Das italienische Livorno ist über 1.100 Kilometer von der libyschen Küste entfernt. Dennoch wurden Seenotrettungsschiffe im vergangenen Jahr mehrfach dorthin beordert, um Schiffbrüchige an Land zu bringen – so auch wieder Anfang Februar.
Der Himmel ist noch dunkel und es weht ein kalter Wind aus Nordosten, als das Schiff um 6.30 Uhr am Calata-Carrara anlegt. Am frühen Morgen des 2. Februar läuft die „Ocean Viking“ im Hafen von Livorno ein, ein Schiff des europäischen NGO-Netzwerks „SOSMéditerranée“, das zivile Such- und Rettungsaktionen im zentralen Mittelmeer durchführt. An Bord befinden sich 71 Schiffbrüchige, die in internationalen Gewässern vor Libyen gerettet wurden, von wo aus sie versucht hatten, Europa zu erreichen.
„Am 29. Januar haben wir sie gerettet“, sagt Francesco Creazzo, Kommunikationsbeauftragter von „SOS Méditerranée“ Italien, der an dem Einsatz beteiligt war. Er erzählt, dass sich „die Menschen an Bord eines überladenen und unsicheren Beiboots“ befanden. Der Alarm kam von der „Seabird“, dem Flugzeug des gemeinnützigen deutschen Seenotrettungsvereins „Sea-Watch“ (siehe „Beschränkte Befugnis“ in woxx 1696). „Unter den Geretteten“, so Creazzo weiter, „befanden sich auch fünf Frauen, von denen eine schwanger war, und 16 unbegleitete Minderjährige.“ Es handele sich hauptsächlich um Menschen eritreischer und äthiopischer Nationalität, die fast alle aus der nordäthiopischen Region Tigray an der Grenze zu Eritrea stammen.
Zwei Jahre lang tobte dort ein Krieg zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der „Tigray People’s Liberation Front“, die die Regionalregierung stellt (siehe „Einheit um jeden Preis“ in woxx 1608), bis die verfeindeten Parteien im November 2022 einen Friedensvertrag unterzeichneten. Jedoch können nach wie vor Hunderttausende Geflüchtete nicht in das Gebiet zurückkehren, es gibt Berichte von Kriegsverbrechen und weiteren Vertreibungen.
Eine geringere Zahl der aus Seenot geretteten Flüchtlinge kommt aus Nigeria, dem Sudan und Ghana, sagt Creazzo: „Wir haben die meisten von ihnen in gutem Zustand vorgefunden, obwohl einige Brandspuren hatten.“ Unmittelbar nach der Rettung wurde Livorno als sicherer Hafen zugewiesen. „Wir setzten den Bug nach Norden“, erzählt Creazzo, „dann durchquerten wir den tunesischen Korridor und kamen nach drei Tagen Fahrt an.“ Die milden Wetterbedingungen ermöglichten eine reibungslose Fahrt. „Was mich persönlich am meisten beeindruckt hat, war die absolute Stille in der ersten Nacht nach der Rettung“, erinnert sich Creazzo: „Es war wahrscheinlich die erste Nacht seit Jahren, in der diese Menschen wirklich geschlafen haben. Nach Libyen war es das erste Mal, dass sie sich sicher fühlten.“
Unter den Geretteten war ein junges Paar. Den Rettern war aufgefallen, dass sie sowohl auf dem Beiboot als auch auf den Rettungsbooten einander immer umschlungen und sich gerade lange genug trennten, um die Leiter zu erklimmen, die sie an Bord der „Ocean Viking“ führte. Auch auf dem Schiff hielten sie sich stets umarmt, außer in den Schlafsälen, die aus Sicherheitsgründen nach Geschlechtern getrennt sind.
„Es war wahrscheinlich die erste Nacht seit Jahren, in der diese Menschen wirklich geschlafen haben. Nach Libyen war es das erste Mal, dass sie sich sicher fühlten.“
An Bord erzählten sie ihre Geschichte: wenn nicht die einer unmöglichen Liebe, so doch eine, die unter unmöglichen Bedingungen entstanden ist, nämlich in einem Flüchtlingslager im libyschen Kufra, mitten in der Sahara. In dieser Oase, einer obligatorischen Zwischenstation auf der Wüstenreise vom sudanesischen Khartum zu den libyschen Küstenstädten, gibt es zahlreiche Auffanglager. Dort werden Migrant*innen willkürlich und unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten, gefoltert und versklavt, während ihre Familien zur Zahlung von Lösegeld aufgefordert werden (siehe „Bündnis mit den Banden“ in woxx 1685).
In einem dieser Zentren lernten sich die beiden kennen und gestanden sich ihre Liebe zueinander. Es gelang ihnen, gemeinsam zu fliehen, und nach einiger Zeit erreichten sie Tripolis. Sie blieben ein Jahr lang in der Stadt, auch dort unter prekären Bedingungen. „Unser Weg kann hier nicht enden“, sagten sie sich irgendwann, sie schifften sich gemeinsam ein. Sie ist von ihm schwanger. In Livorno sind beide gemeinsam von Bord gegangen.
Doch leider gibt es für die meisten Überlebenden keinen ähnlichen Lichtblick. „Unter den Menschen, die wir gerettet haben“, sagt Creazzo, „ist ein Mann, der seit acht Jahren in Libyen war, ich denke, das sagt alles.“ Seine Geschichte ist eine von vielen. Er floh aus Tigray, um seine Kinder finanziell unterstützen zu können. Zunächst arbeitete er im Sudan und dann in Libyen, bis er immer wieder „von einem Lager zum anderen verkauft“ wurde, erzählte der Mann den Mitarbeiter*innen der NGO: „Sie schickten mich zum Spaß hin und her, um sich gegenseitig Streiche zu spielen.“ Jedes Lager bedeutet offensichtlich unmenschliche Lebensbedingungen und dann neue Schikanen, Folter, Erpressung (siehe „Zwischenfälle mit System“ in woxx 1731). Er versuchte es auf legalem Weg raus, führte mehrere Gespräche mit Vertretern der Behörden, die von Zeit zu Zeit in die Lager gehen. Es nützte nichts, er wurde eine Weile versklavt und musste lange Zeit Zwangsarbeit ohne Entlohnung leisten, bis ihm irgendwann die Flucht gelang. „Wir fragten ihn, ob er auf dem Meer, während der Überfahrt, Angst gehabt habe“, erzählt Creazzo. Seine Antwort spricht für sich: „Ich hatte keine Angst, Angst wovor? Ich wusste sehr wohl, dass ich sterben konnte, ich war bereits tot. In Libyen war ich ein toter Mann, und ihr habt mir mein Leben zurückgegeben.“
Die Ausschiffung in Livorno erfolgte nach den üblichen Verfahren und in Anwesenheit eines Großaufgebots der Polizei und der europäischen Grenzbehörde Frontex. Die auf der Anlegestelle anwesenden örtlichen Behörden erläuterten der Presse die Situation. „In 13 Monaten sind zehn NGO-Schiffe in Livorno angekommen, etwa 1.000 Menschen sind von Bord gegangen“, sagte der Bürgermeister von Livorno, Luca Salvetti: „Wir werden weiterhin Menschen aufnehmen, aber es fehlt eine Integrationspolitik.“
„Unter den Menschen, die wir gerettet haben, ist ein Mann, der seit acht Jahren in Libyen war, ich denke, das sagt alles.“
„SOS Méditerranée“ beurteilt diese 13 Monate viel eindeutiger und schärfer. „Die Bilanz ist absolut negativ“, sagt Creazzo, „die Politik der weit entfernten Häfen in Verbindung mit dem Piantedosi-Dekret bedeutet de facto ein Hindernis für unsere Rettungs- und Interventionskapazität – eine begrenzte Kapazität, denn wir verfügen nicht über die Ressourcen der Staaten, die für die Seenotrettung zuständig wären.“ Ein Dekret mit Gesetzeskraft, das unter dem Namen des italienischen Innenministers Matteo Piantedosi (parteilos) bekannt ist, gibt seit Anfang 2023 einen sogenannten Verhaltenskodex für die zivile Seenotrettung vor. Demnach müssen Kapitäne ihre Schiffe mit vor dem Ertrinken geretteten Menschen an Bord unverzüglich zu einem ihnen zugewiesenen Hafen steuern, der auch mehrere Tage Fahrt entfernt sein kann, und dürfen unterwegs keinen weiteren Notrufen folgen (siehe woxx 1750).
„Das Ziel“, fährt Creazzo fort, „besteht darin, uns so lange wie möglich von den Einsatzgebieten fernzuhalten – leider erweist sich dies als wirksam, denn wir werden von den Behörden festgehalten und müssen lange Strecken zurücklegen, um die vom Staat zugewiesenen Häfen zu erreichen.“ Dass die Schiffe, anstatt die Schiffbrüchigen im dem Rettungsgebiet nächstgelegenen Hafen auszuschiffen, gezwungen sind, die gesamte Halbinsel zu umfahren, stelle „eine zusätzliche Belastung für die Menschen dar, die bereits mehrere Traumata erlitten haben“, so Creazzo.
Hinzu kommen die Kosten für den enormen Treibstoffverbrauch sowie die damit zusammenhängende Umweltbelastung: „Die Politik der entfernten Häfen kostet uns etwa 400.000 Euro pro Jahr“, so der Sprecher, „jede Fahrt kostet zwischen 25.000 und 30.000 Euro. Das ist alles Geld, das aus den Taschen unserer Spender kommt, von denen mehr als 90 Prozent Privatpersonen sind, denn Organisationen wie SOS Méditerranée finanzieren sich dank des Willens der Zivilgesellschaft.“ Der Grund ist für Creazzo klar: Die Schikanen dienten dazu, „unsere Augen und Augenzeugen von den Geschehnissen im zentralen Mittelmeerraum abzulenken“.
2017 wurde die libysche SAR-Zone (SAR steht für „search and rescue“) eingerichtet, für die Aufnahme von Geretteten ist derjenige Staat verantwortlich, in dessen SAR-Zone die Schiffbrüchigen aufgegriffen wurden. Deshalb hätten die europäischen Staaten sowohl die Rettung als auch bis zu einem gewissen Grad deren Koordinierung in diesem Seegebiet aufgegeben, so Creazzo, wodurch es weniger Möglichkeiten zur Seenotrettung gebe, die Überfahrt gefährlicher werde und mehr Menschen stürben. Die Zahl der toten und verschwundenen Migranten im gesamten Mittelmeerraum ist der Datenbank des Projekts „Vermisste Migranten“ der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge von 2.048 im Jahr 2021 auf 2.411 im Jahr 2022 und auf 3.129 im vorigen Jahr angestiegen. Auch in diesem Jahr sind zum Redaktionsschluss dieser Zeitung bereits 185 Opfer zu beklagen.