verfahren angewandt werden soll“, heißt es in den Erläuterungen. Im Weiteren ist von einem beschleunigten Asylverfahren direkt an der Grenze die Rede. Es soll auf Personen aus Ländern angewandt werden, bei denen die Anerkennungsquote unter zwanzig Prozent liegt und wird von einem „normalen Asylverfahren“ unterschieden.
Das klingt alarmierend. Zwar betont die EU-Kommission, ein rechtsstaatliches Prozedere sei auch bei den grenznahen Verfahren garantiert. Für Catherine Woollard vom ECRE könnte ein solches Vorgehen jedoch am Ende in ein zweitklassiges Asylverfahren münden. „Es würde zudem bedeuten, dass eine große Anzahl von Menschen interniert werden, um ein solches minderwertiges Schnellverfahren zu durchlaufen“, gibt sie zu bedenken.
Die EU-Kommission hingegen argumentiert, gut begründete Asylanträge ließen sich so ebenfalls effizienter erfassen, man könne schneller über sie entscheiden und so zu einem besseren Asyl-, aber auch Abschiebesystem beitragen. Denn abschieben will man abgelehnte Asylbewerber so rasch wie möglich. Daran ließ Ylva Johansson als EU-Kommissarin für Migration keinen Zweifel. Das sei man den Bürger*innen der EU und deren Erwartungen schuldig. „Wir haben nicht mehr das Jahr 2015“, sagte sie, „heute hat nur ein Bruchteil der hier Angekommenen ein Recht auf Asyl.“ Zwar sei die Zahl der offiziell um Schutz Ersuchenden von knapp 1,3 Millionen im Jahr 2015 auf rund 700.000 im vergangenen Jahr gesunken, doch werden jährlich im Schnitt etwa 370.000 dieser Gesuche abgelehnt. Nur ein Drittel der Betroffenen wird abgeschoben, weil beim Rest beispielsweise die Identität nicht geklärt ist oder das Herkunftsland die Einreise verweigert.
Orbán als Rausschmeißer?
Dennoch soll das Abschiebesystem zwei der drängendsten migrationspolitischen Probleme der EU lösen. Einerseits soll es Staaten wie Italien und Griechenland entlasten, die nach den geltenden Dubliner Regeln für das Gros der Asylanträge verantwortlich sind, weil die Mehrzahl der Schutzsuchenden auf ihrem Territorium erstmals die EU betritt. Zum anderen möchte man Länder wie Ungarn, Tschechien und Polen endlich einbinden. Sie hatten sich bisher strikt geweigert, Flüchtlingskontingente im Zuge einer Umverteilung aufzunehmen. Mitgliedsstaaten, die das auch künftig nicht wollen, können nun stattdessen ein sogenanntes „return sponsorship“ eingehen.
Für dieses euphemistische Wortungetüm wird in der deutschen Übersetzung seit Mittwoch der Begriff „Abschiebe-Patenschaft“ benutzt. Möchte etwa der ungarische Premierminister Viktor Orbán mit seiner Regierung ein solcher „Pate“ werden, verpflichtet er sich dazu, einen jeweils um Hilfe ersuchenden Mitgliedsstaat bei der Abschiebung bestimmter Personen in jeder ihm möglichen Weise zu unterstützen. Er kann sich dabei Menschen aus Herkunftsländern herauspicken, bei denen ihm eine Abschiebung besonders erfolgversprechend erscheint. Trotzdem muss er, wenn er scheitert, die Verantwortung für die betroffenen Personen übernehmen – womit ein abgelehnter Asylbewerber nach einer achtmonatigen Frist am Ende doch in Ungarn landen kann.
„Flexibel“ soll der sogenannte Solidaritätsmechanismus sein. Er bedeutet indes vor allem: Eine verpflichtende Quote für die Verteilung von Asylsuchenden, für die noch die EU-Kommission unter Jean Claude Juncker gekämpft hatte, ist endgültig vom Tisch. Auch in Krisenzeiten soll nun niemand gezwungen werden, Flüchtlinge aufzunehmen.
„Wir sehen hier die Fortsetzung der bisherigen Situation, in der es einigen Ländern gestattet wird, sich aus dem EU-Asylrecht auszuklinken“, fasst Catherine Woollard zusammen. Die ECRE-Direktorin glaubt auch nicht, dass sich die Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten auf diese Weise lösen. Denn wieso sollten Orbán und Co. riskieren, eine solche „Patenschaft“ zu übernehmen, wenn sein Land die betroffenen Personen am Ende doch aufnehmen müsste? Ohnehin sei die migrationspolitische Situation in einigen EU-Ländern derzeit unzumutbar, weil Flüchtlinge dort nicht sicher sind, so Woollard. Damit verweist sie auf den Kern des Problems: „Gerade das müsste ja verändert, bestehendes EU-Asylrecht auch in der gesamten Union durchgesetzt werden“, sagt sie, und betont: „Es geht darum, dass jeder Mitgliedsstaat über ein funktionierendes Asylsystem verfügen muss. In diese Richtung unternimmt der Vorschlag aber gar nichts.“
Statt dessen wird das Asylsystem mit den Schnellverfahren noch mehr an die EU-Außengrenzen verlagert, wo nun auch für eine entsprechende Infrastruktur gesorgt werden muss. Auf den griechischen Inseln hat man all das bereits ausprobiert und so das System Moria geschaffen. Nun wird es, entgegen der offiziellen Rhetorik, universalisiert.
So bleibt von den Vorschlägen der EU-Kommission jenseits von Abschreckung und Abschottung vor allem der Eindruck, dass man Bilder wie 2015 um jeden Preis vermeiden will. Man mag darin einen Kompromiss sehen, der dem politischen Status quo entspricht. Oder schlicht einen Versuch zum Appeasement der extremen Rechten in Europa. Orbán und Co. können sich in jedem Fall freuen: Ihre Grundhaltung, europäische Solidarität bedeute, sich zusammen vor Asylsuchenden schützen, anstatt diesen gemeinsam Schutz zu bieten, hat sich durchgesetzt.