LGBTIQA-Rechte: Wird in der EU der Rückwärtsgang eingelegt?

Der Aufmarsch der politischen und gesellschaftlichen Anti-Gender-Fraktion sowie die Entwicklung homophober Bewegungen sind ein europäisches Sorgenkind. Auch Luxemburg bleibt von der Mobilisierung gegen die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten nicht verschont.

Europaweit ist eine politische und gesellschaftliche Mobilisierung gegen LGBTIQA-Rechte zu beobachten. So gingen 2013 in Frankreich bei der „Manif pour tous“ Menschen auf die Straße, um unter anderem gegen die Ehe für Homosexuelle, die gleichgeschlechtliche Elternschaft und die Thematisierung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten im Unterricht zu protestieren. 
(Foto: CC BY-Philippe Agnifili-ND 2.0)

Niemand hat erwartet, dass sich die ADR und Déi Konservativ vor der EU-Wahl eine Regenbogenfahne umhängen und für die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten eintreten. Nicht nachdem Vertreter*innen beider Parteien ihrem Ärger über die nationale Gesellschaftspolitik in der Vergangenheit wiederholt in parlamentarischen Anfragen oder bei Diskussionen um die Ratifizierung der Istanbul-Konvention Luft gemacht haben.

So verblüfft es wenig, dass die ADR in ihrem EU-Wahlprogramm vor EU-Direktiven warnt, die eine „Gender-Ideologie“ fördern würden, nach der das „Geschlecht eines Menschen ein rein soziales Konstrukt, unabhängig von der Biologie“ sei. Déi Konservativ billigen zwar „avantgardistische Lebensmodelle von zwei homosexuellen Personen“ und treten gegen Homophobie ein, wollen aber gleichzeitig die Subventionierung von LGBTIQA-freundlichen Initiativen und Kampagnen einstellen. Der Heiligenschein flackert. Auch Déi Konservativ sind gegen eine „Genderagenda“. Die Parteien befinden sich damit in „guter“ internationaler Gesellschaft. Erst kürzlich stilisierte Jarosław Kaczynski, Chef der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die „LGBT-Bewegung“ und die liberale Sexualerziehung in Schulen zur Gefahr für die polnische Identität. In Polen sind laut aktuellem Bericht der European Region of the International Lesbian and Gay Association (Ilga) nur 18 Prozent der LGBTIQA-Rechte, gemessen an bestehenden EU-Richtlinien und positiven Maßnahmen, in Kraft. Sexuelle und geschlechtliche Minderheiten sind dort weder rechtlich vor Diskriminierung und Hassrede geschützt, noch werden ihre Partnerschaften gesetzlich anerkannt. Die Situation von Trans- und intergeschlechtlichen Menschen ist ebenfalls desaströs. Letzteres trifft auch auf andere EU-Länder zu.

Warum eine „Genderagenda“ wichtig ist

Obwohl sich das EU-Parlament kürzlich entschieden gegen die Medikalisierung und Pathologisierung intergeschlechtlicher Menschen sowie gegen operativ-kosmetische Veränderungen der Geschlechtsmerkmale intergeschlechtlicher Kinder aussprach, sind die entsprechenden Maßnahmen in nur zwei EU-Mitgliedsstaaten verboten: in Portugal und Malta. Im luxemburgischen Koalitionsabkommen ist ein Verbot angekündigt. Umgesetzt wurde es noch nicht. In den wenigsten EU-Ländern können intergeschlechtliche und Trans-Menschen ihre Geschlechtsidentität selbstbestimmt offiziell anerkennen lassen. In Deutschland entfällt beispielsweise seit Kurzem der „Alltagstest“ bei dem Betroffene mindestens ein Jahr lang unter psychologischer Betreuung offen ihre Geschlechtsidentität leben müssen – ein Gutachten von zwei Außenstehenden ist zur Vornamen- und Personenstandsänderung dennoch vonnöten. Sie sollen bestätigen, dass der Wille zur Geschlechtsangehörigkeit seit mehr als drei Jahren besteht. Ein medizinisches oder psychologisches Urteil ist laut Ilga üblich – wenn auch nicht erforderlich –, da der Gerichtshof meist nur Psycholog*innen mit der Gutachtenerstellung beauftragt.

Déi Gréng fassen die Kritik an einem solchen Verfahren in ihrem EU-Wahlprogramm prägnant zusammen: „Eine Geschlechtszugehörigkeit kann nur von den betreffenden Menschen selbst festgelegt werden.“ Die Piratepartei geht einen Schritt weiter und spricht sich für die Anpassung der binären Geschlechterordnung aus. Beide Parteien fordern unkomplizierte Verwaltungsakte zur Vornamens- und Personenstandsänderung. In Luxemburg wurde im Juli 2018 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das dies ohne ärztliches oder psychologisches Gutachten ermöglicht. Auch damals wurde die ADR laut, sprach von „Gender-Gaga“ – und diskriminierte damit eine Personengruppe, die ohnehin ein marginalisiertes Dasein fristet.

Erweiterte Gesetze und Maßnahmen sind nötig

Umso wichtiger sind die Forderungen von Déi Gréng und Déi Lénk: Die EU-Mitgliedsstaaten brauchen ein erweitertes Antidiskriminierungsgesetz, das die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität einschließt. Déi Gréng verlangt zudem eine bessere Ausstattung unabhängiger Gleichbehandlungsstellen und mehr Mittel für das europäische Programm für die Förderung von Vielfalt, „um durch Aufklärung Diskrimination zu verhindern“. Ähnliche Maßnahmen sind im Sinne von Volt.

Bemühungen der Europäischen Union (Veröffentlichung zu Antidiskriminierungsrichtlinien, Aktionstage, Empfehlungen, Sanktionen gegen menschenrechtsverachtende Staaten in Europa usw.) zeigen nicht überall Wirkung. Nur 19 der 28 EU-Mitgliedsstaaten haben im vergangenen Jahr ein vom maltesischen Staat vorbereitetes Dokument zum kontinuierlichen und umfassenden Schutz sexueller und geschlechtlicher Minderheiten seitens der EU unterzeichnet. Das Dokument gilt als Aufforderung an das nächste EU-Parlament, eine kohärente „EU LGBTI“-Strategie zu verfolgen und bestehende Aktionen intensiv zu verfolgen.

CC BY Demo für Alle-SA 2.0

Ein Thema, das die kommenden EU-Abgeordneten dabei auch interessieren sollte, ist die Lage von LGBTIQA-Flüchtlingen in der EU. Auch in Sachen Asylpolitik gehen ihre Sorgen nämlich unter. Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden und in Lebensgefahr sind, können Asyl beantragen – im Lot ist damit aber nicht alles: In nur sieben EU-Ländern (Belgien, Dänemark, Finnland, Deutschland, Litauen, Niederlande, Großbritannien) existieren Richtlinien und positive Maßnahmen, die die sexuelle Orientierung von Asylbewerber*innen berücksichtigen. Die Belange intergeschlechtlicher Asylbewerber*innen werden noch weniger beachtet: Nur in Belgien und in Spanien bestehen spezifische Vorgehensweisen. Die woxx berichtete bereits mehrfach über die Herausforderungen, denen LBGTQIA-Flüchtlinge zusätzlich zu ihrer grundsätzlichen Notsituation in den Ankunftsländern begegnen, wie Mobbing oder Gewalt in den Unterkünften aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechtsausdrucks oder ihrer Geschlechtsidentität.

Weltweit stehen 2019 in 31 Ländern Gefängnisstrafen auf Homosexualität (unter anderem in Syrien, Äthiopien, Libyen, Tunesien), in sechs wird die Todesstrafe angewandt (darunter auch der Iran, Afghanistan und der Sudan). Unterkünfte für geflüchtete sexuelle und geschlechtliche Minderheiten gibt es in EU-Mitgliedsstaaten nur wenige. In Luxemburg erteilte Premierminister Xavier Bettel einem entsprechenden Antrag 2016 eine Abfuhr. Die Ilga fordert derweil die Überarbeitung des „Common European Asylum System“ zur Verbesserung der Situation der LGBTIQA-Flüchtlinge. Der Blick auf die luxemburgischen EU-Wahlprogramme fällt diesbezüglich ernüchternd aus. Nur Déi Lénk beziehen Stellung zur Lage von LGBTIQA-Flüchtlingen und setzen sich für positive Maßnahmen ein.

Trotz der ernstzunehmenden internationalen und nationalen Bewegungen gegen die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten, scheint, bis auf Déi Gréng, außerdem keine der Regierungsparteien die allgemeine Verteidigung der LGBTIQA-Rechte als Priorität anzusehen. Zwar sendet die Gesellschaftspolitik der Regierungsparteien ein deutliches Signal im Sinne der sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten, doch erscheint es inkonsequent, die nationalen Bestrebungen nicht auch auf EU-Ebene auszuweiten.

Allgemeiner Rückwärtstrend

Der Ilga-Jahresbericht 2019 dokumentiert einen allgemeinen Stillstand bis Rückwärtstrend, was die Rechtslage sexueller und geschlechtlicher Minderheiten in der EU angeht. Zusammengenommen sind in den EU-Mitgliedsstaaten 48 Prozent der spezifischen Rechte umgesetzt worden, die zur Gleichbehandlung und zum Schutz sexueller und geschlechtlicher Minderheiten beitragen. In nur fünf Ländern hat sich die Rechtslage im Vergleich zum Vorjahr verbessert – unter anderem in Luxemburg, was auch an der Vereinfachung der Vornamens- und Personenstandsänderung liegt.

Gleichzeitig wächst neben politischen Anti-Gender-Bewegungen auch der gesellschaftliche Unmut gegenüber der LGBTIQA-Gemeinschaft. Hassreden, die auf die Diskriminierung der sexuellen Orientierung abzielten, zählten 2018 in Europa zu den am drittmeisten gemeldeten „Hatespeech“-Fällen im Netz. Im realen Leben gehen die Anfeindungen mit Gewalt, Aggressionen und öffentlicher Hetze einher. Beispiele gibt es viele, zwei davon ereigneten sich quasi gleich „nebenan“.

Putains de lesbiennes“, griff eine Gruppe Jugendlicher letztes Jahr zwei Frauen in einem Pariser Zug zunächst verbal an. „Vous baisez?“ Die Frauen wurden daraufhin herumgeschubst, an Haaren und Kleidung gezogen, am Hinterkopf geschlagen. Nur wenige Monate später wurde im Pariser Viertel Marais ein in Regenbogenfarben gestrichener Fußgänger*innenübergang, der symbolisch für die in Paris ausgetragenen „Gay Games“ stand, mehrfach mit LGBT-phoben Sprüchen übermalt („LGBT hors de France“, „dictature LGBT“). Die Aggressionen gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten in Frankreich stieg 2018 im Vergleich zum Vorjahr mindestens um 66 Prozent. Mindestens, weil die Daten sich allein auf die bei SOShomophobie gemeldeten Fälle beziehen. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher.

Die Ilga warnt in ihrem Jahresbericht aufgrund all dieser Bewegungen und Missstände vor einem Backlash in der EU. Die politischen und gesellschaftlichen Anti-Gender-Bewegungen drohen die öffentliche Diskussion und die politischen Fortschritte hin zu transfreundlichen Gesetzen, der Gleichbehandlung diverser Familienbilder, inklusiver (Sexual-)Bildung sowie hin zur Thematisierung der Probleme der LGBTIQA-Gemeinschaft, massiv zu behindern – und zu verlangsamen. So etwa in der Schweiz, in der ein Referendum die Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes (es soll um die Geschlechtsidentität ergänzt werden) kippen könnte. Allen Etappensiegen zum Trotz weht zunehmend ein rauer Wind, dem die EU mit strengeren Sanktionen sowie konkreten und verbindlichen Gesetzgebungen entgegenwirken muss.


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