Flüchtlinge aus Afghanistan: „Nur der Pull-Faktor zählt“

In der kommenden Woche wird auf einer internationalen Konferenz über die Aufnahme von Schutzsuchenden aus Afghanistan debattiert. Die Machtübernahme der Taliban liefert alle Gründe für eine Flucht, wie aktuelle Berichte zeigen. Doch die Mehrheit der EU-Staaten setze auf Abriegelung, so Außenminister Jean Asselborn.

Abwehr der Flüchtlinge insbesondere auch aus Afghanistan: Türkische Militärfahrzeuge patrouillieren entlang des 63 Kilometer langen, bereits fertiggestellten Teils einer neuen Wehranlage an der türkisch-iranischen Grenze. Bis Ende des Jahres soll die Grenze auf ihrer gesamten Länge von 560 Kilometern fortifiziert werden. (Foto: EPA-EFE/Sedat Suna)

Eindeutiger hätte das Urteil über die neuen Machthaber in Afghanistan nicht ausfallen können: „Die Taliban sind dabei, die Errungenschaften der vergangenen zwanzig Jahre im Bereich der Menschenrechte zu demontieren.“ So fasst Amnesty International in einem in der vergangenen Woche veröffentlichten Bericht die Entwicklung in dem Land seit dem hastigen Abzug der US-Truppen und ihrer Alliierten zusammen. Das skrupellose Vorgehen der Taliban wird in dem gemeinsam mit der Internationalen Föderation für Menschenrechte und der Weltorganisation gegen Folter herausgegebenen Briefing dokumentiert, darunter die gezielte Tötung von Zivilist*innen und sich ergebenden Soldaten, die Misshandlung und Bedrohung von Journalist*innen. Die Rechte von Frauen und Mädchen und ihr Zugang zur Bildung würden massiv eingeschränkt, LGBTI-Personen, Menschenrechtsaktivist*innen und andere müssten um ihr Leben fürchten.

Einen Fluchtgrund haben indes grundsätzlich „alle, die nicht unter einem Taliban-Regime leben wollen“, so der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig gegenüber der woxx. Bereits vor Ende der alliierten Evakuierungsflüge versuchten viele Menschen auf dem Landweg aus Afghanistan herauszukommen. Nachdem die meisten Grenzübergänge in die Nachbarländer laut UN-Angaben schon seit Monaten geschlossen waren, wurde eine der wichtigsten Passagen nach Pakistan, der „Chaman Spin Boldak“-Grenzübergang, von der dortigen Regierung Anfang September gesperrt. Zuvor hatten sich dem britischen Nachrichtensender BBC zufolge Tausende auf diesem Weg in Sicherheit zu bringen versucht. „Von einigen Kollegen und auch von Sicherheitsanalysten, die noch dort sind, weiß ich, dass es schwieriger geworden ist, das Land zu verlassen, weil die Taliban die Grenzübergänge übernommen haben und nur Menschen mit gültigen Visa passieren lassen“, bestätigt auch Ruttig die sich zuspitzende Lage. Die Taliban hätten kein Interesse, alle Leute fliehen zu lassen, „vor allem nicht jene, die man zur Verwaltung des Landes braucht“.

Der weitaus überwiegende Teil der Flüchtlinge aus Afghanistan hält sich in den angrenzenden Nachbarländern auf. Ende August waren dort rund 2,2 Millionen afghanische Flüchtlinge registriert, der überwiegende Teil davon im Iran und in Pakistan. 35.000 von ihnen sind in den vergangenen neun Monaten hinzugekommen. Die Zahl der undokumentierten Flüchtlinge, die jüngst angekommen sind, dürfte allerdings weitaus höher sein. Überdies waren laut der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR bereits Ende vergangenen Jahres rund 2,9 Millionen Binnenflüchtlinge in Afghanistan zu verzeichnen, seither kamen weitere 635.000 dazu – bei einer Gesamtbevölkerung von geschätzt 33 Millionen. Mindestens 300.000 afghanische Flüchtlinge halten sich zudem in der Türkei auf, wo sie nach den 3,6 Millionen Menschen aus Syrien die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe bilden.

Hilfe auf Nachbarländer abgewälzt

Um die betreffenden Länder zu entlasten, forderten Amnesty International und 23 weitere NGOs von der EU und ihren Mitgliedsstaaten in einer Mitte September veröffentlichten Stellungnahme „konkrete Zusagen für ein schnelles, EU-weites Resettlement-Programm für afghanische Geflüchtete aus der Region“. Ein solches Umsiedlungsprogramm war bereits auf einer Sondertagung der EU-Innenminister am 31. August zur Sprache gekommen. Damals hatte Außenminister Jean Asselborn für die Aufnahme von EU-weit 40.000 bis 50.000 afghanischen Flüchtlingen aus der Region geworben.

Von der Mehrheit der Anwesenden wurde dies jedoch strikt abgelehnt. Einmal mehr wurde die vermeintliche Flüchtlingskrise des Jahres 2015 bemüht: Man sei „entschlossen, eine Wiederholung von großen und unkontrollierten illegalen Migrationsbewegungen zu verhindern“, heißt es in der gemeinsamen Abschlusserklärung, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Stattdessen wolle man die Nachbarländer Afghanistans bei der Beherbergung der Flüchtlinge unterstützen. Asselborn drohte die Erklärung angesichts ihres Wortlauts zu blockieren und ließ sich erst umstimmen, als man ihm zusagte, eine internationale Konferenz zur Aufnahme afghanischer Flüchtlinge zu organisieren. „Das hat mich schon sehr bedrückt“, so der Außenminister gegenüber der woxx über die Sitzung, bei der er laut eigener Auskunft so isoliert wie nie zuvor den anderen EU-Ministern gegenüberstand.

Am kommenden Donnerstag wird das sogenannte „High-level Resettlement Forum“ nun stattfinden, laut Jean Asselborn neben der EU auch unter kanadischer, US-amerikanischer und britischer Beteiligung. Dort soll die Übersiedlung von afghanischen Flüchtlingen erwogen werden, die derzeit in Ländern wie Iran und Pakistan sind. Große Hoffnungen auf ein zufriedenstellendes Ergebnis macht sich Luxemburgs Außenminister allerdings nicht: „Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Länder, die da mitmachen werden, extrem begrenzt sein wird.“ Das Problem in der EU sei, „dass nur noch der Pull-Faktor zählt“, gemäß der Behauptung, dass ein solches Umsiedlungsprogramm weitere Fluchtanreize schafft: „Wenn man Menschlichkeit zeigt, so argumentieren viele, dann wird der Druck auf die EU so groß, dass wir ein neues 2015 bekommen – was eine verrückte Behauptung ist“, so Asselborn.

„Die politischen Unterschiede zwischen den EU-Ländern sind viel zu groß, als dass es hier zu einer Einigung kommen könnte“, argumentiert in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung „Rheinische Post“ der von der deutschen Bundesregierung in Migrationsfragen häufig als Experte hinzugezogene Gerald Knaus. Er plädiert statt dessen für eine „Koalition der Aufnahmewilligen“ unter den EU-Mitgliedsstaaten und anderen Nationen. Ein Standpunkt, für den Catherine Woollard kein Verständnis hat: „Das EU-Recht hat bindende Kraft in allen EU-Mitgliedsstaaten“ so die Direktorin des „European Council on Refugees and Exiles“ (Ecre) gegenüber der woxx: „Ich kann den Defätismus nicht nachvollziehen, der suggeriert, in diesem spezifischen Bereich lasse sich EU-Recht nun einmal nicht durchsetzen und seine Nichteinhaltung sei daher akzeptabel.“

Bildquelle: EPA-EFE/Yannis Kolesidis

Nicht nachvollziehbarer Defätismus

Die EU-Kommission wiederum hat die Lage in Afghanistan genutzt, um für den im vergangenen Jahr vorgestellten Entwurf für einen neuen europäischen Migrationspakt zu werben (siehe woxx 1599: „Pakt der Abschiebung“). Er sehe „jetzt den Moment, um sich auf eine gemeinsame europäische Migrations- und Asylpolitik zu einigen, wie wir sie in der EU-Kommission im September vorgeschlagen haben“, sagte etwa der für Migrations- und Asylfragen zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, am vergangenen Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Auch diese Argumentation weist Catherine Woollard zurück. Man wolle glauben machen, der Pakt stelle die einzige Möglichkeit dar, um mit den kommenden Herausforderungen fertigzuwerden, so die Ecre-Direktorin. Es existiere jedoch bereits ein gemeinsames europäisches Asylsystem, und das sei mit sehr detaillierten und weitreichenden rechtlichen Verpflichtungen verbunden. „Es gibt also keine Entschuldigung dafür, Menschen den Schutz vorzuenthalten, der ihnen zusteht.“

In Luxemburg wurde seit 2015 rund 450 Personen afghanischer Nationalität der Asylstatus zuerkannt, bei weiteren 185 steht die Entscheidung über ihren Asylantrag noch aus. Das geht aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der ADR hervor. Jean Asselborn hofft, dass das Resettlement-Forum wenigstens den Familiennachzug von bereits in Europa anerkannten Flüchtlingen ermöglichen wird. Für das von ihm ursprünglich genannte Kontingent von EU-weit 40-50.000 Menschen sieht er derzeit „überhaupt keine Chance“.

„Unsere größte Sorge sind die Menschen, die es aus eigener Kraft bis an die EU-Außengrenzen schaffen und denen dort der Zugang zu Asyl verweigert wird“, sagt indessen Catherine Woollard. Der Weg, den diese Menschen bis dahin bereits zurückgelegt haben, ist weit. Rund 5.000 Kilometer sind es beispielsweise von Afghanistan über den Iran und die Türkei bis an die Ränder der EU, und es gilt zahlreiche Hindernisse zu überwinden. Die iranisch-türkische Grenze etwa wird derzeit nach dem Vorbild der türkischen Grenze zu Syrien mit einer Mauer fortifiziert. Der Ecre fordert daher sichere und legale Möglichkeiten, nach Europa zu gelangen.

Doch das Gegenteil geschieht. Das EU-Land Polen sichert derzeit seine Grenze zu Belarus durch einen zweieinhalb Meter hohen Stacheldrahtzaun. Um die EU wegen der gegen sein Land verhängten Sanktionen unter Druck zu setzen, lasse der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und anderen Krisenregionen einreisen, um sie dann an der litauischen, lettischen und polnischen Grenze weiter in Richtung Europäische Union zu schleusen, so der Vorwurf der drei belarussischen Nachbarstaaten.

„Als Waffe benutzt“

Überdies hat Polen an der dortigen Grenze den Ausnahmezustand verhängt – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes seit dem Ende des kommunistischen Regimes. Der Notstand gilt entlang der 400 Kilometer langen Grenze und auf drei Kilometern Breite, unter anderem ist Journalist*innen und Hilfsorganisationen der Zutritt untersagt. Die Flüchtlinge in der Grenzegion harren in der Kälte aus, haben nicht genug Nahrung und Trinkwasser und keinerlei medizinische Versorgung. Mehrere Flüchtlinge sind in den vergangenen Tagen gestorben, Polen und Belarus schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Seitens der polnischen Grenzschützer soll es laut verschiedener Nichtregierungsorganisationen auch zur gewaltsamen und illegalen Rückführung von Flüchtlingen („push-backs“) ins Nachbarland gekommen sein.

Doch nicht nur Lukaschenko hat erkannt, dass die afghanischen Schutzsuchenden als Faustpfand im Streit mit der EU dienen können. So soll der russische Präsident Wladimir Putin der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gedroht haben, Flüchtlinge in Richtung Deutschland zu dirigieren, falls Berlin die Ukraine weiterhin so aktiv unterstützt. „Die Menschen werden als Waffe benutzt, weil es der EU nicht gelingt, die Situation auf eine ruhige und pragmatische Weise zu meistern“, so Catherine Woollard, Selbst eine kleine und leicht zu bewältigende Anzahl von ankommenden Flüchtlingen führe heute dazu, in der EU Krisenstimmung und Panik zu erzeugen, was Herrschern wie Putin und Lukaschenko perfekt in die Hände spiele.

Nach Afghanistan selbst will man vorerst offenbar nicht mehr abschieben. Das Land werde „in vorhersehbarer Zukunft nicht sicher sein“, heißt es in einem geleakten Entwurf für einen Aktionsplan des Rats der Europäischen Union von Mitte September, mit dem man auf die Ereignisse in Afghanistan reagieren will. Stattdessen wird vorgeschlagen, sich verstärkt der sogenannten „Drittstaatsangehörigen-Klausel“ zu bedienen. Damit ist im konkreten Fall die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen in Länder, die sie auf ihrer Flucht durchquert haben, gemeint. Das prominenteste solcher Abkommen besteht mit der Türkei, es gibt sie jedoch bislang mit siebzehn weiteren Ländern. Die desaströsen Konsequenzen des sogenannten EU-Türkei-Deals, der auch die Situation auf den griechischen Inseln und Zustände wie im Lager Moria zur Folge hat, wurden von der NGO „medico international“ unter Stichworten wie „Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung“ jüngst noch einmal in einer Studie dokumentiert.

Vor zwei Wochen hat auch der Europäische Rechnungshof einen Sonderbericht zu diesen Abkommen vorgelegt. Er beurteilt sie als bislang nicht effizient genug.


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